„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 31. Dezember 2022

17:22

Hörgeräte bzw. mein Verzicht darauf werden für mich inzwischen zu einer Chriffre für meine Abwendung von den Gruppenmenschen, die sich nur in der Gruppe fühlen können. Es ist 17:22 und schon beginnen die ersten Sylvesterknallereien. Mal näher, mal ferner platzen Böller. So geht das jetzt bis Mitternacht und darüber hinaus.

Ich lese zum entspannenden Ausklang des Tages im ersten Band vom Herrn der Ringe, und ich schrecke immer wieder hoch, weil es knallt. Weil es den Menschen seit dem 24. Februar noch nicht genug geknallt hat in Europa. Weil sie unbedingt auch noch selbst ein wenig Krieg spielen wollen.

Ich höre schlecht, stopfe mir aber trotzdem noch zusätzlich Watte in die Ohren. Und ich fühle mich darin bestätigt, daß ich keine Hörgeräte brauche. Das, was ich zu hören bekomme, lohnt den technischen Aufwand nicht.

Freitag, 30. Dezember 2022

Viel Medienrummel um einen Emeritus

Was ist mit den Berggorillas?

In Uganda, im Regenwald, dort wo noch ein paar letzte Berggorillas leben, will eine britische Ölfirma eine Pipeline bauen. Wo die Berggorillas leben, gibt es Öl. Habe ich gerade gehört bei Lanz & Precht. Lanz fragt selbstkritisch zum Jahresende, ob die Medien eigentlich noch ihren Job machen?

Mir fällt dazu ein, was für ein Hype gerade um Ex-Papst Benedikt läuft. Ein alter Mann stirbt. Seine Zeit ist abgelaufen. Im DLF höre ich, die ganze Welt bete für ihn. Wow! Was für eine Maximalaussage. Gibt es tatsächlich niemanden, der nicht für ihn betet?

Das ist so die Ranglistenskala, was den Informationswert von Nachrichten betrifft.

Vernichtung von ein paar Berggorillas für Öl? Kein Problem. Ihre Zeit ist abgelaufen, und keiner merkt es.

Ihre Zeit ist abgelaufen, weil es keiner merkt. Fehlende Medienpräsenz, fehlendes Interesse.

PS (31.12.2023): Jetzt ist er tot und folglich selig, glaube ich. Um den, wie er es nannte, ‚Schmutz‘ in seiner sauberen Kirche muß er sich jetzt nicht mehr kümmern.

Donnerstag, 22. Dezember 2022

Die Philosophie von „King Arthur“

Ich habe mir „King Arthur“ mit Clive Owen und Keira Knightley angesehen. Es gibt da zwei Repräsentanten des Christentums: Arthur und den Bischof. Der eine steht für das gute Christentum, von dem er träumt, der andere für das böse Christentum, das die Kirche verwirklicht. Immer ist es die Kirche, die Jesu Botschaft verdirbt.

Kann es überhaupt etwas Gutes in einem Christentum geben, das die Kirche in Gestalt des Papstes ganz für sich beansprucht? Kann es sein, daß das böse Christentum in Gestalt der Kirche historisch gesehen ein Fortschritt in der Menschheitsgeschichte gewesen ist, auch wenn diese Kirche bis heute einen korrupten Machtwillen verkörpert? Kann es, historisch gesehen, sein, daß das Christentum etwas relativ Gutes gewesen ist, ein bißchen Arthur, ein bißchen Bischof, und ihnen gegenüber der Sachsenhäuptling als Vertreter des absolut Bösen?

Ist ein relativ Gutes nicht besser als ein absolut Böses?

Aber wenn das Christentum ‚relativ‘ gut ist, dann ist es von der Logik her auch relativ ‚böse‘. Und wenn das Christentum relativ böse ist, dann ist sogar der Sachsenhäuptling relativ gut.

Aber auch wenn der Sachsenhäuptling mehr als relativ böse wäre, wenn er absolut böse wäre, bliebe das Christentum immer noch ein relativ Böses, das nur in dieser Relation als ‚gut‘ wahrgenommen werden kann. Denn das absolut Gute gibt es nicht.

Das ist die Lektion, die Arthur zu lernen hat, bevor er König wird.

Freitag, 16. Dezember 2022

Verstand und Bauchgefühle

Im DLF hörte ich eine Sendung zu einer wissenschaftlichen Studie, in der es um die Persönlichkeitsmerkmale von Menschen geht, die für Fake News empfänglich sind. Dazu gehören Narzißmus und der Wunsch, die eigene Meinung bestätigt zu sehen. Auch der Hinweis auf das Vorliegen einer Psychopathologie fehlte nicht. Vor Bauchgefühlen wurde gewarnt.

Es bringe nichts, hieß es, diese Menschen immer wieder mit den Fakten zu konfrontieren. Man müsse vielmehr versuchen, sie auf einer Metaebene anzusprechen. Es gehe darum, sie auf die Methoden aufmerksam zu machen, wie ihr Urteilsvermögen manipuliert werde.

Das erinnert mich daran, wie mein Vater mir mal nach der Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme ganz begeistert davon erzählte, wie dort gezeigt wurde, wie Menschen manipuliert werden. Er glaubte wohl auch, jetzt über einen Instrumentenkasten zu verfügen, der ihn gegen solche Manipulationen schützte. Aber nichts hatte sich geändert. Seine Bereitschaft, alles, was gedruckt zu lesen war und im Fernsehen verlautbart wurde, zu glauben, blieb ungebrochen. Er machte sich weiterhin unmittelbar alles zu eigen, was ihm vermeintliche Autoritäten suggerierten. Das war wohl auch der Grund, warum die Weiterbildungsmaßnahme ihn so beeindruckt hatte.

Wir sollten uns vor allem über eines klar sein: wir alle, nicht nur diejenigen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, neigen dazu, das für wahr zu halten, was uns in unserer Meinung bestätigt. Wissenschaftler kennen das aus ihrer eigenen Forschung, denn auch sie müssen sich immer wieder disziplinieren, um nicht auf ihre Erwartungen hereinzufallen. Sie nennen das ‚kognitiver Bias‘.

Das einzige was uns in unserem Alltag helfen kann, ist, trotzdem der eigenen Urteilskraft zu vertrauen. Wir sollten uns von niemand davon abhalten lassen, ihr das letzte Wort zu überlassen. Das ist nicht bloß eine Frage des mangelnden Wissens. Es ist vor allem eine Frage, des eigenen Wissens. Mit dem Expertenwissen kann ich nicht mithalten. Muß ich ihnen deshalb auch glauben? Dieser oder jene ist besonders eloquent, und ich bin ihr nicht gewachsen. Bin ich deshalb im Unrecht?

Oft genug bedeutet das Festhalten an der eigenen Urteilskraft, auch mal ein Urteil in der Schwebe zu lassen, anstatt sich einem vorschnellen Konsens zu unterwerfen. Es macht nichts, dabei dem Bauchgefühl zu folgen. Sicher kann es sich irren. Das passiert oft genug. Aber nicht selten bereuen wir es, wenn wir seine warnende Stimme mißachten. An der eigenen Urteilskraft festzuhalten, bedeutet, die eigenen Grenzen zu kennen; nicht alles wissen zu können; sich auch mal irritieren zu lassen und das auszuhalten.

Was die Bauchgefühle betrifft, ist es hilfreich, auf ihre Qualität zu achten. Die positiven Gefühle sind laut, berauschend, und oft die, die man uns suggeriert hat. Die Bauchgefühle, die aus uns selbst heraufsteigen, sind eher leise, kaum wahrnehmbar und meist negativ. Das sind die warnenden Stimmen. Und die treffen meistens zu.

Wir brauchen beides: einen hellwachen Verstand und das dunkle Bauchgefühl. Wir müssen uns darin üben, an dem einen festzuhalten und auf das andere zu hören. Dazu gehört eine große Portion Achtsamkeit. Das ist kein Problem von Persönlichkeitsmerkmalen. Nur eins der Übung.

Donnerstag, 15. Dezember 2022

Das ,Umfeld‘

Jetzt meldet sich auch Friedrich Merz, CDU-Vorsitzender, zu Wort und fordert ein Vereinsverbot im Umfeld der Letzten Generation. Der Verdacht wird jetzt also auch noch auf ein ominöses Umfeld ausgeweitet. Gleichzeitig nennt Christian Lindner, FDP-Vorsitzender und angeblich Teil der Ampel-Koalition, die Letzte Generation „brandgefährlich“. Jetzt gebietet es eigentlich schon der normale bürgerliche Anstand, bitte in Mithaftung genommen zu werden. Warum nur irgendwelche Vereine verbieten? Ich bin nie kompatibel gewesen mit so was. Aber trotzdem möchte ich gerne auch zum ,Umfeld‘ gerechnet werden und erhebe Anspruch darauf, ebenfalls verboten zu werden.

Das scheint jetzt zum Jahresausklang ein thematischer Renner zu werden. Überall wird die Demokratie als gefährdet deklariert. Was letztlich auch eine Form der Verharmlosung der Reichsbürger darstellt. Die verwendeten Schlagwörter verlieren dabei ihre Bedeutung und der Verharmlosungsverdacht wird universell. Die AfD verharmlost die Reichsbürger und das sogenannte Umfeld verharmlost die Letzte Generation. Alles dieselbe Soße. Und der Klimawandel sei ja auch nur eines von vielen Problemen, so Lindner. Man weiß, welche anderen Probleme ihm auf den Nägeln brennen: neue Autobahnen ohne Tempolimit und weiter so mit dem Wirtschaftswachstum. Und wenns drauf ankommt, sind diese Probleme natürlich auch dringender.

PS: Gerade lese ich, wie derselbe Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU, der gerade noch ein Vereinsverbot im Umfeld der Letzten Genaration gefordert hatte, sich gegen ein solches Verbot der AfD wendet. Solche Vereinsverbote, so Merz, bringen nichts. Versucht man nach einem kurzen Moment der Verblüffung, darin einen Sinn zu erkennen, läuft das darauf hinaus, daß das ,Umfeld‘ der Letzten Generation schlimmer ist als die AfD.

All der Stuß, den dieser Politiker von sich gibt, macht ihn wohl zum geeigneten Vorsitzenden seiner Partei.

Dienstag, 13. Dezember 2022

Das Risiko der Aktivisten

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Aktivisten der Letzten Generation. Es bestehe der Verdacht einer kriminellen Vereinigung. In verschiedenen Bundesländern wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt.

Das sind so die Nachrichten, die ich gerade höre. Ich frage mich, ob sich die Staatsanwaltschaft qua Amt dazu verpflichtet fühlt, sozusagen zur Überreaktion verleitet durch die Reichsbürger, oder ob ihre Maßnahmen einfach nur politisch opportun sind. Habe ich doch gehört, wie Politiker, der NRW-Landesinnenminister wie auch der Bundesjustizminister, ihren Zweifel an der politischen Integrität der Aktivisten und an der Reichweite des Strafgesetzbuchs zum Ausdruck brachten.

Hinzukommt, als ginge es darum, die Aktivisten zu bestätigen, daß der Bundesverkehrsminister sich nicht darauf beschränken will, marode Straßen und Brücken wieder in Stand zu setzen, sondern unbedingt auch noch neue Autobahnen bauen will. Die Aktionen der Letzten Generation werden da wohl als besonders störend wahrgenommen.

Ich denke, was den organisatorischen Charakter dieser Aktionen betrifft, ganz naiv, daß sie natürlich koordiniert sind. Ich denke auch, daß das sogar wünschenswert ist. Wie sonst sollten die Aktivisten gewährleisten, daß dabei niemand zu schaden kommt? Und daß ihre Aktionen den Leuten auf die Nerven gehen und sogar bewußt gegen die StVO verstoßen, ist untrennbarer Bestandteil dieser Aktionen.

Ich bin auch überzeugt davon, daß eine entsprechende Güterabwägung die Legintimität solcher Aktionen bestätigen würde. Für alles, womit staatliche Maßnahmen über eine solche Güterabwägung hinaus gehen, z.B. die staatsanwaltlichen Ermittlungen, müssen sich Justiz und Politik, die eine vor Gericht, die andere vor einer kritischen Öffentlichkeit, rechtfertigen. – Hoffe ich jedenfalls.

Sich dem Risiko einer Kriminalisierung auszusetzen, gehört zu den Aktionen der Letzten Generation.

Für dieses Wagnis und für ihre Ziele haben sie meinen Respekt.

Sonntag, 11. Dezember 2022

Salman Rushdi: Freiheitsdiskurs

Ich habe mir im DLF (Essay und Diskurs) „Freiheitsdiskurs“ von Salman Rushdi angehört. Dort spricht er von der scheinbar aufgeklärten Haltung, schonend mit den Gefühlen von Gläubigen umzugehen; sie also nicht dadurch zu kränken, daß man ihren Glauben in Zweifel zieht. Tatsächlich, so Rushdi, kommt darin eine verinnerlichte Religiösität der scheinbar toleranten Aufklärer zum Ausdruck, die die Selbsttäuschungen (Laien) und Lügen (Kleriker), die mit solcherart ,geschonten‘ Glaubens einhergehen, zugunsten eines Rechts auf Religionsfreiheit aufwertet. Wer Religiösität gegen den Willen zur Wahrheit verteidigt, agiert selbst als Teil der Gemeinschaft der Gläubigen.

Dazu fällt mir der ‚Blasphemie‘-Paragraph (StGB) ein. Ich hatte da früher schon mal reingeschaut, und die Formulierung fand ich damals eigentlich soweit in Ordnung. Es geht dabei eigentlich nur darum, daß man sich Religionsgemeinschaften gegenüber höflich verhält und sie nicht in ihren Gefühlen kränken oder provozieren sollte. So sollte man sich eigentlich allen Menschen gegenüber verhalten, dachte ich, und ist deshalb eher eine Selbstverständlichkeit.

Deshalb ist es aber auch seltsam, daß man dafür eigens einen Blasphemieparagraphen braucht. Wozu eine Selbstverständlichkeit, die für alle Menschen gegenüber allen Menschen gilt, nochmal für eine besondere Gruppe von Menschen eigens hervorheben und ihre Verletzung dann auch noch als Blasphemie unter Strafe stellen?

Werden da diesen Menschen nicht Sonderrechte eingeräumt? In dem Sinne, daß sie es nun sind, die festlegen können, wann genau sie sich beleidigt und gekränkt fühlen dürfen und somit das Eintreten des als Blasphemie bezeichneten Straftatbestands selbst feststellen können?

Auch hier gilt, was Rushdi als Verinnerlichung von Religiösität auf seiten jener beschreibt, die sich selbst als nicht gläubig verorten: sie ordnen aus ,Toleranz‘, ,Höflichkeit‘ oder ,Respekt‘ ihre Meinungsfreiheit der vermeintlichen Religionsfreiheit freiwillig unter; einer Freiheit, die nicht als Freiheit von, sondern als Freiheit der Religion mißverstanden wird, ,Ungläubige‘ zu missionieren; einer Freiheit, die die Freiheit aller für sich vereinnahmt.

In den USA, so Rushdi, versteht man Religionsfreiheit genau so. Bei ihnen ist die Freiheit nicht ohne Religion denkbar. Das ist der Grund, warum viele junge Leute dort inzwischen meinen, daß auch ihre persönliche Meinung eine Art privates Refugium bildet, das vor der Meinung anderer geschützt werden muß. Sie leiten daraus ein Recht auf Komfortabilität ab. Also: Meinungsfreiheit = Glaubensfreiheit = Religionsfreiheit.

Das ist die logische Konsequenz der Religionsfreiheit: selbst Meinungen dürfen nicht mehr in Frage gestellt werden. Jeder Diskurs erfüllt den Tatbestand der Blasphemie.

Montag, 5. Dezember 2022

Kriminalisierungsstrategie?

Was sind die Prioritäten?, habe ich mich vor 9 Tagen gefragt. Für die Leute von der Letzten Generation sind sie klar: möglichst schnell etwas gegen den Klimawandel tun. Für den NRW-Innenminister Herbert Reul sind sie ebenfalls klar: diese Leute möglichst schnell wieder von der Straße runter kriegen.

Im selben Interview im DLF sagt er, daß sie die Grenzen nicht mehr kennen. Und meint damit den Vorrang des Straßenverkehrs vor eigentlich allem.

Außerdem mutmaßt er, hinter den einzelnen Aktionen der Letzten Generation stecke eine geheime Organisation, und legt damit nahe, es handle sich um eine kriminelle Verschwörung.

Dem Verfassungsrichter Michael Hassemer, der die Aktionen der Letzten Generation für gerechtfertigt hält, wirft er leichtfertiges Geschwätz vor.

Vielleicht steckt ja wirklich eine politische Strategie dahinter: uns durch Kriminalisierung derjenigen, die uns an die simpelsten Notwendigkeiten zu erinnern versuchen, davon abzulenken.

Donnerstag, 1. Dezember 2022

Paralipomena zu Plessner

Helmuth Plessner, Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, München 2001

Ich habe ein paar ältere Notizen rausgekramt, die ich mir mal zur Lektüre von Plessners Buch („Politik – Anthropologie – Philosophie“ (2001)) gemacht habe. Bei dem Buch handelt es sich um eine Aufsatzsammlung. Ich habe nicht alle Aufsätze gelesen. Und von den Aufsätzen, die ich gelesen habe, habe ich nicht mit allen etwas anfangen können. So z.B. mit „Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter“ (1932) und mit „Zum Verständnis der ästhetischen Theorie Adornos“ (1976). Beim Aufsatz zum „technischen Zeitalter“ hatte ich noch nicht mal den Hauch einer Ahnung davon, worin meine Schwierigkeiten mit dem Text liegen könnten.

„Sinnlichkeit und Verstand“ (1936), S.119-143 – Thematisch entspricht dieser mit seinem Titel an einen Roman von Jane Austen erinnernde Aufsatz dem Buch „Die Einheit der Sinne“ (1923). Die kritische Stoßrichtung des Aufsatzes wendet sich gegen den von den Naturwissenschaften behaupteten Primat der sogenannten primären Sinnesqualitäten vor den sekundären Sinnesqualitäten, die sich, anders als die primären, nicht mathematisch-quantitativ erfassen lassen: „Zu Unrecht hält man es hier mit Locke, schreibt die sinnlichen (sekundären) Qualitäten auf Konto des Subjekts und die zahlenmäßig ausdrückbaren (primären) Qualitäten auf Konto des Objekts und macht sich keine Gedanken darüber, wie und wo Molekularstrukturen und Schwingungen zu Farben und Klängen werden.“ (Plessner 2001, S.120)

Primäre Sinnesqualitäten sind Größe, Zahl, Bewegung und Gestalt und werden vor allem von dem Gesichts- und dem Tastsinn vermittelt. Sie sind beständig und werden mit zur Außenwelt gehörenden Körpern assoziiert. Sekundäre Qualitäten wie Farben, Gerüche und Töne sind sekundäre Sinnesqualitäten. Sie sind unbeständig und werden mit einer inneren Empfindungswelt assoziiert.

Plessner formuliert zu dieser Aufteilung unserer Sinne die Antithese, daß alle menschlichen Sinne gleichermaßen gerade in ihrer Verschiedenheit auf ein „System der Beweglichkeit“ bezogen sind (vgl. Plessner 2001, S.122) und darin nur als Verbund ‚gleichwertig‘ zur Geltung kommen. Das mathematische Prinzip der Exaktheit ordnet hingegen die Mannigfaltigkeit der Sinnesempfindungen einem durch das Auge und den Tastsinn konstituierten quantitativen Raum-Zeit-Gefüge unter:
„Berechnung und Zielstrebigkeit beanspruchen in der Tat den ganzen Menschen und dominieren, heute mehr denn je, über die anderen Formen des Lebens. Auch darf man sich ihr ‚Abgestimmtsein auf Auge und Hand‘ nicht so äußerlich und apparatehaft vorstellen, als seien die anderen Sinne, die anderen Typen der menschlichen Motorik und des Verstehens davon unberührt gelassen. Das Prinzip der rationalen Praxis ist universal und intolerant. Es stellt alle Sinne als Wahrnehmungsquellen, alle Formen des Verstehens als Zugangswege zur Wirklichkeit, alle Arten der Motorik als Ansatzpunkte, Hilfsmittel und Gebiete der Naturbeherrschung in seinen Dienst. In dieser Ausschließlichkeit wurzelt gerade jene nivellierende Behandlung der sinnlichen Modi, ihre Vereinheitlichung unter dem Titel ‚Sinnesempfindungen und Wahrnehmungsquellen‘, das Vorurteil ihrer Gleichwertigkeit für den Maßstab des exakten Denkens und die Uniformierung des Verstandes.“ (Plessner 2001, S.137)
Das naturwissenschaftliche „Vorurteil der Gleichwertigkeit“ der Sinnesempfindungen nivelliert also deren Mannigfaltigkeit. Plessner setzt dagegen eine Gleichwertigkeit, die der Verschiedenheit der Sinnesempfindungen Rechnung trägt: „In dieser Hinsicht sind die Sinne in ihrer Verschiedenheit einander gleichberechtigt. Ihre Gleichwertigkeit darf nur nicht als formale Gleichheit oder gegenseitige Vertretbarkeit gedeutet werden.“ (Plessner 2001, S.141)

Was die mangelnde ‚Vertretbarkeit‘ der Sinne untereinander betrifft, fällt auf, daß Plessner nicht auf die Synästhesie eingeht, in der sich ja durchaus olfaktorische, optische und akustische Wahrnehmungen gegenseitig ‚vertreten‘ können.

Plessner führt den Verstand anders als Kant nicht auf die formale Konstitution raumzeitlicher Strukturen zurück, sondern auf die Kommunikation sinnlich verkörperter Subjekte. (Vgl. Plessner 2001, S.138) Damit gleicht seine Position der von Carola Meier-Seethaler in ihrem Buch „Gefühl und Urteilskraft“ (1983/97). Plessner schreibt: „Die Entschränkung des Blicks von den Vorurteilen der Exaktheit und weiterhin des Europäismus überhaupt rehabilitierte das Archaische, Exotische und scheinbar Primitive, die Welten des Gefühls, des Mythos und Glaubens und erhöhte ihre Bedeutsamkeit in den Augen einer Philosophie, der nichts Menschliches fremd sein soll.“ (Plessner 2001, S.138)

Der von den Naturwissenschaften einseitig bevorzugten „Wahrnehmungsfunktion“ der Sinne stellte Plessner die „Vermittlungsfunktion“ der Sinne gegenüber: „Wahrnehmungsfunktion und Vermittlungsfunktion müssen bei den Sinnen auseinandergehalten werden.“ (Plessner 2001, S.140) – Denn „in einer Welt getrennter Körper“ bedarf es der ganzen Mannigfaltigkeit der Sinne, damit die „durch ihre Leiber voneinander isoliert(en)“ Subjekte „Verbindung“ zueinander aufnehmen können. (Vgl. Plessner 2001, S.140)

Neben der Kinästhetik, der sensomotorisch begründeten Einheit, ist es vor allem diese Vermittlungsfunktion, die die Einheit der Sinne möglich macht.

„Tier und Mensch“ (1938), S.144-167 – Diesen Aufsatz hat Plessner zusammen mit Frederik Jacobus Johannes Buytendijk geschrieben. Beide legen darauf wert, daß es einen Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier gibt. Diesen Wesensunterschied machen sie am menschlichen Geist fest.

Ich kann mit solchen Wesensunterschieden nicht viel anfangen. Und auch Plessner selbst reflektiert den Begriff des Wesens in seinem Aufsatz zur „Philosophischen Anthropologie“ kritisch. Natürlich gibt es eine Tier-Menschdifferenz. Aber warum muß man sie gleich metaphysisch überhöhen? Diese Metaphysik führt zu jenen „Maximalbedingungen“ des Menschseins, die Plessner selbst im gerade erwähnten Aufsatz ablehnt.

Das ist um so problematischer, als Plessner und Buytendijk sogar so weit gehen, die Tier-Menschdifferenz auch auf eine Differenz zwischen niederen und „höheren Menschrassen“ zu übertragen. (Vgl. Plessner 2001, S.163) Und das geht natürlich gar nicht. Mit Blick auf den Aufsatz zur philosophischen Anthropologie ist es allerdings auch denkbar, und das wäre eine Art Entschuldigung, daß die beiden Autoren beim Begriff ‚Rasse‘ naiv an die verschiedenen evolutionären Formen von Hominiden wie dem Homo erectus, dem Homo heidelbergensis und dem Homo mit dem doppelten ‚sapiens‘ denken. Aber auch hier ist es hochproblematisch, von Wesensunterschieden zu sprechen.

Interessant finde ich allerdings die Unterscheidung zwischen „Intelligenz“ und „Geist“. Auch hier wird wieder von einer „Wesensverschiedenheit“ gesprochen. Aber dabei geht es nicht um Metaphysik, sondern nur um eine begriffliche Differenzierung:
„Intelligenz und Geist sind wesensverschieden. Intelligenz ist eine biologische Kategorie, eine Art des Verhaltens, das für Korrekturen durch Erfahrung offen ist. Geist dagegen ist eine transbiologische Größe und ist unter allen Lebewesen dem Menschen vorbehalten. Intelligenz ist umweltbezogen, ihr Wirkungsfeld ist eine bestimmte Umwelt, in deren innere Bezüge und Konstellationen sie Einblick, Einsicht gewährt. Diese Einsicht ins Feld hat keinen logischen, rationalen, abstrakten Charakter, wie ihn die menschliche Einsicht nach Maßgabe ihrer Geistigkeit besitzt. Geist ist weltbezogen und tritt da ins Spiel, wo zwischen Subjekt und Objekt echte Distanz herrscht und ihm die Möglichkeit sachlicher Forderungen aufleuchtet, die über die jeweilige Konstellation der Umwelt hinaus eine objektive Wirklichkeit gewährleisten.“ (Plessner 2001, S.161f.)
Das Wort „Geist“ gehört nicht unbedingt zu meinem Wortschatz. Ich spreche lieber von Selbstbewußtsein. Und da wäre ich dann nicht so sicher, ob Menschenaffen, Elephanten, Delphine, einige Vogelarten wirklich nicht über einen ‚Geist‘ bzw. ein Selbstbewußtsein verfügen. Von einem Wesensunterschied würde ich da nicht sprechen wollen. Aber was die Begriffe „Intelligenz“ und „Selbstbewußtsein“ betrifft, kann man das durchaus. Man muß bei solchen „Wesens‘-Bestimmungen allerdings immer wachsam bleiben, ob man hier bloß zwischen Begriffen unterscheidet oder ob man sie nicht vielleicht mit Realkategorien verwechselt, die die Wirklichkeit selbst zu bestimmen versuchen.

Bei der Unterscheidung zwischen Intelligenz und Selbstbewußtsein denke ich persönlich übrigens eher an die Differenz zwischen Maschine und Mensch als an die zwischen Tier und Mensch.

„Philosophische Anthropologie“ (1957), S.184-189 – Plessner skizziert das Problem einer philosophischen Anthropologie, die sich notwendiger Weise mit dem Wesen des Menschen befaßt, dieses aber nicht auf ein bestimmtes Wesensideal festlegen darf, sondern den Horizont für eine Vielzahl möglicher Erfahrungen in der Gegenwart und in der Vergangenheit offenhalten will. Das gilt vor allem für die „Grenzen, in denen der Bereich der vormenschlichen Entwicklung in den der Frühkultur übergeht und der Paläontologe mit dem Prähistoriker zusammenarbeiten muß“. (Vgl. Plessner 2001, S.187) – Hier gilt es vor allem, die Interpretation frühmenschlicher Artefakte für die „Fragwürdigkeit eines Denkens in Begriffen und Werten unserer Gegenwart für ein Verstehen fremder abgelebter Zeiten“ zu sensibilisieren. (Vgl. Plessner 2001, S.188)

Das Problem mit dem Wesensbegriff führt Plessner auf die „im Begriff des Wesens liegende Zweideutigkeit“ zurück, mal die Minimalbedingungen, mal die Maximalbedingungen des Menschen auf den Begriff bringen zu wollen. (Vgl. Plessner 2001, S.187) Nur die Maximalbedingungen, die sogenannten Monopole, die nur für den Menschen gelten sollen, beinhalten die Gefahr, das Wesen des Menschen ein für allemal festzulegen und dabei doch nur der eurozentrischen Perspektive – spezifischer: die Perspektive des alten weißen Mannes europäischer Herkunft – verhaftet zu bleiben. Die Minimalbedingungen hingegen umfassen lediglich die „Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins, ohne auf einen Sinn von Sein oder ein bestimmtes Menschlichkeitsideal notwendig zu verweisen“. (Vgl. Plessner 2001, S.187)

Als eine Minimalbedingung unserer Menschlichkeit könnte man dann die Sprache bezeichnen, was nicht ausschließt, daß auch Tiere über eine Sprache verfügen, die es ihnen ermöglicht, untereinander und sogar mit uns Menschen zu kommunizieren. Bei Tieren wäre dann aber die Sprache kein konstitutives Merkmal ihrer Spezies, wie sie das beim Menschen ist. Maximalbedingungen unserer Menschlichkeit würden hingegen auf die Bestimmung eines vollständigen Komplexes von Merkmalen hinauslaufen, die allein uns Menschen eignen und eine unüberschreitbare Grenze zwischen Mensch und Tier ziehen.

Anders als in dem Aufsatz „Tier und Mensch“ behauptet wird, lassen es Minimalbedingungen also durchaus zu, daß wir sie mit einigen Tierarten teilen.

Plessner zufolge kommt es auf die „Wahl des Blickpunktes und der begrifflichen Mittel“ an, „ob es der Anthropologie gelingt, die Rahmenbestimmung der Menschhaftigkeit so zu exponieren, daß sie den Anforderungen ihrer möglichen Erfahrungen entspricht“. (Vgl. Plessner 2001, S.187)

Ich interpretiere Plessner an dieser Stelle so, daß die „Wahl des Blickpunktes“ auf die Plessnersche Bestimmung des Menschen als einer exzentrischen Positionalität hinausläuft. Gemeint ist eine Positionierung des Menschen und also auch des Anthropologen, dessen Forschungsgegenstand der Mensch ist, gleichermaßen am Rande wie im Zentrum der Welt. Ein solcher Standpunkt bzw. Blickpunkt im Nirgendwo ermöglicht eine umfassende Neutralität gegenüber den vielfältigen Formen des Menschseins.

Gleichwohl beinhaltet schon der Begriff selbst, eben als exzentrische Positionalität, einen ‚Standpunkt‘; aber einen Standpunkt, der die eigene Relativität mitzureflektieren vermag. Erst so haben wir es mit einem ‚Standpunkt‘ im ‚Nirgendwo‘ zu tun, der die eigene Perspektive nicht, vergeblich, zu verdrängen versucht. Eine ethische Orientierung im Rahmen einer philosophischen Anthropologie ist also möglich.

„Die Gesellschaft und das Selbstverständnis des Menschen – Philosophische Ansätze“ (1979), S.210-215 – In diesem Aufsatz finde ich folgende Stelle: „Sie (die Sprache – DZ) ist ein menschliches Produkt, und doch wissen wir, wie schwer es zu beherrschen ist. Sie hat ihre Gesetze, die sie unserem Sprechen aufzwingt, aber selbst ihre Erfüllung garantiert uns nicht, daß wir etwas anderes sagen, als wir sagen wollten. Die Sprache, die für uns dichtet und denkt, denkt und dichtet auch gegen uns in jedem Fall weiter.“ (Plessner 2001, S.213 )

Trotz der problematischen Satzkonstruktion mit dem fehlenden ,nicht‘ ist klar, was Plessner an dieser Stelle sagen will: es ist keineswegs so, daß die Erfüllung der Regeln garantiert, daß wir nicht etwas anderes sagen, als wir sagen wollen. Das entspricht dem, was Plessner in den „Stufen des Organischen“ (1928) über die Expressivität und die Differenz zwischen Sagen und Meinen schreibt. Hier aber weitet er es auf alles menschliche Tun aus, insbesondere auch auf die Technik als Herstellung von Produkten: „Menschlichem Tun ist es eigentümlich, Produkte hervorzubringen, die seiner Verfügungsgewalt entgleiten und sich gegen sie wenden.“ (Plessner 2001, S.213)

Das gilt auch für das gesellschaftliche bzw. politische Handeln des Menschen, das nämlich mit Hilfe der Schaffung von Institutionen, die die sozialen Rechte des Individuums gewährleisten sollen, dieses so sehr für diese Institutionen in Anspruch nimmt, daß es seine Individualität zu verlieren droht und stattdessen zum Funktionsträger wird. Kurz: das Individuum wird gerade dort völlig vergesellschaftet, wo es, wie zum Beispiel in der Erziehung und ihren Einrichtungen, eigentlich bzw. angeblich um dieses Individuum selbst geht.

Es liegt also gewissermaßen in der anthropologischen Struktur, derzufolge Menschen keine Verfügungsgewalt über die Folgen ihres Handelns haben, daß sich der Mensch durch sein eigenes Handeln abschafft. Allerdings läßt Plessner hier unberücksichtigt, daß wir als diese Menschen uns immer auf der Grenze zwischen Meinen und Sagen, zwischen Absicht und Handeln bewegen. Das ist darin begründet, was Plessner als exzentrische Positionalität bezeichnet. Diese Exzentrizität muß also auch auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bezogen werden. Tut man das, bildet die Gesellschaft nicht mehr den totalitären Verhängniszusammenhang, aus dem es kein Entkommen gibt.

Daraus folgt, daß Privatheit und Öffentlichkeit in ein Verhältnis zum individuellen Willen gesetzt werden müssen, wie es Hannah Arendt versucht hatte und die als Lösung für das Dilemma den Begriff der Geburtlichkeit entwickelt hat. Der individuelle Wille ist nicht länger dem Willen Gottes oder dem Willen der Gesellschaft unterworfen. Mit Plessners Worten: erst wenn wir an den Rand der Gesellschaft treten, in deren Mitte wir uns befinden, erlangen wir wieder die Fähigkeit, unsere Bedürfnisse zu klären und zu wägen und dann die Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen.

In seiner Rezension zu Adornos „Negative Dialektik“ (S.265-281) bringt Plessner genau diese Exzentrik zum Ausdruck, indem er von dem „Kopfsprung aus dem Bannkreis der Gesellschaft“ spricht, „den ihm (dem Menschen, dem Individuum – DZ) immerhin die Gesellschaft gewährt“. (Vgl. Plessner 2001, S.268) Eine andere Metapher für diesen Kopfsprung, als Sprung über den eigenen Schatten (vgl. ebenda), bietet der Baron, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht.

„Lebensphilosophie und Phänomenologie“ (1949), S.231-255 – Auf der Folie der Lebensphilosophie von Wilhelm Dilthey arbeitet Plessner die Defizite des transzendental-idealistischen Ansatzes der Phänomenologie von Edmund Husserl heraus. Dilthey, der ursprünglich in Husserls Phänomenologie einen seinem eigenen Konzept verwandten Ansatz vermutete, wandte sich dann von ihr ab, als er erkannte, daß der Mensch als individuelle Person bei Husserl keine Rolle spielt, sondern nur ein weiteres Mal, in der Nachfolge Kants, ein „abstraktes Erkenntnis- und Willenssubjekt“ bildet. (Plessner 2001, S.240)

Dilthey stellte das Leben ins Zentrum seiner Überlegungen zur Historizität bzw. Geschichtlichkeit des Menschen. Jede Festlegung auf ein überzeitliches Wesen des Menschen lehnte Dilthey ab. Seine Definition des Menschen ordnet diesen in einen natürlichen (biologischen) und historischen Entwicklungsprozeß ein, in dem er sich als individuelle Person formt und findet: „Nicht ein abstraktes Erkenntnis- und Willenssubjekt mit starren Vermögen und unveränderlicher Struktur darf mehr in Ansatz gebracht werden, sondern der ganze und in seiner Natur veränderliche Mensch formt das in sich selbst unabgeschlossene Beziehungsgefüge geschichtlicher Erfahrung, aus deren Fülle er seine Möglichkeiten kennenlernt.“ (Plessner 2001, S.240)

In dieser Zusammenfassung der Diltheyschen Lebensphilosophie erkenne ich meine eigene Konzeption von den drei Entwicklungsprozessen wieder, die als Ganzes einen Menschen ergeben. Von Dilthey her kommt Plessner deshalb zu der Aufgabe einer philosophischen Anthropologie (vgl. Plessner 2001, S.241ff.), die mit Husserls transzendentalem Ansatz nicht vereinbar ist, das Thema „Mensch und Welt“ in den Naturwissenschaften und gegenüber den Denkschulen des 19. und 20. Jahrhunderts lebendig zu halten und kritisch weiterzuentwickeln. Eine entsprechende Aufgabenstellung ergibt sich für die philosophische Anthropologie auch gegenüber aktuellen Tendenzen zu einem Transhumanismus.

Husserl selbst in seiner Verhaftung in der naturwissenschaftlichen Rationalität ist schon von seinen eigenen Schülern, zu denen Plessner Scheler, Heidegger und Hartmann zählt, überwunden worden. Ohne sich selbst zu nennen, ist er einer von ihnen.

„Adornos Negative Dialektik. Ihr Thema mit Variationen“ (1972), S.265-281
– Plessner sympathisiert mit Adornos Anliegen und gibt ihm gegen Husserl Recht. (Vgl. Plessner 2001, S.272) An die Stelle der Husserlschen Phänomenologie, die die Phänomene in ihrem Wesen meditativ erfassen zu können glaubt, setzt Adorno, so Plessner und zwar völlig zu Recht, das dem Denken inkommensurable Nicht-Identische (vgl. Plessner 2001, S.274): „Ihr (der Negativen Dialektik – DZ) geht es bei der Destruktion der Hegelschen Identitätsphilosophie um die Einsicht der Unauflösbarkeit des Gedachten in das es gleichfalls einbegreifende Denken, um die Rettung nicht so sehr der Phänomene, als des Besonderen und Anderen aus Besonderheit und Andersheit.“ (Plessner 2001, S.275)

Dazu bedarf es einer besonderen Phänomenologie, die Adorno als „Mikrologie“ bezeichnet, die das Einzelne als Vereinzeltes in den Blick nimmt und die er als eine letzte Form der Metaphysik bezeichnet, weil sie dieses Vereinzelte nicht mehr in ein subsumierendes Allgemeines hinein aufhebt, sondern es umkreisend in Form von begrifflichen Konstellationen, also in obliquer Intention, in den Blick zu nehmen versucht: „Nicht durch Klassifikation nach genus proximum und differentia spezifica (was auf Subsumtion hinausliefe, eine Unmöglichkeit in dieser Kernfrage), sondern im Blick auf die Konstellation, in welcher der Begriff seinen Platz findet.“ (Plessner 2001, S.276)

So wird die Konstellation, zu der die vereinzelten Elemente in ihrer „Einzigkeit und Unwiederholbarkeit“ zusammenfinden, zu einer lesbaren „Schrift“. (Vgl. Plessner 2001, S.280)

Konstellationen und Konfigurationen bilden also Strukturen einer Schrift und ermöglichen eine Hermeneutik, im Sinne einer phänomenalen Strukturanalyse von Texten. Diesem Projekt einer Negativen Dialektik zollt Plessner seine ausdrückliche Anerkennung.

„Zum Verständnis der ästhetischen Theorie Adornos“ (1976), S.286-296
– An dieser Thematik bin ich schon immer gescheitert. Schon früher beim Lesen der Adornoschen Texte als auch jetzt wieder bei Plessners Kommentar. Es ist nicht allein die Begrifflichkeit, die sich mir nicht erschließt. Es ist vor allem die Genußfeindlichkeit, da Adorno niemandem ungebrochenen Genuß, aus übrigens durchaus nachvollziehbaren Gründen, gönnen will. Adornos Genußfeindlichkeit ähnelt der christlichen Willensfeindlichkeit. Wir dürfen nicht (ästhetisch) genießen, und wir dürfen nicht (lustvoll) wollen. Das hat Adorno mit Paulus gemeinsam.

Samstag, 26. November 2022

Was sind die Prioritäten?

Sie können nicht erkennen, was die Aktionen der Letzten Generation zur Vermeidung des Klimawandels beitragen könnten, hört man von Politikern, von denen nicht bekannt ist, daß sie irgendwann einmal damit aufgefallen wären, ein gewisses, wenigstens minimales Engagement in dieser Richtung an den Tag zu legen. Ganz besonders fallen mir Dobrindt und Scheuer auf, die beiden früheren CSU-Verkehrsminister. Daß sie sich angesichts ihrer verheerenden Bilanz als Verkehrsminister dieser Tage trauen, sich zu Wort zu melden, ist erstaunlich. Dazu gehört eine gehörige Portion Schamlosigkeit.

Andere beklagen die fehlende Verhältnismäßigkeit, wenn sich Klimaschützer für ein 9-Euro-Ticket oder für Tempo 100 auf Autobahnen kleben, Kunstwerke mit Lebensmitteln bewerfen und mit Fahrrädern auf Startbahnen fahren. Um so schlimmer für die Politik, denn was Tempo 100 betrifft, muß man feststellen, daß sie bislang völlig versagt hat und wohl nichts, ob legal, illegal oder kriminell, dazu führen könnte, so etwas in Deutschland durchzusetzen. Stattdessen ist es wahrscheinlicher, daß CDU/CSU in den von ihnen regierten Bundesländern, allen voran Bayern, den Rechtsstaat aushöhlen; begleitet von entsprechenden Kampagnen im Bundestag. Immer schon mit tatkräftiger Unterstützung der FDP, die angeblich mit SPD und GRÜNEN in einer Regierung sitzt und einen Justizminister stellt, der prüfen will, ob die Gesetze gegen Aktionen der Letzten Generation noch ausreichen.

Leider haben auch die GRÜNEN vergessen, daß auch sie einmal mit Aktionen zivilen Ungehorsams auf den Straßen unterwegs gewesen waren. Alle möglichen von Aktivisten der Letzten Generation angeblich bedrohte Güter sind ihnen plötzlich wichtiger als die große Transformation im Namen des höchsten Gutes: unseren Nachkommen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen.

Haben wir alle den Verstand verloren? Haben wir die Fähigkeit verloren, abzuwägen und dann Prioritäten zu setzen?

Es sieht so aus.

Sonntag, 20. November 2022

Lanz ein Klimaleugner? – Nein, aber ...

Im letzten Podcast von Lanz & Precht bemitleideten sich Markus Lanz und Richard David Precht gegenseitig, wie ihnen das, was sie sagen, immer gegen sie ausgelegt wird, indem Sätze aus dem Zusammenhang gerissen werden. Bei Markus Lanz war es sein Verhalten gegenüber der Letzte-Generation-Vertreterin Carla Rochel, in seiner Gesprächsrunde vor elf Tagen. Lanz erklärte seine Motive damit, daß ihm die sehr sympathische junge Frau leid getan habe, weil sie so eine negative Einstellung zur Zukunft habe. Er wollte ihr sozusagen eine etwas erfreulichere Weltsicht vermitteln, um ihr Mut zu machen.

Was tat Lanz also? – Er leugnete, daß 2 Grad mehr oder sogar 4 Grad mehr ein Problem seien für die Menschheit. Denn die Menschen würden sich schon anpassen. Das hätten sie schon immer getan. Und die Technik würde tolle Dinge erfinden, die uns das ermöglichen. Zum Beispiel Israel. Das sei eine Wüste. Kein Trinkwasser. Aber in Israel würde mit Hilfe der Technik Trinkwasser aus dem Abwasser gewonnen. Großartig sei das! In diesem Tonfall ging das weiter.

Kurz gesagt: Lanz machte den optimistischen, zugewandten väterlichen Freund, um das traurige kleine Mädchen aufzumuntern. Precht gegenüber gestand er sogar, daß er sie gern gefragt hätte, ob sie Kinder kriegen wolle, sich aber nicht getraut habe.

Hätte Lanz diese Frage gestellt, hätte er sich eindeutig im Ton vergriffen. Dennoch offenbart sein Eingeständnis die ganze Fragwürdigkeit seiner Haltung Frau Rochel gegenüber.

Nein, Lanz ist kein Klimaleugner. Aber mit den Daten der Klimaerwärmung herumzujonglieren und so zu tun, als wäre das alles kein Problem, ist nicht besser, denn im Endeffekt läuft das auf das gleiche hinaus: Hände in den Schoß legen und Politik und Ingenieure machen lassen. Wir sind alle in guten Händen.

Es ist so leicht, sich damit zu entschuldigen, was man gesagt habe, sei aus dem Zusammenhang gerissen worden. Denn es ist nicht das Problem, daß man Lanz nicht richtig zugehört hätte! Umgekehrt ist das Problem: Lanz hat sich selbst nicht richtig zugehört. Er sollte sich seine Sendung noch mal vornehmen und nachrecherchieren, was er wirklich gesagt hat, anstatt sich zu wundern, wie sehr man ihn mißverstanden hat. Israel ist also ein Wüstenstaat? Und Israel kommt trotzdem klar? Muß ich jetzt also daraus folgern, daß wir ruhig damit weitermachen können, auch noch den ganzen Planeten in eine Wüste zu verwandeln?

Nur einen Schritt weiter und wir sind bei Elon Musk: der schwört schon länger auf die tolle Technik und geht mit der Vision hausieren, zum Mars auszuwandern. Natürlich ist auch der Mars eine Wüste. Die Logik dieser Idee ist also etwas verquer. Aber macht nichts. Vielleicht haben wir ihm ja nur nicht richtig zugehört.

Mittwoch, 16. November 2022

These zum Gender

Die Binarität der Geschlechter hat eigentlich nichts mit der gelebten Sexualität zu tun. Die gelebte Sexualität ist Gender und nicht Geschlecht, und sie ist auch nicht binär, sondern polymorph. Es gibt so viele Gender, wie es Menschen gibt, die sich verlieben. Mit anderen Worten: Gender gibt eine Objektpräferenz an, die mit der Binarität der Geschlechter nichts zu tun hat. Mein persönliches Gender: mich in einen Menschen zu verlieben, bedeutet, diesen einen Menschen zu begehren und sonst niemand.

Ich bin halt Romantiker. Andere leben ihre Sexualität anders aus. Kein Problem.

Wenn von der Binarität der Geschlechter die Rede ist, bezieht sich das auf etwas anderes als auf die Aktivierung von mit unserer Körperlichkeit verbundenen Lustzentren: es gibt Menschen, die können gebären, und es gibt Menschen, die können nicht gebären. Ob es mal eine reproduktionsmedizinische Technologie geben wird, die es allen Menschen ermöglicht, zu gebären, ist für diese Definition irrelevant. Es zeichnet diese Definition aus, daß sie eine Erklärung dafür bietet, warum wir in einer Gesellschaft leben, die seit mindestens 3.000 Jahren über den Körper von Frauen verfügt; warum ihnen das Recht abgesprochen wird, einen Körper zu haben.

Es geht hier nicht nur um eine Vergemeinschaftung des weiblichen Körpers. Hinter dieser Vergemeinschaftung steht vielmehr das Patriarchat. Männer wollen die eigentlichen ‚Erzeuger‘ von Kindern sein und werten deshalb nicht nur die Gebärfunktion ab, sondern enteignen zugleich auch die Frauen ihrer Verfügungsgewalt über sich selbst.

Das sollte die Grundlage jeder Diskussion über Gender (gelebte Sexualität) sein. Es beugt Mißverständnissen vor und bewahrt uns davor, uns in lauter anthropologischen Unmöglichkeiten zu verrennen.

Freitag, 11. November 2022

Was bleibt

Markus Lanz – zu seinen oft zu hörenden Sprüchen gehört: „Ich will ja nicht moralisieren, aber ...“ Und dann moralisiert er. Egal welches Thema. Alles wird moralisiert. So kam es bei Lanz zur Schnappatmung, als eine Aktivistin von Last Generation als eines ihrer Ziele Tempo 100 auf Autobahnen nannte: „Auf Autobahnen!? Das ist ja Erpressung!“

Interessant, an welcher Stelle bei Lanz die Diskussionsbereitschaft endet.

Außerdem waren es die von Lebensmitteln bedrohten Kunstwerke, die Lanz im hohen Maße entrüsteten: „Ich möchte, daß ich, und nicht nur ich, auch meine Kinder, diese Kunstwerke auch in Zukunft noch bewundern kann!“

Lieber Markus Lanz, wenn etwas von uns Menschen eine Zukunft hat, dann sind es nicht Rembrandt, Van Gogh oder Munch. Deren Werke werden den Weg alles Menschlichen gehen.

Was bleibt, ist strahlender Atommüll. Und chemischer Sondermüll, der sogar noch giftiger ist, abgelagert in Salzbergwerken. Allein in Deutschland 18 Millionen Tonnen jährlich. Für immer, weil dieser Giftmüll nicht integrierbar in die natürlichen Kreisläufe unseres Planeten ist. Das ist es, was bleibt. Noch in hunderttausend, in einer Million Jahren, wenn nichts mehr an von Lebensmitteln beworfene Kunstwerke erinnern wird.

Das nennt man Anthropozän.

Das ist unser Erbe. Das Erbe der Menschheit.

In der Zwischenzeit landen Aktivisten von Last Generation in Bayern – anscheinend auch noch mit Zustimmung eines Richters! Was ist das für ein Rechtsstaat! – vorbeugend für 30 Tage in den Knast, weil es die CSU so will.

Samstag, 5. November 2022

Nachtrag zu Adams Rippe

Poppenbergs Kommentar zu Vosslers Essay macht deutlich, daß es oft die scheinbar nebensächlichen Dinge sind, die einem zu denken geben sollten. Hat sich eigentlich schon jemand mal gefragt: Warum Adams Rippe?

Vom Handwerklichen her gesehen wäre die Rippe eigentlich ein wenig taugliches Material, um daraus einen Menschen zu formen. Lehm wäre da naheliegender gewesen. Geht es um einen passenden Körperteil, hätte man wohl eher Adams Bauch genommen, um ihm per ‚Kaiserschnitt‘ seine Eva zu entnehmen. Sogar der Kopf kann, wie wir wissen, Gedankendinge hervorbringen und wäre deshalb für eine Kopfgeburt geeignet, wie das Beispiel von Zeus und Athene zeigt. Der Ort ihres Hervorgangs machte Athene sogar zu einem Symbol für Weisheit. – Warum also eine Rippe?

Ich vermute, daß es gerade das ist, daß die Rippe am wenigstens einer Gebärmutter gleicht, was sie so geeignet für diesen speziellen Mythos macht. Hatte Gott in einer ersten Version Frau und Mann noch beide nach seinem Ebenbild geschaffen, so daß sie auf Augenhöhe zueinander standen, wollten die Autoren der zweiten Version jeden Gedanken daran, daß Eva Adam ebenbürtig sein könnte, tilgen. Bei der Erschaffung Evas sollte einfach nichts an ihre Gebärmutter erinnern, die die Vermutung nahegelegt hätte, daß, wenn schon nicht gleichzeitig geschaffen, es wohl eher Adam gewesen wäre, der aus Eva hervorging, als umgekehrt.

Adam sollte mit seiner Rippe alle Assoziationsketten abbrechen und als erster Mensch konkurrenzlos dastehen. Lehm hätte an ‚Mutter Erde‘ denken lassen. Der Bauch und sogar der Kopf hätten ebenfalls die Gedanken von Adam ab- und zu Evas Gebärmutter hinschweifen lassen. Eine Rippe hingegen nicht! Nichts, aber auch gar nichts erinnert bei Adams Rippe daran, daß eigentlich nur Frauen dazu in der Lage sind, Menschen in die Welt zu setzen.

Mittwoch, 2. November 2022

„Sprachwandel und Kulturwandel“

Gerhard Poppenberg (Hg), Sprachwandel und Kulturwandel, 2022

  1. Magier und Mystiker
  2. Adam, Eva und das Genderproblem

Gerhard Poppenberg hebt die feine Ironie hervor, mit der Kurt Vossler in seinem 1916 veröffentlichten Text zu „Form und Bedeutung“ die Genderproblematik mehr andeutet, als daß er über sie spricht (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.36 und S.55): „Und als Adam zum ersten Mal des Weibes ansichtig wurde, nannte er sie ‚Männin‘, weil sie, wie er meinte, ‚doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch und vom Manne genommen ist‘.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.7)

Vossler versetzt Adam in diesem Zitat aus der Luther-Bibel in den Zustand des Meinens und lädt so die männlichen Leser seiner Zeit dazu ein, über den Status der Frauen in ihrer Gesellschaft noch einmal ein wenig nachzudenken. Er selbst bezieht auf subtile Weise Position, indem an zwei zentralen Stellen, nämlich am Anfang und am Ende seines Textes, zwei alternative Versionen einer Versöhnung der zwei Seiten der Sprache, von Form und Bedeutung, vorträgt. Adams Version besteht in einem entschiedenen Realismus: nomen est omen! Der Name bestimmt das Wesen des Benannten. Für Eva heißt das, daß es ihr Wesen ist, ein Teil von Adam zu sein.

Wir wissen, wie es weiterging. Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben, dann kam die babylonische Sprachverwirrung, und so verloren die Sprachen ihre Macht über das Wesen der Dinge.

Am Ende des Buches teilt uns Vossler seine Version einer Versöhnung von Form und Bedeutung in der Sprache mit, die sich von der adamitischen Version unterscheidet. Nachdem Vossler zunächst vom „Durchschnittsmenschen“ gesprochen hatte, der sich pragmatisch am Alltag orientiert, in der die Sprache ganz gut funktioniert, ohne daß er sich haarspalterische Gedanken über Form und Bedeutung machen muß, kommt er zum Schluß auf die „Künstler der Sprache“, die „Dichter“ zu sprechen. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.18) Wenig überraschend weiß Vossler noch nichts von den heutigen Debatten über das Gendern und benutzt ganz naiv das generische Maskulinum. Aber er sieht die Lösung des sprachwissenschaftlichen Dilemmas im „Schoß der Dichtung“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.19) und macht so, auf Augenhöhe mit den Männern, die Frauen – pars pro toto: „Schoß“ – zu Sprachsubjekten. Vossler, so Poppenberg (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.37), will offensichtlich die adamitische Version außer Kraft setzen, ‚Schoß‘ gegen ‚Rippe‘ setzen und die zwei Seiten der Sprache versöhnen, indem die Frauen wieder gleichberechtigter Teil der Sprachgemeinschaft werden, ähnlich wie ja auch in der Dichtung die Aufspaltung der Sprache in Form und Bedeutung überwunden wird.

An dieser Stelle muß ich mich zunächst Poppenbergs Vorstellung vom Sprach- und Kulturwandel zuwenden, wie er sich in unserer Gesellschaft am Genderkonflikt zeigt. Poppenberg definiert die Kultur als ein „kollektives und gesellschaftliches Phänomen“; als die „Gemeinschaft derer, die einen Sinn teilen“. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.41)

Im Detail führt Poppenberg aus: „Der Geist ist als historische Kraft in der Sprache wirksam und nimmt als Kultur Gestalt an. Er ist als Sprach- und Kulturwandel erkennbar, ohne eine substanzielle Instanz jenseits der historischen Prozesse zu sein. Kultur, Geist und Sprache sind Korrelationsbegriffe. ... Die Korrelation der drei Begriffe gründet in der Gemeinschaft der Sprechenden, die ihre Kultur als ihre Geschichte ausbilden. Geschichte hat ihr Wesen nicht im Geist, sondern das Wesen von Geist, Kultur und Sprache ist die Geschichte. Das ergibt einen Begriff von Geist, für den das Historische konstitutiv ist.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.46)

Wo immer also von einem der drei Begriffe, Geist, Kultur und Sprache, die Rede ist, sind die anderen beiden Begriffe mit im Spiel. Wir können nie nur einen einzelnen aus dieser Korrelation herausgreifen, ohne die anderen mitzumeinen. Für den Sprachwandel heißt das, daß mit ihm selbstverständlich ein Kulturwandel einhergeht, und für den Kulturwandel, daß mit ihm ein Sprachwandel einhergeht. Und beides verändert den ‚Geist‘ einer Gemeinschaft und mit ihm das individuelle Bewußtsein der Menschen. Deshalb möchte ich der Poppenbergschen Korrelation noch einen weiteren Begriff hinzufügen: die Lebenswelt. Sie bildet den Hintergrund, von dem sich die von Poppenberg aufgeführten Korrelationsbegriffe abheben, um sich im geschichtlichen Prozeß immer wieder neu zu konturieren.

Poppenberg ergreift deshalb gegen Leo Spitzer, dem Autor des zweiten Beitrags, Partei für Vossler, der mit seiner hermeneutisch literaturwissenschaftlich orientierten Sprachwissenschaft nicht auf allgemeine Formgesetze hinauswill, sondern für individuelle Objektivität plädiert. Vosslers methodischer Ansatz, so Poppenberg, „hat seinen Grund in etwas, das Georg Simmel (1858-1918) kurz zuvor in der Zeitschrift ‚Logos‘ (1913), in der auch Vossler einige seiner sprachwissenschaftlichen Aufsätze publizierte, als ein ,individuelles Gesetz‘ entwickelt hatte“: „Es hat eine ‚radikalere Objektivität‘ als das vermeintlich objektive allgemeine rationale Gesetz. ... Es gibt eine ‚Objektivität des Individuellen‘, die ‚aus dem individuellen Leben herausgeformt‘ wird.()“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.47)

Wenn wir in diesem Sinne von einem Kultur- und Sprachwandel sprechen, wird deutlich, daß es nicht einzelne Sprecherinnen und Sprecher sind, die über das Gendern entscheiden, auch nicht einzelne Gruppen und ihre Interessen, sondern die Sprachgemeinschaft, also jener „Durchschnittsmensch“, von dem schon die Rede war, der die Sprache alltäglich verwendet und seinen Gebrauch den Situationen anpaßt, die sich ihm stellen.

Wenn sich die „binäre Geschlechterkonzeption“ als zu eng erweist, um die gesellschaftliche Praxis angemessen zu beschreiben – und davon geht Poppenberg mit Verweis auf Magnus Hirschberg (1865-1935) aus –, dann werden sich Sprache und Kultur wandeln. Immer schon, so Poppenberg, ‚projizieren‘ die Menschen ihre „eigene Geistesart in die Dinge“ ‚hinein‘: „Wenn in den romanischen Sprachen die Sonne maskulin, in den germanischen Sprachen feminin ist, hat das seinen ‚Grund nicht in der Sonne, sondern in den Sprechern‘.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.52)

* * *

Zum Schluß nochmal zu Magnus Hirschberg. Hirschberg stellte fest, daß auf individueller Ebene die „menschliche Trieb- und Affektverfassung“ polymorph, nicht binär ist. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.49) Aber Poppenberg weist darauf hin, daß die „binäre Geschlechterkonzeption“ für die Gesellschaft bislang konstitutiv gewesen ist: „Die Geschlechterdifferenz gehörte zur elementaren Konzeption des Gefüges menschlicher Zivilisation. ... Ein Wandel dieser archaischen Konzeption impliziert einen vermutlich grundstürzenden Wandel des gesellschaftlichen Gefüges und der Sprache als seiner Ausdrucksgestalt.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.55)

Poppenberg vermeidet es an dieser Stelle, vom Patriarchat zu sprechen. Wenn man einmal von primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen absieht, die sich nicht immer eindeutig und bis ins letzte unbezweifelbar bestimmen lassen, ist es vor allem die Fähigkeit der Frauen, Kinder zu gebären, die sie vom Mann unterscheidet. Dieser Unterschied ist so fundamental, daß er einen psychisch verhängnisvollen Marker setzt: nämlich einen existenziellen Mangel auf Seiten des Mannes. In Reproduktionsangelegenheiten gibt es keinerlei Gleichwertigkeit zwischen Frauen und Männern. Der Verweis auf das Sperma, die angeblichen 50 Prozent, die die Männer beisteuern, ist ein Witz. Der männliche ‚Same‘ ist so wenig eine vollwertige Keimzelle wie Adams Rippe eine Gebärmutter.

Bei aller Unwissenheit früherer Generationen war doch in der Menschheitsgeschichte immer offensichtlich gewesen, wer die Kinder gebiert. Und genau hier liegt der Ursprung des Patriarchats, nämlich in der binären Differenz, Kinder in die Welt setzen zu können oder nicht. Es war die Erfahrung der eigenen Minderwertigkeit, die die Männer dazu brachte, sich mit Hilfe des Patriarchats auf Kosten der Frauen aufzuwerten. Ich kann mir jedenfalls kein anderes so sehr die eigene Identität betreffendes Motiv für die Entstehung des Patriarchats vorstellen als das Minderwertigkeitsgefühl, wie es auch Alfred Adler seiner Psychologie zugrundegelegt hat und das sich von Generation zu Generation erneuert und deshalb immer wieder neu verarbeitet und kompensiert werden will.

Würde diese binäre Differenz, die unabhängig davon ist, von wie vielen Geschlechtern wir angesichts unserer sexuellen Polymorphie ausgehen müssen, ehrlich ausgesprochen und gesellschaftlich anerkannt, dann würde das tatsächlich zu dem „grundstürzenden Wandel“ führen, von dem Poppenberg spricht.

Dienstag, 1. November 2022

„Sprachwandel und Kulturwandel“

Gerhard Poppenberg (Hg), Sprachwandel und Kulturwandel, 2022

  1. Magier und Mystiker
  2. Adam, Eva und das Genderproblem

Das von Gerhard Poppenberg herausgegebene Bändchen mit seinen gerade mal 50 Textseiten, die sich auf drei Beiträge verteilen – Kurt Vossler (1872-1949), „Form und Bedeutung“, (1916, S.7-19); Leo Spitzer (1887-1960), eine Rezension zu „Form und Bedeutung“ (1917, S.21-29); Gerhard Poppenbergs Kommentar: „Gott, Geschlecht, Grammatik“ (S.33-58) –, ist wahrscheinlich das dünnste Buch, das ich bislang mit größtem Gewinn gelesen habe.

Der letzte Beitrag von Poppenberg ist in seinem ersten Teil (S.34-48) ein Kommentar zum Text von Kurt Vossler, während Leo Spitzers Text, wie das oft bei Rezensionen ist, viel Gemecker und wenig Substanzielles enthält und wohl vor allem mit aufgenommen wurde, weil er eine Gegenposition zu Vossler repräsentiert, die sich im 20. Jhdt. in der Sprachwissenschaft mit dem sogenannten linguistic turn durchgesetzt hat und die Poppenberg als „strukturale Linguistik“ bezeichnet. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.40 und S.42) Um es kurz zu machen, steht Vossler – in der Tradition von Wilhelm von Humboldt – für eine geisteswissenschaftliche, am Vorbild der Literaturwissenschaft orientierte Sprachwissenschaft (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.45), während Spitzer sich naturwissenschaftlich an der Biologie und der Evolutionstheorie orientiert (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.28f. und S.47).

Ich beginne mit meinen eigenen Lektüreeindrücken von Vosslers Beitrag, gleiche sie dann mit Poppenbergs Kommentar ab, um mich dann in einem zweiten Blogpost mit dem zweiten Teil von Poppenbergs Beitrag (S.49-58) zum Gendern auseinanderzusetzen.

Zunächst fällt auf, daß Vossler von den  „Mystikern“ und von den „Magiern“ in der Sprachwissenschaft spricht. Sie stehen, so Vossler, für eine der zwei Seiten der Sprache, für „Form“ und für „Bedeutung“. Vossler knüpft hier an eine uralte, bis ins Mittelalter zurückreichende Debatte zwischen Nominalisten und Realisten an. Damals, im sogenannten Nominalismusstreit, waren die ‚Realisten‘ die Magier, die glaubten, daß die Sprache das Wesen der Dinge („Bedeutung“) abbilde; und die ‚Nominalisten‘ waren die Mystiker, die glaubten, daß die Sprache ein willkürliches Zeichensystem („Form“) sei und es für die reale Welt völlig unerheblich sei, wie wir die Dinge in ihr bezeichnen. Für die Realisten war also die Sprache selbst eine Realität, während für die Nominalisten die Sprache bzw. die ‚Namen‘ nur „Schall und Rauch“ (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.8) waren.

Mit diesen etwas ungewöhnlichen Bezeichnungen, ‚Magier‘, ‚Mystiker‘, umschreibt Vossler die verschiedenen Motive der Realisten und der Nominalisten. Glaubten die Realisten, mit Hilfe der Sprache einen direkten Zugriff auf die Welt zu haben, so wie ein Magier mit seinen Zaubersprüchen – heute spricht man nicht mehr von ‚Zaubersprüchen‘, sondern von ‚Algorithmen‘ –, so wollten die Nominalisten vor allem das Wesen der Welt jenseits der Sprache ergründen, so wie die heutigen Naturwissenschaftler. Bruder William in „Der Name der Rose“ (U.Eco) ist so ein Nominalist. Nominalisten waren also die ersten Naturwissenschaftler. Es ist schon seltsam, daß, folgt man Vossler, Mystiker und Naturwissenschaftler von demselben Motiv angetrieben werden.

‚Form‘, also die Sprache mit ihrer Grammatik und ihrer Lexik, und ‚Bedeutung‘, also die Semantik, bilden die zwei Seiten der Sprachwissenschaft, und die Sprachwissenschaftler haben sich entweder auf den Formaspekt oder auf den Bedeutungsaspekt spezialisiert und stehen sich dabei wie unversöhnliche Feinde, als Mystiker die einen, als Magier die anderen, gegenüber.

Vossler beschreibt den „magisch gerichtete(n) Forscher“ (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.11) in einer Weise, die mich an den jungen Wittgenstein und an den Konstruktivismus erinnert: „Das Schicksal der Sprache wird ihm zu einer Geschichte der Dinge, die Sprachgeschichte zu menschlicher Geistes- und Kulturgeschichte. ... Als wissenschaftlich in seinem Sinn erkennt er nur diejenigen Deutungen an, die das seelische und geistige Leben in der Sprachform, den Kern in der Hülle treffen.“ (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.11f.)

Ähnlich wie in diesem Zitat haben wir es auch beim Konstruktivismus mit einer Denkform zu tun, die nur mit Bezug auf die Menschenwelt funktioniert. Nur hier haben Worte eine unmittelbare Wirkung auf die Realität. Nur hier, nicht in der Dingwelt, vollziehen gesprochene Worte tatsächlich Handlungen; sie sind performativ und verändern die seelische und geistige Wirklichkeit des Menschen. Insofern mündet der Realismus letztlich in einem gesellschaftswissenschaftlichen Konstruktivismus.

Auch Poppenberg kommt in seinem Kommentar auf den Konstruktivismus zu sprechen, führt ihn aber anders als ich nicht auf den Realismus, sondern auf den Nominalismus zurück. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.42) Poppenberg macht den nominalistischen Konstruktivismus an der den Mystikern zugewiesenen „Formenlehre“ fest (vgl.  Poppenberg (Hg) 2022, S.12), aus der die strukturale Linguistik in der Tradition von Ferdinand de Saussure hervorgegangen ist (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.40). Das funktioniert aber nur, als sich in der Sprachwissenschaft das Forschungsinteresse auf die Sprache selbst richtet und nicht auf die natürliche Welt. Dieser ‚Mystiker‘ ist also kein Naturwissenschaftler. Und weil für ihn dennoch die Sprache nur Schall und Rauch ist, also Menschenwerk und nicht Natur, bildet sie für ihn ein willkürliches Konstrukt, dessen Formgesetze er zu erforschen versucht.

Das macht ihn natürlich irgendwie zu einem Konstruktivisten. Aber Vossler hat ja schon deutlich genug gemacht, daß die Mystiker sich vor allem für das Wesen der Dinge interessieren. Den Konstruktivisten hingegen ist das Wesen der Dinge gleichgültig. Für sie ist allein die sprachliche Form wesentlich. Und was so ein richtiger Konstruktivist ist, will er sich nicht auf die Menschenwelt beschränken lassen und glaubt – ähnlich wie der junge Wittgenstein –, daß die sprachliche Form auch für die Dinge gilt. Der Konstruktivismus paßt also eher zu den Realisten, als zu den Nominalisten.

Ich gebe gerne zu, daß das alles nach einem ziemlichen Durcheinander von ineinander verworrenen Traditionslinien klingt. Aber vielleicht ist genau das das Problem, auf das Vossler hinaus will. Form und Bedeutung lassen sich eben nicht so sauber voneinander scheiden. Tatsächlich bildet die Untrennbarkeit von Form und Bedeutung sogar das eigentliche Wesen der Sprache, und weder Magier noch Mystiker begreifen das. Letztlich, so Vossler, vermengen beide ‚Seiten‘, also Magier und Mystiker, „das sprachliche Denken mit dem logischen“ und mißachten es so „in seiner Eigenart“. (Vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.10) – Ich erkläre mir diese etwas rätselhafte Stelle so, daß Vossler mit dem logischen Denken die Mathematik meint, auf die letztlich alle wissenschaftliche Empirie zurückgeführt wird, wobei die Magier die Mathematik irrtümlich für eine Sprache halten, während die Mystiker das Wesen der Dinge mit der Mathematik verwechseln. Beide mißachten so das Wesen der Sprache.

Sei dem wie es sei. Wichtig ist an dieser Stelle zum Schluß dieses Blogposts noch, daß Vossler glaubt, daß es noch eine dritte Position gibt, die Form und Bedeutung miteinander verbindet. Diese dritte Position besteht zum einen in der Alltagssprache – Vossler spricht von den „Durchschnittsmenschen“ (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.10) – und zum anderen in der Literatur bzw. in der Dichtung. Auf letztere werde ich im zweiten Blogposts zu sprechen kommen. Was die Alltagssprache bzw. den Alltagsprachler (Durchschnittsmenschen) betrifft, so ist seine Haltung zur Sprache pragmatisch: „Er macht sein Zugeständnis an die magische Auffassung, indem er annimmt, dass das Wort zwar nicht über alle Welt, wohl aber über die Menschen Macht habe und den Menschen wenigsten menschlich nützliche Wahrheiten bedeuten und vermitteln könne.“ (Poppenberg (Hg) 2022, S.10)

Der Alltagssprachler beschränkt also die Gültigkeit des magischen Denkens auf die Menschenwelt. Es hat keine Macht über die Dingwelt. Was die Mystiker betrifft, gibt der Alltagssprachler auch diesen recht, insofern er „die Verschleierungen, Trübungen, Verfälschungen und Missverständnisse“ sieht, „denen der wahre Sinn des Gemeinten durch den Wortlaut des Gesagten, die Sache durch den Namen unterworfen wird“. (Vgl. ebenda)

Anders als Poppenberg, der meint, daß diese „vorsichtige Mittelmäßigkeit des gesunden Menschenverstandes“ philosophisch nicht weit trägt (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.39), halte ich diese Positionierung der Alltagssprache zwischen Realismus und Nominalismus für genau die sprachliche „Eigenart“, von der Vossler weiter oben festhält, daß sie von jedem der beiden anderen gleichermaßen „missachtet“ wird (vgl. Poppenberg (Hg) 2022, S.10). Wir haben es bei der Form und bei der Bedeutung im Plessnerschen Sinne mit einer Doppelaspektivität der menschlichen Sprache zu tun, der gegenüber sich Alltagssprachler ‚neutral‘ verhalten können, weil sie, wie Plessner sagen würde, exzentrisch positioniert sind.

Mittwoch, 19. Oktober 2022

Seyn versus Handeln

Byung-Chul Han, Vita contemplativa oder von der Untätigkeit, 2022

Schon der Titel des Buchs von Byung-Chul Han zeigt, daß sich der Autor dezidiert gegen Hannah Arendts „Vita activa“ (1958/60) richtet, also gegen ihr Konzept von Politik und vom politischen Handeln: „Für Arendt gilt: Sein ist kreatürlich. Menschlich ist Handeln. Arendt verleiht dem Politischen eine ontologische, ja soteriologische Dignität.“ (Han 2022, S.80f.)

Han geht sogar so weit, zu behaupten, daß Arendt für eine Entwicklung steht, in der ein „Kult“, ein „Gottesdienst des Selbst, in dem jeder Priester seiner selbst ist“, betrieben wird. (Vgl. Han 2022, S.94) Gleichzeitig aber ist er selbst einem Kult um das „Seyn“, zu dem er Arendts Handlungskonzept in einen Gegensatz stellt, verfallen. Er selbst plädiert für einen Gottesdienst der Selbstlosigkeit im Dienste dieses Seyns.

Das Grundproblem besteht darin, daß Han seine berechtigte Kritik an Arendts Fixierung auf das politische Handeln von Heidegger her betreibt, also ausgerechnet mit jenem Autor, von dem sich Hannah Arendt aus guten Gründen abgewandt hatte. Und Spuren dieser Abwendung durchziehen ihr ganzes politisches Denken, so daß sie ihre Begrifflichkeit oft als wohldurchdachte Antithesen zu Heidegger entwickelt hat.

Wenn sich Han also auf Heidegger beruft, hätte er Arendts Kritik an Heidegger mitbedenken müssen, und dann wären ihm seine Hymnen auf die Passivität, auf das Nicht-Tun und Nicht-Handeln, auf die Mystik des Seyns nicht so leicht von der Feder aufs Blatt geronnen. Mit Heidegger für „Kulthandlungen“ zu schwärmen, die die Menschen „zu einem kollektiven Körper“ verschmelzen lassen, in dem „keine Individualität“ zugelassen wird (vgl. Han 2022, S.79), ist angesichts seiner Kritik an Hannah Arendt, vorsichtig formuliert, peinlich.

Der Heidegger, auf den sich Han bezieht, ist der Heidegger der „Kehre“, nicht der Heidegger von „Sein und Zeit“, der noch selbst im Zeichen der Eigentlichkeit und angesichts des Todes das menschliche Dasein als der Sorge gewidmetes Handeln konzipierte. (Vgl. Han 2022, S.52ff.) Dem Heidegger der Kehre gehe es hingegen nur noch um das Seyn, mit ‚y‘ geschrieben. Dieses Seyn ist im Unterschied vom Sein in „Sein und Zeit“ pure Metaphysik. In „Sein und Zeit“ hatten wir es noch mit einer Anthropologie zu tun, wo Metaphysik nichts zu suchen hat. Zwar hat Han einen durchaus anti-metaphysischen Blick auf das, was er „Immanenz“ nennt (vgl. Han 2022, S.30f. und S.46) und das in etwa dem entspricht, was ich mit Husserl „Lebenswelt“ nennen möchte. Aber Han verleiht dieser Immanenz eine kultische Tiefe. Es ist nicht einfach nur das Leben, das wir leben, sondern es hat eine Tiefe, die ‚west‘ und, anders als die Lebenswelt, keiner Subjektivierung zugänglich ist. Die „radikale Immanenz“, wie es auch heißt, ist eine innere Stimme, besser noch eine unpersönliche Stimmung, und als solche „kein subjektiver Zustand, der auf die objektive Welt abfärbt“: „Sie ist die Welt. Ja sie ist objektiver als die Welt, ohne jedoch selbst ein Objekt zu sein.“ (Vgl. Han 2022, S.46f.)

Die radikale Immanenz als Stimmung „bildet also den vorreflexiven Rahmen für Tätigkeiten und Handlungen“. (Vgl. Han 2022, S.47)

Im großen und ganzen – und ohne Metaphysik – läuft es auf die husserlsche Lebenswelt hinaus. Han aber nennt es „Seyn“ und bricht damit eine Lanze für Heideggers Priesterschaft.

Alternativ für „Seyn“ ist bei Han auch von „Natur“ die Rede. (Vgl. Han 2022, S.41ff., 51, 109f.) Der Naturbegriff steht gewissermaßen vermittelnd zwischen dem Seyn und dem Göttlichen. Er soll uns als Naturschönes für das „Schauen“ als Hingabe an das Schöne in uns und ums herum und damit für den Gottesdienst empfänglich machen: „Die Natur öffnet dem sich frei und souverän wähnenden Subjekt das Auge und befähigt es zum Schauen.“ (Han 2022, S.109) Je schöner uns etwas erscheint, um so bereitwilliger geben wir uns ihm hin, insbesondere das Ich, an dem wir in einer kapitalistisch deformierten Welt so verbissen festhalten.

Das Ich, insbesondere als politisches Subjekt im Arendtschen Sinne, ist für Han die Ursache allen Übels. Mal ist es der „Meister der Untätigkeit“, der nicht „Ich“ sagt, mal ist es der Genius der Erzeugung, an dem der „Anspruch des Ich“ zerschellt. (Vgl. Han 2022, S.55, 96) Dann wieder haben wir es mit einer „taghellen Mystik“ zu tun, „in der das Ich seiner eigenen Auflösung friedlich beiwohnt“. (Vgl. Han 2022, S.96f.)

Um den Anspruch des kapitalistischen Ich so gründlich wie möglich zurückzuweisen, verkehrt Han auch schon mal Ursache und Wirkung, wie in folgender Textstelle, wo er sich mal nicht auf Heidegger, sondern auf dessen Lieblingsdichter Hölderlin bezieht: „Dem Handeln haftet ein Seinsmangel an. Hölderlin macht das Selbst, das Subjekt des Handelns für den permanenten Widerstreit, für den Verlust des Seyns verantwortlich ...“ (Han 2022, S.108)

Was immer Hölderlin dazu zu sagen hat: umgekehrt wird ein Schuh daraus! Dem Handeln haftet nur insofern ein Seinsmangel an, als dieser Seinsmangel ein anthropologisches Faktum bildet, weswegen Menschen gar nicht anders können als zu handeln. Das „Subjekt des Handelns“ ist für den Verlust des Seyns nicht verantwortlich, sondern es geht aus diesem Verlust allererst hervor.

Nicht das Schauen, das Han an die Stelle des Handelns setzen will, ist in meinen Augen zweifelhaft, sondern die Bezugsgrößen, die Han heranzieht, für das, worum es ihm geht. Neben Heidegger z.B. Augustinus: „Bei Augustinus fallen Schauen und Lieben in eins. Erst wo die Liebe ist, öffnet sich das Auge ().()“ (Han 2022, S.68) – Die Verbindung von „Schauen und Lieben“ hat bei Augustinus, den Sloterdijk auch als „Hysteriker von Hippo“ bezeichnet, etwas zutiefst Mißbräuchliches, Übergriffiges. Augustinus, der Erfinder der Erbsünde, bezeichnete die fleischliche Liebe als die Ursünde, die sich von Generation zu Generation weitervererbt. Wenn dieser Augustinus also von „Schauen und Lieben“ spricht, so ist damit vor allem eins gemeint: gute Christenmenschen dürfen nur schauen; anfassen verboten!

Han sollte sich also seine Gewährsleute sorgfältiger aussuchen. Andere Gewährsleute wiederum, auf die er sich bezieht, sind keine. Wenn Han Adorno zitiert, der schreibt, daß „das Ich“ beim Anblick der Natur „aus der Gefangenschaft in sich selbst“ heraustritt (vgl. Han 2022, 110), so ist damit eben nicht vom „Trotz“ einer „Selbstsetzung“ die Rede, aus der das Ich gelöst wird, möglicherweise noch mit der Tendenz, seine eigene Nichtigkeit zu erkennen und sich bereitwillig aufzulösen. Im Gegenteil spricht Adorno von einer Befreiung des Ich. Adorno sagt also das Gegenteil von dem, was Han zu suggerieren versucht.

Wenn Han die hingebungsvolle, passive Schau (Heidegger) gegen das politische Handeln (Arendt) setzt, schränkt er seine Begrifflichkeit auf einen das menschliche Bewußtsein bestimmenden Dualismus ein; auf ein entweder/oder. Das führt wiederum dazu, daß er auch Begriffe einem dieser beiden Pole zuordnet, die weder mit dem einen, noch mit dem anderen etwas zu tun haben.

So bezeichnet Han den „Zustand der Begeisterung“, der für die Hingabe der Schau steht, als ein „Neben-sich-stehen“. (Vgl. Han 2022, S.97) Aber Begeisterung und neben sich stehen schließen einander aus. Wer neben sich steht, ist im Zustand der Beobachtung, nicht im Zustand der Begeisterung. Wer sich oder anderes beobachtet, ist hellwach und aufmerksam; er weiß, was er tut. Wer hingegen im Zustand der Begeisterung ist, ist es weder mit sich noch neben sich, sondern ohne sich. Hier kann in der Tat von einem Ich nicht die Rede sein. Auch Han verwendet für diesen Zustand das Wort „Selbstvergessenheit“. (Vgl. Han 2022, S.96)

Wenn wir schlafen, sind wir ohne uns. Wenn wir uns hingeben, einer Sache, einem Menschen, sind wir ohne uns. Wenn wir begeistert sind, sind wir ohne uns. Ohne-sich-sein bedeutet, daß wir nicht mehr apperzipieren. Wir begleiten unsere Wahrnehmungen nicht mehr mit einem Denken. Wenn es der tiefere Zweck eines Kultus ist, sich hinzugeben und als Ich aufzugeben, dann hören wir auf zu apperzipieren. Hans Schau ist ein Sehen-ohne-Denken; ein Sehen-ohne-sich. Aber eins ist es nicht: ein Neben-sich-stehen.

Apperzeption ist das Dritte zwischen zwei sich wechselseitig ausschließenden Gegensätzen: der mystischen Schau und dem politischen Handeln. Arendt nannte es das Zwiegespräch mit sich selbst, zu dem sie sich regelmäßig in ihr Zimmer zurückzog. Dieses Zwiegespräch bedeutete für sie, zu hören, was sie sagte, und zu denken, was sie sah. Das Zwiegespräch intermittiert unser Handeln. Apperzeption ist Meditation und hat eine eigene Mystik. Eine wache Mystik jenseits des Schlafs.

Samstag, 8. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Wieso aber beziehe ich R/Js Begriff der Zweiheit, deren Medium die Rede ist und in der sich Intelligenzen als Gleiche begegnen, um sich gegenseitig zu ‚erraten‘, auf meine Formel von Ich = Du? Können sich nicht im Medium der Rede viele versammeln, die einen als Redende, die anderen als Publikum? Und können nicht in solchen Versammlungen mithilfe von Prozeduren gemeinsame Entscheidungen gefällt werden, wie das in demokratisch gewählten Parlamenten geschieht? Ist es nicht sogar so, daß wo einer sich irrt, viele, sich gegenseitig korrigierend, gemeinsam meist das Richtige treffen?

R/J verneint das ganz entschieden: „Es gibt keine Intelligenz dort, wo es Anhäufung gibt, Aneinanderbinden von Verstand an Verstand.“ (Rancière 2007, S.45) Als ‚Anhäufungen‘ bezeichnet R/J jede Art von Versammlungen und darüberhinaus, ganz allgemein, die Gesellschaft. Als ‚Anhäufung‘ entwickelt sie eine Schwerkraft, so wie aus einer aufgehäuften Ansammlung von Staub Planeten und Sterne hervorgehen. (Vgl. Rancière 2007, S.92ff.) Diese Schwerkraft zieht die Individuen in ihren Band und richtet ihr Denken aus, wie ein Magnet Eisenspäne ausrichtet. Das ist das Prinzip der Verdummung als Gegensatz zur individuellen Intelligenz.

R/J verortet die Intelligenz einzig in den Individuen, und die Emanzipation richtet sich ebenfalls einzig auf Individuen und nicht auf Gesellschaften: „Nur ein Individuum kann vernünftig sein, und nur nach seiner eigenen Vernunft.“ (Rancière 2007, S.120). Der Begriff der Zweiheit ist also wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich wirklich nur auf zwei Menschen und deren Intelligenz. Und R/J geht sogar so weit, aus dieser sich auf zwei Menschen fokussierenden Beziehung – und nicht aus der größtmöglichen Anhäufung – die Menschheit als Gattung hervorgehen zu lassen: „Die Gleichheit der Intelligenzen ist das einigende Band des Menschengeschlechts, die notwendige zureichende Bedingung dafür, dass eine Gesellschaft von Menschen existiert.“ (Rancière 2007, S.90) – Und noch einmal: „Man hat hingegen keine Vernunft von der gesellschaftlichen Gesamtheit zu erwarten.“ (Rancière 2007, S.94)

Ich finde es einerseits recht erfrischend, wenn auf diese drastische Weise die gesellschaftliche Praxis in ihrer rationalen Begrenztheit dargestellt wird. Der Glaube an eine gesamtgesellschaftliche Ratio, wie sie z.B. von Jürgen Habermas vertreten wird, basiert auf einer entgegengesetzten Einschränkung: der des Individuums. Habermas kann sich das Individuum nur als Teil der gesellschaftlichen Ratio denken. Ich neige dazu, mich eher auf die Seite von R/J als auf die von Habermas zu stellen. Dennoch fehlt bei R/J ein Verständnis dafür, daß die Lebenswelt das individuelle Bewußtsein nicht einfach nur deformiert. Individuelles Bewußtsein kann sich nur in seiner Lebensweltlichkeit entwickeln. Aber individuieren kann es sich nur in Beziehungen, die ihm Einblick in die Realität von wiederum anderem, ihm gleichrangigem individuellem Bewußtsein gewähren: Ich = Du.

Eine solche Beziehung ist aber nicht mehr Teil der Gesellschaft. In der Gesellschaft sind ich und du immer gleich wir alle. Wo Ich = Du ist, stehen wir außerhalb der Gesellschaft. Wir haben es mit einer eigenständigen Sozialform jenseits der Gesellschaft zu tun. Sie darf auch nicht mit der Gemeinschaft verwechselt werden, weil ihr Band anders geknüpft wird. Sie besteht in einer Anerkennung, die sich dem Zufall verdankt. Die unvoreingenommene Begegnung mit jemand wie mich. Ohne Verachtung. Ohne Erniedrigung. Gleichen Rangs.

Außerhalb der Gesellschaft gelingt das Richtige im Falschen. Wo wir uns auf diese Weise begegnen, muß niemand mehr emanzipiert werden.

Freitag, 7. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Obwohl die Rede als Medium der Begegnung zwischen zwei Intelligenzen einen eminent wichtigen Part im universellen Unterricht des unwissenden Lehrmeisters spielt, beschreibt R/J die Rhetorik als eine Form des falschen Bewußtseins: in ihr geht es nur ums Rechtbehalten, nicht ums Rechthaben, und das bevorzugte Mittel dazu ist die Erniedrigung des Gegners. Die Rhetorik ist die Praxis der Unvernunft.

Wer sich eine Anschauung für diese  symbolische Form des Kampfs bis aufs Messer wünscht, soll sich den Film „Die brillante Mademoiselle Neïla“ (2017) ansehen. Neïla, eine Studentin aus der Pariser Vorstadt, nimmt bei dem Rhetoriklehrer Pierre Mazard, Rassist und eigentlich überhaupt Menschenfeind, Unterricht. Interessanterweise kommt Neïla am Ende des Films zu der Erkenntnis, daß die Rhetorik auch eine Waffe des Friedens, eine Form der Liebe, sein kann. In dem Film übrigens spielt ein Text von Arthur Schopenhauer, „Die Kunst, Recht zu behalten“ (1830/64), eine tragende Rolle. Sehr lesenswert!

So weit wie Neïla würde R/J natürlich nie gehen. Trotzdem gesteht auch er die Nützlichkeit der Rhetorik in einer Welt ein, die die Intelligenz notorisch hierarchisiert und zwischen höheren und niedrigeren Intelligenzen unterscheidet. In einer solchen falschen Welt bleibt den vernünftigen Menschen, die an die Gleichheit der Intelligenz glauben, nichts anderes übrig, als sich mit Hilfe der Rhetorik einen Freiraum zu erkämpfen, in dem die Vernunft überleben kann: „Der in dem Zirkel der gesellschaftlichen Verrücktheit eingeschlossene unvernünftig redende Vernünftige beweist, dass die Vernunft des Individuums niemals aufhört, ihre Macht auszuüben.“ (Rancière 2007, S.113f.)

Dieser Freiraum, in dem die Vernunft ihre Macht entfalten kann und den sich die vernünftigen Menschen in einer falschen Welt mit den falschen Mitteln (unvernünftig redend) erkämpfen, ist so etwas wie das Richtige im Falschen und bildet damit die Gegenthese zu Adornos Aphorismus, daß es im falschen Leben kein richtiges geben könne. (Vgl. Minima Moralia  1997, S.43) Auch Jesus sendet seine Apostel aus, seine Botschaft der Liebe zu verkünden, aber in der feindlichen Welt klug wie die Schlangen zu sein und so ihr Leben zu schützen. (Vgl. Matthäus 10,16)

Donnerstag, 6. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Der Mensch ist also ein Wille, dem eine Intelligenz dient. (Vgl. Rancière 2007, S.66) Was aber ist der Wille? Einen Hinweis darauf finden wir in R/Js Feststellung: „Da, wo das Bedürfnis endet, ruht sich die Intelligenz aus, außer ein stärkerer Wille verschafft sich Gehör.“ (Vgl. ebenda)

Hier haben wir gleich zwei Hinweise: erstens der Wille ist ein Bedürfnis. Das ist keine banale Feststellung. In der christlichen Tradition stellt sich ein ‚guter‘ Wille, der immer zugleich ein ‚starker‘ Wille sein muß, gegen unsere Bedürfnisse. Bedürfnisse sind ‚Fleisch‘, und das Fleisch ist schwach, wußte schon der Apostel Paulus. Ein starker Wille aber kann das schwache Fleisch regieren. Im Auftrag des Geistes natürlich, dem er dient.

R/J stellt klar: der Geist, die Vernunft, die Intelligenz, wie immer wir es nennen wollen, dient dem Willen; nicht umgekehrt.

Zweitens lernen wir, daß es unterschiedlich starke Bedürfnisse (Willen) gibt. Unter diesen Bedürfnissen verschafft sich immer das stärkste Bedürfnis Gehör. Und diesem dient dann die Intelligenz. Dieser Hinweis auf eine individuelle Bedürfnisvielfalt führt noch auf derselben Seite zu der Vermutung, daß die „Ungleichheit der intellektuellen Leistungen“ – trotz aller Gleichheit der Intelligenz – darin liegt, daß die „Willen ungleich gebieterisch“ ausgeprägt sind. (Vgl. Rancière 2007, S.66)

Die nächste Vermutung, die sich hier anschließen müßte, über die R/J aber nichts mehr zu sagen weiß, besteht darin, daß den „Willen“, von denen an dieser Stelle die Rede ist, nämlich inter-individuell unterschiedlich stark ausgeprägte Bedürfnisse, auch eine intra-individuelle Bedürfnisvielfalt entspricht; und daß deshalb eine zentrale Lernaufgabe darin bestehen müßte, daß jedes Individuum für sich selbst herausfinden muß, was es eigentlich will!

Aber schon die Annahme, daß die Individuen untereinander verschieden stark ausgeprägte „Willen“ haben, impliziert notwendigerweise ein weiteres Problem: wieso sollte eigentlich der Wille der Schülerin dem Willen der Lehrmeisterin entsprechen, die zwar unwissend ist, aber immerhin ihrer Schülerin bestimmte Lernaufgaben stellt? Auch darüber kein Wort von R/J.

Wie also muß man den Begriff der Zweiheit fassen, wenn den zwei Intelligenzen, die miteinander reden, zwei unterschiedlich stark ausgeprägte Willen zugrundeliegen und wenn darüberhinaus jede individuelle Intelligenz für sich selbst noch einmal in sich mit verschiedenartigen Bedürfnissen irgendwie zurecht kommen muß?

Obwohl also R/J darauf keine Antwort gibt, bietet er eine zumindest vorläufige Antwort auf diese Frage, aus der sich mehr machen läßt: „Der Wille errät den Willen.“ (Rancière 2007, S.79) – Und an anderer Stelle heißt es: „Die Bedeutung ist das Werk des Willens.“ (Rancière2007, S.71)

Wir haben es also mit einer Zweiheit zu tun, in die wir auch die innere (intra-individuelle) Verfaßtheit jedes der beiden mit einbeziehen können: Wir kennen den Willen der anderen Intelligenz, die der unseren gleicht, nicht; so wenig wie wir unseren eigenen Willen kennen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als dessen (und den eigenen) Willen zu erraten. Zugleich ist es dieser Wille, der allem, was wir sagen und tun, und dem die Intelligenz dient, eine Bedeutung verleiht. All unsere Reden, all unsere Taten sind in diesem Sinne allererst expressiv, und erst in zweiter Linie geht es um die Mitteilung von Informationen.

Warum? Weil wir in jeder Rede etwas über den eigenen Willen lernen, indem wir etwas über den anderen Willen erfahren. Nur deshalb haben die Wörter, die wir austauschen, Bedeutung: „Nur kann man sich nicht durch Worte über die Bedeutung von Worten einigen. Der eine will sprechen, der andere will erraten, das ist alles.“ (Rancière 2007, S.80)

Ein weiteres Mal verwendet R/J in diesem Zusammenhang das Wort ‚Seele‘: „Jede Rede, ob gesagt oder geschrieben, ist eine Übersetzung, in der Erfindung der möglichen Gründe des gehörten Tones oder der geschriebenen Spur: Wille zu erraten, der alle Hinweise aufgreift, um zu erfahren, was ihm ein vernünftiges Lebewesen zu sagen hat, das ihn als Seele eines anderen vernünftigen Lebewesens ansieht.“ (Rancière 2007, S.80)

Besonders schön kommt das Primat der Expressivität in einer Textstelle zum Ausdruck, in der R/J auf des Verhältnis von „Gefühl und Ausdruck“ zu sprechen kommt, in dem es darum geht, dem anderen mir gegenüber meine Gefühle zu ‚übersetzen‘. Um diese Fähigkeit zu entwickeln und zu üben, müssen wir uns an die Dichter halten: „Man muss bei denen lernen, die über diesen Abstand zwischen Gefühl und Ausdruck, zwischen der stummen Sprache der Emotion und der Willkür der Sprache gearbeitet haben, danach bei denen, die versucht haben, den stummen Dialog der Seele mit sich selbst hörbar zu machen, die die ganze Glaubwürdigkeit ihres Wortes auf dieser Ähnlichkeit der Geister aufgebaut haben.“ (Rancière 2007, S.85)

An dieser Stelle stimmt wieder alles. Es fehlt aber die Rückübertragung der entsprechenden Einsichten auf das Verhältnis von Lehrmeisterin und Schülerin. Es sei denn man nimmt die Textstelle über die Distanz zwischen den beiden und über die Notwendigkeit, diese Distanz durch ein Drittes zu überbrücken, als Hinweis auf eine mögliche Antwort auf das Problem. (Vgl. Rancière 2007, S.15) Es geht dabei um das „Trio“, wie R/J es nennt, um das pädagogische Dreieck von Lehrerin, Lerngegenstand und Schülerin. Hier leistet der Lerngegenstand zweierlei: er hält die Distanz zwischen Lehrerin und Schülerin aufrecht und vermittelt sie zugleich.

Mittwoch, 5. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Hier habe ich wieder ein Problem mit R/Js Umgang mit Begrifflichkeiten. Er unterscheidet nicht zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Wahrhaftigkeit‘. Ich habe den Eindruck, daß sein Wahrheitsbegriff auf subjektive Wahrhaftigkeit hinausläuft, daß er aber dennoch an der Vorstellung von einer Gewißheit, wie sie der Wahrheit entspricht, festhält. Letztlich aber läuft es bei allen Wahrheitsbeteuerungen bloß darauf hinaus, ob jemand im Bewußtsein, die Wahrheit zu sagen, redet oder ob er das, was er für die Wahrheit hält, bewußt verschweigt, verbiegt oder das Gegenteil für wahr erklärt. Mit unbestreitbaren Gewißheiten hat beides nichts zu tun.

Ginge es in diesem Sinne um Wahrheit als einem Grenzbegriff, hätte ich an R/Js Wahrheitsbegriff nichts auszusetzen. Nur müßte man dann aber immer noch zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit unterscheiden. Aber R/J spricht in diesem Zusammenhang auch noch von der „Unmöglichkeit, sich selbst nicht zu kennen“: „Das Individuum kann sich nicht belügen. Es kann sich nur vergessen.“ (Rancière 2007, S.72)

Mit so einer ‚Wahrheit‘ kann ich nun überhaupt nichts anfangen. Ich denke ganz im Gegenteil, daß wir sehr wohl dazu fähig sind, uns selbst zu belügen. Wir atmen und denken eine Lebenswelt, die uns durchdringt wie die Luft, die wir ein- und ausatmen. Die Vernunft – „Wir nehmen an, dass alle wissen, was die Lüge ist. Gerade dadurch haben wir das vernünftige Wesen bestimmt, durch seine Unfähigkeit, sich zu belügen.“ (Rancière 2007, S.114) – besteht nicht darin, zur Lüge nicht fähig zu sein, sondern die Wahrheit zu erkennen, die in der Lüge liegt; und umgekehrt: die Lüge zu erkennen, die in der Wahrheit liegt. Denn das, was R/J Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit nennt, liegt nicht in der gelungenen, vollständigen und unbezweifelbaren Selbsterkenntnis, sondern in der Erfahrung, daß wir gerade was uns selbst betrifft immer wieder in die Irre gehen.

Es gibt also nicht nur eine Gleichheit der Intelligenzen, wie sie sich die vernünftigen Menschen gegenseitig zugestehen und wie sie sie sogar den unvernünftigen Menschen zugestehen, als Möglichkeit, jederzeit auch vernünftig sein zu können, also gesprächsoffen und bereit, auch die andere Intelligenz ihnen gegenüber zu respektieren. Es gibt neben der Gleichheit der Vernunft auch eine Gleichheit der Unvernunft. Erst wenn die vernünftigen Menschen verstehen, daß auch sie unvernünftig sind, kann Ich = Du gelingen.

Das hat etwas damit zu tun, was ich unter dem Wort ‚Seele‘ verstehe, das ich auch bei R/J vorfinde. R/J bezieht das Wort ‚Seele‘ auf die wechselseitige Anerkennung zweier Intelligenzen, die beide bestrebt sind, zu ‚erraten‘, was der/die andere will. (Vgl. Rancière 2007, S.80) Es geht also nicht um ein falsifizierbares Wissen oder um Wahrheit, sondern um ein ‚Raten‘. Allerdings betrifft diese Ungewißheit hinsichtlich dessen, was wir wollen, nicht nur den anderen Menschen mir gegenüber, sondern in einem fundamentalen Sinne mich selbst. Helmuth Plessner beschreibt diese Selbstunsicherheit, die R/J mit „Selbstvergessenheit“ verwechselt (vgl. Rancière 2007, S.72), als ein noli me tangere: wir kennen uns selbst nicht, also wollen wir auch nicht durchschaut werden; denn wer weiß, welche Ungeheuer da sichtbar würden. Die Seele, so Plessner, ist ein „Geschöpf der Nacht“.

An dieser Stelle ist es nun interessant, daß R/J von der „Wahrhaftigkeit“ – kurz davor war noch von der „Wahrheit“ die Rede – als einem „abwesende(n) Zentrum“ spricht: „... sie läßt uns um ihren Mittelpunkt kreisen.“ (Rancière 2007, S.74) Also Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit als Mitte eines Kreises, aber als diese Mitte wiederum abwesend. Das ist ein Bild für den Menschen. R/J bezeichnet den Menschen als eine „Parabel um die Wahrheit herum“. (Vgl. ebenda)

Die Parabel schließt sich aber nicht zu einem Kreis, so daß von einem „Kreisen“ keine Rede sein kann. ‚Ellipse‘ paßt vielleicht besser: als rhetorischer Kunstgriff steht das Wort für eine Auslassung, für etwas, das man sagt, indem man es nicht sagt. Als geometrische Figur haben wir es mit einem deformierten Kreis zu tun, der keinen bestimmten Mittelpunkt hat. Beides würde besser zu der ‚Wahrheit‘ passen, von der R/J hier spricht.

Aber es geht hier nicht um Metaphernkritik. Es geht vielmehr darum, daß wir uns selbst nicht kennen. Und unter dem Gesichtspunkt der Lebenswelt ist es deshalb eben leider doch so, daß sich das „Individuum“ belügen kann. Schon das Eingeständnis, daß es so etwas wie „Selbstvergessenheit“ gibt, zeigt, daß da was nicht stimmen kann mit der vermeintlichen Selbstkenntnis. Folgt man Plessner, haben wir es bei der fehlenden ‚Mitte‘ im Kreis sogar mit einem anthropologischen Faktum zu tun. Deshalb paßt seltsamerweise alles, was R/J über die Wahrheit zu sagen weiß, sehr gut zu dem, was Plessner Seele nennt. Und gleichzeitig widerspricht dem auf paradoxe Weise R/Js Behauptung, wir könnten uns selbst nicht belügen.

Seele bzw. Bewußtsein ist nichts isoliertes für sich selbst. Das Bewußtsein ist immer auch Lebenswelt. Das zu vergessen, ist die eigentliche Selbstvergessenheit.

Dienstag, 4. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

1818, als Joseph Jacotot (1770-1840) an der Universität Löwen französische Literatur lehrte, hatte er ein Problem: weder konnte er niederländisch, noch konnten seine Studenten (damals alle männlich) französisch. Jacotot wagte ein Experiment: Er ließ seine Studenten eine zweisprachige (französisch/niederländisch) Ausgabe des „Les Aventures de Télémaque“ (Telemach) von François Salginac de la Mothe Fénelon lesen. Anschließend sollten seine Studenten einen in französisch verfaßten Aufsatz zu diesem Buch bei ihm abgeben. Sie sollten also durch die Lektüre des Buches französisch lernen.

Jacotot versprach sich nicht viel von dem Ergebnis. Die Studenten waren gleichermaßen Anfänger in der französischen Sprache wie in der französischen Literatur. Um so erstaunter war er über die durchwegs hohe Qualität der Aufsätze, sprachlich wie inhaltlich. Das war für ihn die Initialzündung für eine Unterrichtsform, die er die ‚universelle‘ nannte und die auf der These beruhte, daß ein unwissender Lehrmeister – er selbst konnte kein niederländisch und seinen Studenten deshalb auch inhaltlich nichts beibringen – seinen Studenten und, wie in Jacotos Fall, später seinen Schülerinnen in einem speziell für junge Frauen gegründeten Institut alles beibringen kann. Deshalb auch universeller Unterricht.

Der Inhalt war Nebensache. Das eigentliche Ziel des universellen Unterrichts war die Emanzipation; die Emanzipation des Verstandes bzw. der ‚Intelligenz‘. Niemand sollte sich dem Verstand eines anderen unterordnen müssen. Auch nicht im Unterricht. Gerade da nicht! Denn wo die Autorität des Lehrenden über alles steht, kann sich niemand emanzipieren.

Dabei kann man diese Emanzipation durchaus auch im späteren Sinne als Emanzipation der Frauen verstehen. Denn sie standen geradezu beispielhaft für die angebliche intellektuelle Inferiorität gegenüber den Männern: „Wie nun, wenn man von Emanzipation und Gleichheit der Intelligenzen spricht, wenn man bloß erwähnt, dass Mann und Frau dieselbe Intelligenz hätten! Ein Besucher hatte Jacotot bereits gefragt, ob die Frauen unter solchen Umständen noch hübsch wären!“ (Rancière 2007, S.207)

Der emanzipierende Effekt entsteht einzig aus der Unwissenheit des Lehrmeisters; denn diese nötigt die Schülerinnen und Schüler, sich das angestrebte Wissen selbst anzueignen. In eins damit entsteht bei ihnen ein Selbstbewußtsein, das sie sich künftig jeder Abwertung ihrer Intelligenz verweigern läßt. Und nicht nur ihrer eigenen. Denn die Intelligenz verwirklicht sich durch Mitteilung. Sie ist geradezu identisch mit der „Rede“, denn sie basiert auf der Fähigkeit, die eigene Intelligenz in der Intelligenz des anderen Menschen zu spiegeln, also mit jemand zu reden: Der emanzipierte Mensch „ist ein Liebhaber der Rede, wie der schlaue Sokrates und der naive Phaidros. Aber im Gegensatz zu den Protagonisten von Platon kennt er keine Hierarchie unter den Rednern, noch unter den Reden. Im Gegenteil, was ihn interessiert, ist, ihre Gleichheit zu suchen. Er erwartet() sich von keiner Rede die Wahrheit.“ (Rancière 2007, S.158)

Was sich der emanzipierte Mensch von der Rede erwartet, ist die „Anerkennung des anderen als intellektuelles Subjekt, das fähig ist zu verstehen, was ein intellektuelles Subjekt ihm sagen will“. (Vgl. ebenda) – Das ist der Begriff der „Zweiheit“ (vgl. Rancière 2007, S.45): erst wo zwei Intelligenzen kommunizieren, verwirklicht sich Intelligenz.

Dazu an anderer Stelle mehr. An dieser Stelle geht es mir vor allem darum, wie der unwissende Lehrmeister bewerten kann – R/J spricht nicht von ‚bewerten‘, sondern von verifizieren –, daß sein Schüler, seine Schülerin, tatsächlich etwas lernt? Wenn es auf den Inhalt nicht ankommt, kann der Inhalt auch nicht bewertet werden. R/J löst diese Aporie auf, indem er an die Stelle des Inhaltes die Aufmerksamkeit setzt. Der unwissende Lehrmeister kontrolliert bzw. verifiziert nur, ob sich seine Schüler aufmerksam mit ihrem Gegenstand beschäftigen. R/J hält sich immer wieder an das Beispiel ‚Telemach‘. Der unwissende Lehrmeister, beispielsweise ein Vater, der selbst kein Französisch kann, befragt seine Tochter, was ein bestimmtes Wort im Buch bedeutet, und er wiederholt das mit anderen Wörtern aus dem Buch, bis er auf schon einmal gefragte Wörter an anderen Stellen des Buches zurückkommt. So kann er feststellen, ob seine Tochter bloß willkürliche, beliebige Bedeutungen daherplappert, oder ob sie wirklich aufmerksam gelesen hat.

Mehr ist nicht nötig. Alles andere ist der Tochter überlassen. Der Vater hat keinen Grund an ihrer Intelligenz zu zweifeln. Er hat ihre Aufmerksamkeit ‚verifiziert‘. Und obwohl R/J immer wieder auf den Telemach verweist, gilt, daß jeder andere Lerngegenstand auf die gleiche Weise gelernt werden kann, gleichviel ob es um Handwerk, Wissenschaft oder Hauswirtschaft geht: in allen Tätigkeiten steckt die gleiche Intelligenz. Man könnte also auch sagen, daß der universelle Unterricht darin besteht, die Menschen zu Autodidaktikern zu machen. Was sie, wie R/J hervorhebt, auch von Geburt an sind. Denn niemand hat ihnen beigebracht, ihre Muttersprache zu sprechen. Sie müssen also lediglich aus der gesellschaftlichen Erniedrigung, in der man sie festhalten will, befreit (emanzipiert) werden.

Inwiefern unterscheidet sich aber die Aufmerksamkeit von der Intelligenz? Oder die Intelligenz vom Willen, von dem später noch die Rede sein wird? – Gar nicht. R/J unterscheidet nicht zwischen verschiedenen geistigen Vermögen, wie es Kant (1724-1804), ein Vorgänger Jacotots, tat: „Es gibt einen Willen, der befiehlt, und eine Intelligenz, die gehorcht. Nennen wir Aufmerksamkeit den Akt, der diese Intelligenz unter dem absoluten Zwang des Willens schreiten lässt. Dieser Akt ist stets derselbe ...“ (Rancière 2007, S.37)

Wir haben also zwar verschiedene Wörter, aber der Bewußtseinsakt ist immer derselbe. Es ist alles Intentionalität, wiederum ein anderes Wort für Aufmerksamkeit, die sich nicht in verschiedene geistige Vermögen aufteilen läßt: „Die Fähigkeit (Intelligenz – DZ) lässt sich nicht teilen. Es gibt nur eine Kraft, diejenige, zu sehen und zu sagen, aufmerksam zu sein darauf, was man sieht und was man sagt.“ (Rancière 2007, S.38)

Speziell für diesen Aspekt unseres Bewußtseins gibt es wiederum ein Wort: Apperzeption. Kant zufolge handelt es sich um unsere Fähigkeit, alle unsere Wahrnehmungen mit einem Denken zu begleiten. Schlichter formuliert: aufmerksam sein darauf, was man sieht und was man sagt. – Es ist dieses Grundmerkmal der menschlichen Intelligenz, das R/J im universellen Unterricht verifiziert wissen will. Wenn wir aufmerksam sind, kann uns jeder Gegenstand, mit dem wir uns befassen, emanzipieren: „Deshalb wird der unwissende Lehrmeister bei Gelegenheit seine Kompetenz dahin erweitern, nicht das Wissen des kleinen Herrn zu verifizieren, sondern die Aufmerksamkeit, die er dafür aufbringt, was er sagt und tut.“ (Rancière 2007, S.46)

Der ganze Zweck der Lehrtätigkeit besteht also in einer Apperzeption, in der „unbedingte(n) Aufmerksamkeit auf seine (des Schülers/der Schülerin – DZ) intellektuellen Tätigkeiten“. (Rancière 2007, S.50)

Das erinnert mich an Johann Friedrich Herbart (1776-1841), ein Zeitgenosse Jacotots, der postulierte, daß die Hauptaufgabe des Lehrers darin besteht, bei seinen Schülern Interesse zu wecken. Ist das Interesse einmal geweckt, ist das ungeteilte Bewußtsein, die ungeteilte Intelligenz, als Dienerin des Willens, immer schon dabei. Schülerinnen und Schüler sind aufmerksam bei der Sache, und es gibt keinen Rangunterschied zwischen ihnen und auch keine Verschiedenheit zwischen den geistigen Vermögen.

Montag, 3. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

Schon vor 12 oder 15 Jahren – auf jeden Fall bevor ich meinen Blog begann –, als ich zum ersten Mal „Der unwissende Lehrmeister“ von Jacques Rancière gelesen hatte, hatte ich schon Schwierigkeiten mit dem Text gehabt. Rancière macht sich keine große Mühe, die Begriffe sauber auseinanderzuhalten und belegt z.B. einen zentralen Begriff wie den der „Zweiheit“ (vgl. u.a. Rancière 2007, S.45) mit gegensätzlichen Bedeutungen. Rancière versteht unter diesem Begriff zwei verschiedene Intelligenzen, einmal in dem Sinne, wie ich in meinem Blog vom Ich = Du bzw. von der „Dualität“ oder der „Zweitpersonalität“ spreche: jeder Mensch, so Rancière, hat die gleiche Intelligenz wie jeder andere Mensch und interessiert sich für die Intelligenz seines Mitmenschen; also Ich = Du.

Dann aber spricht Rancière von der irrigen Annahme, daß die Intelligenz der Menschen unterschiedlich sei – wie es z.B. im IQ zum Ausdruck kommt –, und er spricht von einer zweigeteilten Intelligenz: einer höheren und einer niedrigeren, was er als „Dualität“ und als „Prinzip der Verdummung“ bezeichnet. (Vgl. Rancière 2007, S.18 und S.17) Die Verwendung des Begriffs „Dualität“ für einen hierarchisierten Intelligenzbegriff hatte mich beim erstmaligen Lesen ziemlich verwirrt.

Außerdem ist es schwierig, im Text zwischen dem Autor Rancière und seinem Protagonisten Joseph Jacotot (1770-1840), dem „Gründer“ des universellen Unterrichts, zu unterscheiden. Rancière referiert nicht über Jacotot, sondern er erzählt ihn nach, als wäre er Jacotot selbst. Die eingestreuten Zitate sind vom Text des Autors kaum zu unterscheiden, weil man im Leseeifer leicht über die Anführungszeichen hinwegliest, während sich der Text im Zitat nahtlos, ohne Unterbrechung, fortzusetzen scheint. Oft entdeckte ich das Endzeichen, wenn ich das Zitat gelesen hatte, und suchte dann mühsam das Anführungszeichen, um zu erkennen, an welcher Stelle der Text des Autors eigentlich geendet hatte. Deshalb werde ich im Folgenden nicht zwischen Rancière und Jacotot unterscheiden, sondern nur summarisch von R/J reden.

Was mich vor allem bei der aktuellen, zweiten Lektüre irritiert hat, ist der Untertitel: „Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation“. Das paßt so gar nicht zum Inhalt des Buches. Lektionen sind auch in Frankreich, glaube ich, eine Form der Unterweisung und implizieren ein hierarchisches Autoritätsgefälle zwischen dem Lehrmeister und seinen Schülern. Ein unwissender Lehrmeister unterweist deshalb nicht, weil es bei ihm dieses hierarchische Gefälle nicht gibt. Es gibt nichts, was er seinen Schülerinnen und Schülern beibringen könnte; denn dann wäre er nicht unwissend, und als Wissender könnte er niemanden emanzipieren. Jedenfalls bildet das eine Grundbotschaft von R/J. Vor allem aber ist der ‚Unterricht‘, den R/J als universellen Unterricht bezeichnet, keine Methode. Jacotot selbst hatte Wert darauf gelegt, daß es keine „Methode Jacotot“ gebe. (Vgl. Rancière2007, S.145)

Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Die ‚Methode‘ des universellen Unterrichts steht in keinem Konkurrenzverhältnis zu anderen Lehrmethoden. (Vgl. Rancière 2007, S.120ff., 133ff., 152ff. und 157ff.) Wenn es also schon zweifelhaft ist, ob der universelle Unterricht überhaupt eine Methode ist, wie kann es dann fünf Lektionen über den universellen Unterricht geben?

Der Untertitel paßt also nicht zum Buch. Allerdings erklärt dieser Untertitel den seltsamen Stil des Buches, in dem es geschrieben worden ist. Es ist ein polemischer und ironischer Stil; und vielleicht ist der Untertitel ja selbst ironisch gemeint. Aber es ist auch ein dogmatischer Stil. Rancière macht die ‚Lehre‘ des Jacotot nicht an ihrer Praxis fest, sondern an seinem Namen. In wiederum ironischer, an die angeblichen Nachfolger Jacotots gerichteter Rede heißt es: „... es ist dieser Eigenname, der alleine den Unterschied macht, der die ‚Gleichheit der Intelligenz‘ verkündet und den Abgrund unter den Schritten aller Ausbilder und Beglücker des Volkes sich auftun lässt. Es ist wichtig, dass dieser Name verschwiegen wird, dass die Verkündigung durchkommt.“ (Rancière 2007, S.151)

Die Ironie des letzten Satzes ist beim ersten Lesen verwirrend. Tatsächlich ist nämlich das Gegenteil gemeint. Denn es sind die angeblichen Nachfolger Jacotots, die meinen, daß der Name Jacotots für die Sache, um die es geht, bedeutungslos sei und deshalb nicht genannt zu werden braucht. (Vgl. Rancière 2007, S.145) – In dieser ironischen Formulierung wird Jacotot also zu einer geradezu messianischen Autorität überhöht, was das krasse Gegenteil der intellektuellen Emanzipation ist, die das einzige Ziel des universellen Unterrichts ist. ‚Übersetzt‘ man – und Übersetzen bildet geradezu die Grundform der intellektuellen Emanzipation – diese Ironie in eine einfache Aussage, richtet sich der an die Nachfolger gerichtete Vorwurf an den Autor selbst.

Erst an späterer Stelle, wo Rancière den „Namen Jacotot“ zum Kampfbegriff gegen die ‚Nachfolger‘ macht, wird diese Ironie vollends aufgedeckt. (Vgl. Rancière 2007, S.157)

Trotzdem haben mich schon bei meiner ersten Lektüre einzelne Stellen so beeindruckt, daß ich einige zentrale Aussagen wie die vom Menschen, der ein Wille ist, dem eine Intelligenz dient (vgl. Rancière 2007, S.66), für mein eigenes Denken übernommen habe. In meinem letzten Blogpost vor zweieinhalb Jahren, mit dem ich vermeintlich meinen Blog beendete, um ihn dann aber doch, in anderer Form, weiterzuführen, habe ich mich von dem wissenschaftlichen Anspruch, mit dem ich ihn bis dahin betrieben hatte, verabschiedet. Orientiert an der Unwissenheit Jacotots hielt ich fest, daß es „bei allem Denken und Schreiben nicht auf die Resultate ankommt, nicht auf die geistigen Höhenflüge und Abstraktionen“. „Intellektuelle Demut“ schien mir deshalb angebracht zu sein. Der wissenschaftliche Anspruch aber, vor allem in Form der wissenschaftlichen Lehre, ist keineswegs demütig. R/J jedenfalls läßt nur die wissenschaftliche Forschung als eine Form intellektueller Emanzipation gelten.

Ich muß allerdings einschränkend hinzufügen, daß es durchaus eine wissenschaftliche Lehre gibt, wie sie Wilhelm von Humboldt konzipiert hat, die sich an die Studierenden als Gleiche im Sinne des universellen Unterrichts richtet. In dieser Lehre erhebt die Professorin, der Professor, gar nicht den Anspruch, ‚intelligenter‘ zu sein als die Studierenden. Beide erproben vielmehr gegenseitig ihr vermeintliches Wissen. Hier muß niemand mehr emanzipiert werden. – So viel Differenzierung muß trotz aller Kritik möglich sein.

Zu einer systematischen Lektüre des Buches hatte es jedenfalls bis dahin bei mir aus den genannten Gründen nicht gereicht. Das will ich jetzt nachholen.