„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 5. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Den Begriff „Expressivität“ verwendet Judith Butler in dem Sinne, wie Molekularbiologen von „Genexpression“ sprechen: als ursächliche Verbindung von biologischen Anlagen und Persönlichkeitsentwicklung. So heißt es z.B. über die Geschlechtsidentität (Gender):
„Die heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘, die als expressive Attribute des biologischen ‚Männchens‘ (male) und ‚Weibchens‘ (female) verstanden werden.“ (Butler 1991, S.38)
Dabei gibt es bei Butlers kategoralen Bestimmungsversuchen eines Kollektivsubjekts „Frau(en)“ durchaus Parallelen zu Plessners Version von Expressivität als der Differenz zwischen Sagen und Meinen:
„Es wäre falsch, von vornherein anzunehmen, daß es eine Kategorie ‚Frau(en)‘ gibt, die einfach mit verschiedenen Bestandteilen wie Bestimmungen der Rasse, Klasse, Alter, Ethnie und Sexualität gefüllt werden muß, um vervollständigt zu werden. Wenn man dagegen die wesentliche Unvollständigkeit dieser Kategorie voraussetzt, kann sie als stets offener Schauplatz umkämpfter Bedeutungen dienen. Die definitorische Unvollständigkeit der Kategorie könnte dann als normatives Ideal dienen, das von jeder zwanghaften Einschränkung befreit ist.“ (Butler 1991, S.35)
Diese definitorische Unvollständigkeit überträgt Butler dann in ihrem Buch „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (2009) auch auf die „Kategorie des Menschlichen“:
„... die Geschichte der Kategorie ist nicht abgeschlossen, und das ‚Menschliche‘ ist nicht ein für alle Mal erfasst.“ (Butler 2009, S.28)
Diese definitorische Unvollständigkeit der Kategorien „Frau(en)“ und des „Menschlichen“ steht für Plessners Differenz zwischen Sagen und Meinen: wenn wir vom Menschen reden, meinen wir stets mehr, als wir sagen. Humanität beinhaltet eine Perspektive auf eine offene, unabschließbare Zukunft.

An die Stelle des Begriffs „Expressivität“, auf den Judith Butler verzichtet, treten Begriffe wie „Repräsentativität“ und „Performativität“. Mit beiden Begriffen sind nicht Einzelsubjekte gemeint, sondern Kollektivsubjekte, die politische Forderungen stellen und auf der gesellschaftlichen Bühne agieren. Von diesen beiden Begriffen interessiert mich vor allem der Begriff der „Performativität“. Damit ist gemeint, daß Geschlechtsidentitäten Inszenierungen bilden, die durch rituelle Wiederholung Normativität erlangen:
„In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht. Die Forderung, die Kategorie der Geschlechtsidentität außerhalb der Metaphysik der Substanz neu zu überdenken, muß auch die Tragweite von Nietzsches These in Betracht ziehen, daß es kein Seiendes hinter dem Tun gibt, daß die ‚Täter‘ also bloß eine Fiktion (sind), die Tat dagegen alles ist.“ (Butler 1991, S.49)
Butlers Konzeption der Performativität entspricht der Plessnerschen Vorstellung von der Gesellschaft als Bühne. (Vgl. Helmuth Plessner: „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924)) Beide beschreiben die gesellschaftliche Praxis als eine Maskerade, und bei beiden hat diese Maskerade ein subversives bzw. emanzipatorisches Potential. Allerdings geht Butler beim Träger dieser subversiven Praxis von einem Kollektivsubjekt aus, das sich aus den verschiedenen Milieus von Schwulen, Lesben und anderen sexuell und anderweitig diskriminierten Gruppen hinsichtlich Rasse, Klasse und Ethnie zusammensetzt. (Vgl.u.a. Butler 1991, S.35)

Indem die diskriminierten Milieus mit den Geschlechtsnormen der zwangsheterosexuellen Gesellschaft spielen, unterminieren sie deren starre Struktur und entlarven sie als arbiträren Effekt:
„Die Möglichkeiten zur Veränderung der Geschlechtsidentität sind gerade in dieser arbiträren Beziehung zwischen den Akten zu sehen, d.h. in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De-Formation oder parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt.“ (Butler 1991, S.207)
Dabei ist es weniger das einzelne Individuum, das sich hinter diesen Masken verbirgt – „Täter“ sind eine bloße „Fiktion“ (vgl. Butler 1991, S.49) –, als vielmehr die „parodistische Vervielfältigung“ und das „subversive() Spiel der kulturell erzeugten Bedeutung“, von denen die befreiende Wirkung ausgeht und die die Partizipationsmöglichkeiten am „Feld der Macht“ erweitern. (Vgl. Butler 1991, S.190)

Bei Plessner hingegen ist es das Individuum, das sich emanzipiert, weil es auf der gesellschaftlichen Bühne Rollen spielen und Masken tragen kann, die es vor dem totalisierenden Zugriff der Gesellschaft schützen. Zugleich kann es sich in diesem Rollenspiel ausprobieren und sein individuelles Potential entwickeln und entfalten. Für diese Sichtweise auf das gesellschaftliche Rollenspiel ist aber die Differenz zwischen Sagen und Meinen unerläßlich. Denn sie schützt die Seele als „noli me tangere“ vor dem kalten Licht der Öffentlichkeit. Das Individuum spielt seine gesellschaftlichen Rollen, ohne sich mit ihnen identifizieren zu müssen.

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Sonntag, 4. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Die Kategorie „Frau(en)“ wie auch die „Kategorie des Menschlichen“ sind in Judith Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) beide durch Abwesenheit gekennzeichnet. Wobei sie auf verschiedene Weise ‚abwesend‘ sind, denn für die Kategorie des Menschlichen muß ich mich auf Butlers Buch „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (2009/2004, S.28) beziehen. In „Das Unbehagen der Geschlechter“ kommt sie schlicht nicht vor.

Die Kategorie „Frau(en)“ hingegen ist selbst auch auf verschiedene Weise abwesend; ihre Abwesenheit ist aber explizites Thema. Zum einen ist sie bei Lévi-Strauss abwesend, weil sie zwar als „Braut“ vorkommt, aber nur als Tauschobjekt. (Vgl. Butler 1991, S.69) Als solches wird sie von ihrer Herkunftssippe zur Sippe ihres künftigen Mannes weitergereicht. Bis in unsere heutige Zeit ist es üblich, daß Frauen deshalb auch den Namen ihrer Männer annehmen müssen, wodurch sie als Individuen unsichtbar gemacht werden.

Eine weitere Form ihrer Abwesenheit ist sprachlicher Natur. Luce Irigaray verweist auf den „Phallogozentrismus“ der französischen, englischen und deutschen Sprachen, in denen die Frau als Substantiv – grammatisches Substitut für ‚Substanz‘ – nicht vorkommt. ‚Phallogozentrismus‘ setzt sich zusammen aus Phallus und Logos. Die Sprache setzt Menschsein mit Mannsein gleich, was impliziert, daß die Frau durch die Sprache nicht ‚repräsentiert‘ wird:
„In einer durchgängig maskulinen, phallogozentrischen Sprache stellen sie (die Frauen – DZ) das Nichtrepräsentierbare dar. Anders formuliert: Sie repräsentieren das Geschlecht, das nicht gedacht werden kann – eine sprachliche Abwesenheit oder einen dunklen Fleck in der Sprache.“ (Butler 1991, S.28)
Eine dritte Form der Abwesenheit besteht in der Gleichsetzung des Weiblichen mit Körper bzw. Körperlichkeit. Das männliche Subjekt ist abstrakt und universell, das Weibliche ist partikular und körperlich:
„Dieses (männliche – DZ) Subjekt ist insofern abstrakt, als es seine gesellschaftlich markierte Leiblichkeit verleugnet und weiterhin diese verleugnete und verworfene Leiblichkeit in das weibliche Subjekt projiziert, indem es den Körper gleichsam zu etwas Weiblichem umtauft.“ (Butler 1991, S.30)
Nun bildet aber das Körperliche Butler zufolge eine leere Hülle (Oberfläche) und wird nur zum Zwecke der Stabilisierung der zwangsheterosexuellen Matrix mit einer Seele begabt, die Butler als „machtvolle Unsichtbarkeit“ bezeichnet, die den Körper in ein „vitales, heiliges, eingezäuntes Gebiet“ verwandelt:
„Die Seele ist gerade das, was dem Körper fehlt; d.h., der Körper präsentiert sich selbst als ein Bedeutungs-Mangel (signifying lack): Dieser Mangel, der der Körper ist, bezeichnet die Seele als das, was nicht erscheinen kann.“ (Butler 1991, S.199)
Auch hier wird also das Weibliche bzw. die Frau via Körper/Körperlichkeit mit einer Kategorie verglichen, die durch einen Mangel, eine Abwesenheit gekennzeichnet ist und gerade dadurch die heterosexuellen Machtstrukturen stabilisiert.

Vom Menschlichen ist, wie gesagt, nicht die Rede und vom Humanismus nur als etwas, das als vergangen und abschaffenswert gilt. Anders als Monique Wittig geht Butler davon aus, „daß es keinen ‚Täter hinter der Tat gibt‘“. (Vgl. Butler 1991, S.49f. und S.209) Nun ist es aber interessant, daß Butler in ihrem schon erwähnten Buch über die „Macht der Geschlechternormen“ (2009) die „Kategorie des Menschlichen“ für überdenkenswert hält, wenn auch nicht ohne den Zusatz, daß es „keine Rückkehr zum Humanismus“ geben könne bzw. dürfe. (Vgl. Butler 2009, S.27f.) Immerhin gesteht sie ein, daß es „schwer, wenn nicht gar unmöglich“ sei, die Freiheit und Unversehrtheit sexuell divergenter Menschen zu fordern, „ohne sich dabei auf die Autonomie zu berufen, insbesondere auf einen Sinn von körperlicher Autonomie“. (Vgl. Butler 2009, S.40) – Mit diesem Eingeständnis steht Butler im Zentrum eines Humanismusses, den sie zugleich hartnäckig zu leugnen versucht.

Insgesamt wird in diesem Buch ein neuer Ton hörbar, der in „Das Unbehagen der Geschlechter“ völlig fehlt. So spricht Judith Butler von der fundamentalen Bedeutung der „Trauer“, als einem Gefühl, das unsere Beziehung zu Menschen betrifft, die von uns gegangen sind und die wir schmerzlich vermissen. (Vgl. Butler 2009, S.36ff.) Butler versucht, die politische Dimension dieses Trauergefühls zu erschließen, stößt dabei aber auf das Problem, daß der Mensch, den wir vermissen, nur im Singular vorkommt und außerhalb der Gemeinschaft steht. Butler versucht deshalb eine andere Form der Gemeinschaft zu denken, eine Gemeinschaft, die nicht inklusiv ist:
„Ich denke, wenn ich immer noch zu einem ‚wir‘ sprechen kann, in das ich mich selbst einschließen kann, spreche ich zu denjenigen unter uns, die in bestimmten Hinsichten außer sich leben, sei es in sexueller Leidenschaft, emotionaler Trauer oder politischem Zorn. In einem gewissen Sinne besteht die Schwierigkeit darin, zu verstehen, welche Art von Gemeinschaft diejenigen bilden, die außer sich sind.“ (Butler 2009, S.39)
Was bedeutet es, Menschen einzuschließen, die „außer sich“ sind? Ist das ein Paradox oder eine Aporie? Ich habe den Eindruck, daß es Butler hier gar nicht um Gemeinschaftbildung geht, schon gar nicht um politische Gemeinschaftsbildung, sondern um Zweitpersonalität, also um die Beziehung zwischen Ich und Du. So formuliert sie z.B. das Begehren nicht mehr im „Feld der Macht“, sondern als Ohnmacht dem anderen Menschen gegenüber:
„Man bleibt nicht immer intakt. Vielleicht will man das oder bleibt es, aber es kann auch so sein, dass man trotz aller Anstrengungen aufgelöst wird, beim Anblick des Anderen, durch die Berührung, den Duft, das Gefühl, durch die Aussicht auf Berührung, durch die Erinnerung an das Verspürte.“ (Butler 2009, S.38)
An dieser Stelle wird es, wie ich finde, doch recht offensichtlich, daß es hier nicht mehr um ein Kollektivsubjekt geht, sondern um den einzelnen Menschen, dem wir begegnen; und daß es hier um eine Begegnung geht, die wir nicht mehr politisch instrumentalisieren können, um die Partizipation am „Feld der Macht“ zu erweitern. In ihrer Kritik an Monique Wittigs Humanismus (vgl. Butler 1991, S.50) übersieht Butler, daß Wittigs Versuch, über den sprachlichen Universalismus „jeder Person dieselbe Möglichkeit“ zu gewährleisten, „ihre Subjektivität zu begründen“ (vgl. Butler 1991, S.173), letztlich genau auf diese zweitpersonale Ebene des wechselseitigen Austausches zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘ abzielt. Meiner Überzeugung nach begründet sich der Begriff der „Menschheit“ nicht etwa in einem möglichst inklusiven Kollektivsubjekt, also in einem möglichst umfassenden Gruppen-Wir, sondern in der Begegnung zwischen Ich und Du. Die zweitpersonale Ebene grenzt niemanden aus.

Dieser zweitpersonale Universalismus beruht auf einem transzendentalen Moment: alle Menschen nehmen, wenn sie ‚Ich‘ sagen, für sich in Anspruch, einzigartig zu sein, und akzeptieren gleichzeitig, daß auch alle anderen Menschen ‚Ich‘ sagen können. Auf dieser Voraussetzung beruht die Möglichkeit, ‚Du‘ zu sagen. Denn nur jemand, der ‚Ich‘ sagen kann, kann gleichzeitig für einen anderen Menschen ‚Du‘ sein. Ich kann nur Ich sein, wenn ich zugleich Du bin. Du kannst nur Du sein, wenn du zugleich Ich bist.

Deshalb sprengt die Zweitpersonalität auch den strukturalen Totalitarismus: die Zweitpersonalität ist nicht binär! Du ist nicht Nicht-Ich, und Ich ist nicht Nicht-Du. Wir haben es hier weder mit einem Algorithmus noch mit Macht zu tun. Der zweitpersonale Humanismus ist nicht die Vergangenheit, sondern unsere Zukunft.

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Samstag, 3. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Judith Butlers eigener Totalitarismus, der den zwangsheterosexuellen Totalitarismus wiederholt, besteht darin, alle Lebensäußerungen als machtförmig zu beschreiben; sogar auch ihre eigene genealogische Methodik als Infragestellung der Legitimationsstrategien der Macht. (Vgl. Butler 1991, S.20f.) Parodistische Widerstandsformen spielen mit denselben normativen Versatzstücken, die sie der zwangsheterosexuellen Matrix entnehmen, und delegitimieren sie auf diese Weise. Damit erweitern sie die Repräsentation, als „Feld der Macht“, im Dienste eines problematischen „höchsten Kandidaten der Repräsentation“, von dem auch im Falle des Kollektivsubjekts „Frau(en)“ fraglich bleibt „was denn die Kategorie ‚Frau(en)‘ konstituiert oder konstituieren sollte“. (Vgl. Butler 1991, S.16) Individuelle Subjekte, deren subjektives Begehren außerhalb politischer Strategien zur Erweiterung politischer Partizipation steht, sind nicht vorgesehen.

Der Körper kommt bei Butler nur als „Komplex individueller und gesellschaftlicher Schranken“ vor, „der politisch bezeichnet und aufrechterhalten wird“. (Vgl. Butler 1991, S.61) Damit richtet sie sich ideologiekritisch gegen die Vorstellung von „Anlagen“ als „innere Wahrheit“. (Vgl. ebenda) Außerdem verweist Butler auf die Sozialanthropologin Mary Douglas, die den Körper als „Modell, das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann“, bezeichnet. (Vgl. Butler 1991, S.195) Dieser Modellcharakter wird nicht im Sinne einer Stoffwechselmetapher verwendet, wie bei Plessner, der von diesem physiologischen Modell die exzentrische Position des menschlichen Subjekts zwischen Innen und Außen ableitet. Statt um Stoffwechsel geht es hier um Immunologie, also um Eingrenzung und Ausgrenzung:
„Wenn der Körper als Synekdoche für das Gesellschaftssystem per se oder als Schauplatz, an dem sich offene Systeme überschneiden, gelesen werden kann, stellt jede Art von unregulierter Durchlässigkeit einen Ort der Verunreinigung und Gefährdung dar.“ (Butler 1991, S.195)
Vom Körper zu reden ist also immer verdächtig: entweder versuchen Agenten der Zwangsheterosexualität, mit seiner Hilfe innere Wahrheiten zu postulieren, oder er dient als Modell repressiver Exklusionen. Damit ist auch jede Differenzierung zwischen Innen und Außen ideologieverdächtig.

Butler beschreibt die Vorstellung eines körperlichen „Innenraums“ als eine rein räumliche Phantasie, als einen Ort, in den ‚Objekte‘ „hineingenommen“ und wo sie „aufbewahrt“ werden können. Sie glaubt, daß hier lediglich Oberflächenbezeichnungen, wie z.B. Geschlechtsmerkmale, ‚einverleibt‘ werden, also Merkmale, die sich auf dem Körper befinden und nicht in ihm. (Vgl. Butler 1991, S.107) Wir haben es mit einer Einverleibung zu tun, bei der es sich eigentlich um eine „Einschreibung“ handelt, nämlich in der Art einer Tätowierung auf dem Körper. (Vgl. Butler 1991, S.199)

Expressivität kann es deshalb für Butler nicht geben. Die Vorstellung von Expressivität liegt unter Ideologieverdacht, weil sie Butler zufolge versucht, ursächliche Verbindungslinien „zwischen dem biologischen Geschlecht“ und „den kulturell konstituierten Geschlechtsidentitäten“ zu ziehen, die angeblich im sexuellen Begehren zum „Ausdruck“ bzw. zur „Darstellung“ kommen. (Vgl. Butler 1991, S.38)

Das hat Konsequenzen für das, was Butler als „Seele“ bezeichnet:
„Die Figur der inneren Seele, die ‚innerhalb‘ des Körpers liegen soll, wird also gerade durch ihre Einschreibung auf dem Körper bezeichnet, auch wenn ihre primäre Bezeichnungsweise umgekehrt über ihre Abwesenheit, ihre machtvolle Unsichtbarkeit verläuft.“ (Butler 1991, S.199)
Wir haben es bei der Seele im Butlerschen Sinne mit einer seltsamen „Figur“ zu tun, die einerseits sehr an Plessners Seele als „noli me tangere“ erinnert, aber andererseits ohne die Differenz von Innen und Außen auszukommen versucht, also in der strukturalistischen Denkweise verbleibt, die sich auf Sprache und Schrift beschränkt. Ähnlich wie Plessners Seele ist die Seele bei Butler gleichzeitig abwesend und präsent, als Schrift bzw. als Einschreibung, ohne daß aber in dieser Schrift irgendetwas zum „Ausdruck“ käme. Wir haben es also bei der Butlerschen Seele mit einer bloßen kulturellen Inszenierung zu tun, und die Seele verweist vor allem auf einen Mangel, einen „Bedeutungs-Mangel“:
„Dieser Mangel, der der Körper ist, bezeichnet die Seele als das, was nicht erscheinen kann. In diesem Sinne ist die Seele eine Oberflächenbezeichnung, die die Innen/Außen-Unterscheidung selbst anficht und verschiebt, eine Figur des psychischen Innenraums, die als ständig verleugnende Bezeichnung auf den Körper eingeschrieben ist.“ (Butler 1991, S.199)
Letztlich ist der eigentliche Grund für diesen Bedeutungsmangel ein Verbot, was zum psychoanalytischen Diskurs paßt, der Butlers Argumentation zugrundeliegt. Denn letztlich ist die Seele nicht einfach das, wie es im letzten Zitat heißt, „was nicht erscheinen kann“, sondern was nicht erscheinen darf. Das Verbot richtet sich auf den Menschen, der das begehrende Subjekt ist bzw. sein will. Es darf ihn schlicht nicht geben, weil auch er unter Ideologieverdacht steht. Die Praxis des Begehrens bleibt leer.

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Freitag, 2. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)

1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Ich vertrete in meinem Blog den anthropologischen Grundsatz, daß drei Entwicklungsebenen zusammenkommen müssen, um einen Menschen zu ergeben: die biologische, die kulturelle und die individuelle Entwicklungsebene. Zwischen der biologischen und der kulturellen Entwicklungsebene gibt es eine fundamentale Diskontinuität: die biologische Entwicklungsebene bildet eine Stammesgeschichte, die zwischen den verschiedenen biologischen Gattungen eine genetische Verwandtschaft begründet. Es gibt keine Monstren in der Biologie. Die kulturelle Entwicklungsebene hingegen ist katastrophenanfällig. Kulturelle Traditionen brechen abrupt ab, neue Traditionen entstehen, ohne daß irgendeine das Überleben sicherstellende Rationalität erkennbar wäre. Die individuelle Entwicklungsebene bildet das Schlachtfeld, auf dem die gegensätzlichen biologischen und kulturellen Tendenzen um die Dominanz kämpfen, und sie versucht, den Zufällen der Stammes- und Kulturgeschichte einen individuellen Sinn zu geben.

Judit Butler eröffnet gleich auf der ersten Seite des ersten Kapitels fünf verschiedene thematische Ebenen. In der Überschrift ist von „Geschlecht/Geschlechtsidentität/Begehren“ die Rede und weiter unten im Text auf derselben Seite von den „feministischen Interessen und Zielsetzungen in der Welt des Diskurses“ und von einem Kollektivsubjekt, „dessen politische Repräsentation angestrebt wird“. (Vgl. Butler 1991, S.15) Diese fünf Ebenen lassen sich der Reihe nach in folgenden Stichworten auf den Punkt bringen:
  • Biologie (Geschlecht)
  • Kultur (Geschlechtsidentität bzw. Gender)
  • Individualität (Begehren)
  • Kultur (Diskurse)
  • Kultur (Macht/Politik)
Im Vergleich meiner drei Entwicklungsebenen mit Butlers fünf thematischen Ebenen kommt die Biologie bei ihr einmal vor, als anatomisches Geschlecht, die Kultur dreimal, als Geschlechtsidentität, gesellschaftlicher Diskurs und als Frage der politischen Repräsentation; und das Begehren bildet als Modus der menschlichen Intentionalität ein Moment des individuellen Bewußtseins. Aber diese scheinbare thematische Vielfalt schrumpft im Verlauf der folgenden Diskussion auf lediglich eine einzige Ebene: die des gesellschaftlichen Diskurses als Macht und als Wissen. Das anatomische Geschlecht wird für die Geschlechtsidentität und für das Begehren als irrelevant dargestellt, weil es im epistemischen und deshalb auch politischen Diskurs unvermeidlich verzerrt wiedergegeben (und wiederholt) wird:
„Die Mechanismen aufzuweisen, durch die das anatomische Geschlecht (sex) in die Geschlechtsidentität (gender) verwandelt wird, bedeutet nicht nur, die Konstruiertheit der Geschlechtsidentität, ihren nicht-natürlichen, nicht-notwendigen Status darzulegen, sondern auch die kulturelle Universalität der Unterdrückung in nicht-biologischen Termini zu behaupten.“ (Butler 1991, S.67)
Es gibt also keinen unmittelbaren Zugang zum anatomischen Geschlecht; auch nicht über die Wissenschaft. Und das Begehren ist Butler zufolge nicht expressiv, also kein Ausdruck seelischer Not, sondern gebunden an Effekte öffentlicher Inszenierungen. Wenn bei Butler von Expressivität die Rede ist, dann nur in dem Sinne, daß in den Geschlechtsmerkmalen irgendeine verborgene Identität oder Substanz zum Ausdruck kommen könnte. Butler sieht darin eine politische Strategie des zwangsheterosexuellen Diskurses:
„Die heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ‚weiblich‘ und ‚männlich‘, die als expressive Attribute des biologischen ‚Männchens‘ (male) und ‚Weibchens‘ (female) verstanden werden.“ (Butler 1991, S.38)
Es gibt also kein individuelles Begehren und somit auch keine Individualität. Übrig bleiben von den fünf Ebenen nur drei; bzw. in meiner Terminologie verbleibt nur eine einzige Entwicklungsebene: die kulturelle.

Die Reduktion der drei Entwicklungsebenen auf eine einzige Ebene ist nach meiner Auffassung der Fragestellung geschuldet, an der sich Butler orientiert:
„Wenn ‚Identität‘ ein Effekt diskursiver Praktiken ist, inwiefern ist dann die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) – als Verhältnis zwischen biologischem Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender), sexueller Praxis und Begehren verstanden – der Effekt einer regulierenden Praxis, die als Zwangsheterosexualität identifiziert werden kann?“ (Butler 1991, S.39)
Der Fehler dieser im ideologiekritischen Sinne durchaus berechtigten Fragestellung liegt darin, daß sie das Verhältnis zwischen den drei Entwicklungsebenen Biologie/Kultur/Individuum zur kulturellen Seite hin, nämlich Biologie und Individualität als Effekte der Kultur, auflöst. Berücksichtigt wird nur noch die kulturelle Ebene der „regulierenden Praxis“, also die Zwangsheterosexualität. Dabei hätte Judith Butler die biologische Entwicklungsebene durchaus als Teil ihrer ideologiekritischen Fragestellung verstehen können. Denn daß die Biologie keine der Gesellschaft enthobene, gleichsam freischwebende Erkenntnisform bildet, bedeutet ja nicht automatisch, daß die biologische Entwicklungsebene überhaupt keine Relevanz für das individuelle Begehren hätte. Das gleiche gilt für den Bruch (Diskontinuität) zwischen biologischer und kultureller Entwicklungsebene. Gerade der Antagonismus zwischen diesen beiden Ebenen bedarf einer eigenen anthropologisch begründeten Aufmerksamkeit.

An anderer Stelle verweist Butler selbst auf die Relevanz der biologischen Entwicklungsebene, wenn sie hervorhebt, „daß der Körper“ nicht der Grund für das Begehren sei „oder seine Ursache, sondern sein Anlaß und Objekt“:
„Teilweise besteht die Strategie des Begehrens gerade in der Verwandlung des begehrenden Körpers selbst.“ (Butler 1991, S.111f.)
Hier bringt Butler die Wechselseitigkeit zwischen biologischer und individueller Entwicklungsebene auf angemessene Weise zum Ausdruck; denn „Anlaß“ bzw. „Objekt“ des Begehrens zu sein, ist ja nicht nichts! Zum einen beinhaltet diese Wechselseitigkeit, daß es, was die Veranlassung betrifft, gar kein Begehren ohne den Körper gäbe; zum anderen beinhaltet die Objekthaftigkeit des Körpers, daß dieser den subjektiven Projektionen als Projektionsfläche dient. In diesem Sinne muß also durchaus auch die biologische Entwicklungsebene in den Fokus eines ideologiekritischen, emanzipatorischen Diskurses genommen werden.

Darüberhinaus möchte ich ergänzen, daß es transzendentale Konzeptionen des Körpers gibt, die dieser sexuellen Bestimmung von Oberflächenmerkmalen (Geschlechtsmerkmalen) noch vorausliegen. Dazu gehören der Körperleib von Helmuth Plessner, der aufrechte Gang bei Hans Blumenberg und die mit dem aufrechten Gang zusammenhängende Verhältnisbestimmung von Hand und Wort von André Leroi-Gourhan. Die transzendentale Qualität dieser anatomischen Bestimmungen liegt darin, daß sie völlig unabhängig von sexuellen Geschlechtsmerkmalen vorgenommen wurden. Das Bewußtsein, das der Körperleib ermöglicht, ist, mit Plessner gesprochen, zu seinen Geschlechtsmerkmalen exzentrisch positioniert. Erst die individuelle Ontogenese führt zu einer sexuellen Orientierung, die die Geschlechtsmerkmale mit einer bestimmten sexuellen Bedeutung auflädt.

Zu dieser sexuellen Bedeutung kann durchaus auch gehören, daß sich Individuen von diesen Geschlechtsmerkmalen abwenden und sich im Widerstreit zu ihnen orientieren. Und dieser Widerstreit ist genau das, was Plessner zufolge den Körperleib ausmacht: wir liegen mit unserem Körper im Streit. (Vgl. Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne, in: Gesammelte Schriften III: Anthropologie der Sinne. Frankfurt a.M. 1980/1970, S.317-393: 369)

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Donnerstag, 1. August 2019

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991 (1990)


1. Methode und These
2. Entwicklungsebenen
3. Körper und Seele
4. Abwesenheiten
5. Expressivität und Performativität

Judith Butler verweist mit dem Titel ihres Buches „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) auf Freuds Buch „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930). Entsprechend dieser Selbstverortung in einem insgesamt psychoanalytisch geprägten Diskursrahmen führt Butler die scheinbar biologischen Begriffe des Geschlechtsunterschieds und der Geschlechtsidentität auf kulturelle Praktiken und Strukturen zurück. Das zugrundeliegende methodische Verfahren bezeichnet Butler als Genealogie:
„Die grundlegenden Kategorien des Geschlechts, der Geschlechtsidentität (gender) und des Begehrens als Effekte einer spezifischen Machtformation zu enthüllen, erfordert eine Form der kritischen Untersuchung, die Foucault in Anschluß an Nietzsche als ‚Genealogie‘ bezeichnet hat.“ (Butler 1991, S.9)
Die kulturellen Praktiken, die zu einer binär strukturierten Heterosexualität führen, die als Normalität behauptet wird und jedes individuelle Begehren in diese Struktur zwingt, sind Ausdruck eines hierarchischen Machtverhältnisses, das Feministinnen und Feministen im Namen eines emanzipatorischen Kollektivsubjekts ‚weibliches Wir‘, das sich auch gegen andere Formen der Diskriminierung wie Klasse, Rasse, Ethnie usw. richtet, überwinden wollen. Butler spricht hier von der Notwendigkeit eines sektorenübergreifenden Bündnisses, das die Grenzen eines bloßen feministischen ‚Wir‘ sprengt. Butler bewertet diese politische Brechung der weiblichen Kategorie „Frau(en)“ als positiv, weil sie deren inneren Widersprüchlichkeiten offenlegt, die mit dem Beharren auf einer bestimmten Version weiblicher Identität und in der Ausgrenzung anderer Identitätsauffassungen, auch heterosexueller Formen des Begehrens, einhergehen:
„Vielleicht ist es für ein Bündnis gerade notwendig, die eigenen Widersprüche anzuerkennen und mit diesen ungelösten Widersprüchen zum Handeln überzugehen. Vielleicht gehört es auch zur dialogischen Verständigung, daß man die Divergenzen, Brüche, Spaltungen und Splitterungen als Teil des oft gewundenen Demokratisierungsprozesses akzeptiert.“ (Butler 1991, S.35)
Es ist bemerkenswert, daß Judith Butler sich entschieden gegen einen die zwangsheterosexuelle Matrix wiederholenden feministischen Totalitarismus wendet, der die weibliche Sexualität auf die simple Ablehnung von Heterosexualität zu reduzieren versucht:
„Frauen, die diese (‚weibliche‘ – DZ) Sexualität nicht als ihre eigene anerkennen oder ihre Sexualität als partiell durch die phallische Organisation bedingt betrachten, werden im Rahmen dieser Theorie als ‚männlichkeitsidentifiziert‘ oder ‚unaufgeklärt‘ ausgegrenzt.“ (Butler 1991, S.56)
Heterosexuelle und phallische Kulturkonventionen, so Butler, die „in lesbischen, bisexuellen und heterosexuellen Zusammenhängen aufkommen“, sind „kein Zeichen für eine Identifikation mit dem männlichen System in irgendeinem herabsetzenden Sinne“. (Vgl. Butler 1991, S.56)

Dennoch scheint mir Butlers von Foucault übernommene Fixierung auf die Macht selbst einen solchen Totalitarismus zu beinhalten, wenn sie schreibt:
„... die Rechtsstrukturen von Sprache und Politik bilden das zeitgenössische Feld der Macht, das heißt: Es gibt keine Position außerhalb dieses Gebiets, sondern nur die kritische Genealogie seiner Legitimationspraktiken.“ (Butler 1991, S.20)
Wenn es nämlich keine Position außerhalb des Gebiets der Macht gibt, gibt es auch keine Beziehung zwischen den Menschen, die nicht als machtförmig verzerrt und verunstaltet wahrgenommen werden kann. Mit anderen Worten: es gibt keine Zweitpersonalität. Die Sozialperspektiven ‚Ich‘ und ‚Du‘ fallen unter den Tisch. – Darauf wird in einem späteren Blogpost zurückzukommen sein.

Allerdings verführt der Strukturalismus selbst schon zu einer solchen totalitaristischen Denkweise, wie Butler festhält:
„Alle sprachlichen Termini setzen eine linguistische Totalität der Strukturen voraus, deren Ganzheit unterstellt und implizit erfordert ist, damit jeder Term eine Bedeutung tragen kann. Diese gleichsam Leibnizsche Sichtweise, in der die Sprache als systematische Totalität erscheint, unterdrückt jedoch das Moment der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, indem es dieses Moment der Arbitrarität in ein totalisierendes Feld einbindet und vereinheitlicht.“ (Butler 1991, S.70)
Butler meint aber, sie könne mit einer poststrukturalistischen Verflüssigung der binären Zwänge diesem strukturalistischen Totalitarismus entgehen:
„Der poststrukturalistische Bruch mit Saussure und mit den identitätslogischen Tauschstrukturen bei Lévi-Strauss weist sowohl die Totalitäts- und Universalitätsansprüche als auch die Annahme von binären strukturalen Gegensätzen zurück, die implizit bewirken, daß die bestehende Ambiguität und Offenheit der sprachlichen und kulturellen Bedeutung eingeschränkt wird.() Durch diese Kritik verwandelt sich die Diskrepanz zwischen Signifikant und Signifikat in die operativ uneingeschränkte différance() der Sprache, die alle Referentialität zu einer potentiell schrankenlosen Verschiebung macht.“ (Butler 1991, S.70)
Butler glaubt, die parodistische Verschiebung sexueller Identitätsmerkmale in lesbischen, schwulen und queeren Milieus führe zu einer Sprengung der starren heterosexuellen Matrix. Letztlich besteht diese spielerische Praxis im Umgang mit Geschlechtsidentitäten aber nur in der Verschränkung und Überlagerung von Symptomen und Praktiken des Begehrens; was vielleicht eine gewisse gesellschaftspolitische Relevanz haben mag, aber die einzelnen ‚Subjekte‘ des sexuellen Begehrens bleiben sich selbst überlassen und gegenseitig isoliert. Denn Butler interessiert sich nicht für sie, sondern nur für den prekären Status des Kollektivsubjekts, das seine politische Agenda umzusetzen versucht:
„Das feministische ‚Wir‘ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion, die zwar bestimmten Zwecken dient, aber zugleich die innere Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit dieses ‚Wir‘ verleugnet und nur durch die Ausschließung eines Teils der Wählerschaft konstituiert, die sie zugleich zu repräsentieren sucht. Freilich ist der schwache oder phantasmatische Status dieses ‚Wir‘ kein Grund zur Verzweiflung – oder besser gesagt: nicht nur ein Grund zur Verzweiflung. Die radikale Instabilität dieser Kategorie stellt die grundlegenden Einschränkungen der feministischen Theorie in Frage und eröffnet damit andere Konfigurationen, nicht nur für die Geschlechtsidentitäten und für die Körper, sondern auch für die Politik selbst.“ (Butler 1991, S.209)
Die befreiende Praxis der Parodie instrumentalisiert das Begehren im Dienste dieses Kollektivsubjekts und verbleibt damit im alles umfassenden „Feld der Macht“. Diese Macht wird nicht etwa abgeschafft, sondern lediglich repräsentativ erweitert:
„Deshalb kann die geschlechtlich bestimmte Identität, statt als ursprüngliche Identifizierung, die als determinierende Ursache dient, neu als persönliche/kulturelle Geschichte übernommener Bedeutungen begriffen werden.“ (Butler 1991, S.203)
Hier steht das Persönliche auf der Ebene des Kulturellen; ein reflektierter Umgang mit kulturellen Bedeutungen des Geschlechtlichen in einer zweiten Naivität, also in der individuellen Praxis begehrender Einzelsubjekte, die niemandem gegenüber verpflichtet sind außer ihren Partnern, ist nicht vorgesehen.

Dazu paßt Butlers Kritik an Monique Wittigs Humanismus, der von der Notwendigkeit eines „absoluten“ Subjekts ausgeht. (Vgl. Butler 1991, S.167ff.) Monique Wittig kritisiert, daß das sprechende Subjekt in der (französischen) Sprache immer nur als männliches Subjekt in Erscheinung tritt. Die Frauen hingegen werden von der Grammatik nur als relative Subjekte berücksichtigt. Das führt aber keineswegs dazu, daß Wittig die Sprache als solche kritisiert. Sie vertritt vielmehr den Standpunkt, daß allein schon zu sprechen, also das Wort zu ergreifen, eine absolute Subjektposition voraussetzt. Zu sprechen bedeutet also, ein absolutes Subjekt zu sein. Alles andere liefe darauf hinaus, zu sprechen, ohne zu sprechen, also auf einen performativen Widerspruch. (Vgl. Butler 1991, S.172f.)

Allerdings macht Wittig den Fehler, den Begriff des Absoluten zu ontologisieren. Schon der Begriff des Absoluten selbst ist problematisch, weil er Relationen ausschließt und mit den Relationen das Mensch-Mensch- und das Mensch-Weltverhältnis. Wittig spricht darüberhinaus von der Notwendigkeit einer „Ontotheologie“ des absoluten Subjekts:
„Wittig setzt ihre Überlegungen mit einer überraschenden Spekulation über das Wesen der Sprache und des ‚Seins‘ fort, die ihr eigenes politisches Projekt in den Kontext des traditionellen Diskurses der Ontotheologie einordnet. Ihrer Ansicht nach bietet die primäre Ontologie der Sprache jeder Person dieselbe Möglichkeit, ihre Subjektivität zu begründen.“ (Butler 1991, S.174)
Obwohl Butler Wittig zurecht wegen dieser Ontotheologie kritisiert, begehen beide denselben Fehler: beide gehen davon aus, daß es ein relatives Subjekt nicht geben könne, also auch kein Mensch-Weltverhältnis, wobei Butler noch einen Schritt weiter geht und behauptet, daß es außerhalb bzw. ‚vor‘ der Sprache kein Subjekt geben könne. Butler entgeht in dieser Kritik das Moment, mit dem Monique Wittig mit ihrer Behauptung eines absoluten Subjekts recht behält. ‚Absolut‘ steht nämlich letztlich für ‚transzendental‘. Daß der Sprechakt ein sprechendes Subjekt voraussetzt, bedeutet nämlich nicht, daß dieses Subjekt dem Sprechakt zeitlich vorhergeht oder ihm ontisch irgendwie zugrundeliegt. Es bedeutet lediglich die Denknotwendigkeit eines Subjekts, das spricht, mag es auch bloß aus dem Sprechakt hervorgehen; denn transzendental ist seine Qualität in dem Sinne, als es zugleich mit seinem Hervorgehen aus dem Sprechakt diesem Sprechakt vorhergeht.

Helmuth Plessner nannte diese transzendentale Qualität des Subjekts „exzentrische Positionalität“. Das Subjekt, das spricht, blickt in beide Richtungen: auf den Sprechakt voraus und auf das, was es damit meint, zurück.

Wenn Butler an anderer Stelle den „Zwang“ thematisiert, über ein „Subjekt des Feminismus“ nachdenken zu müssen (vgl. Butler 1991, S.21), dann versäumt sie es an dieser Stelle und auch sonst in ihrem Buch, die problematische Kategorie der „Frau(en)“ mit ihrer „wesentliche(n) Unvollständigkeit“ (vgl. Butler 1991, S.35) durch den Begriff „Mensch“ zu ersetzen. Denn die Kategorie „Mensch“ mit ihrer ebenfalls wesentlichen Unvollständigkeit steht durchaus zur Verfügung, alle Menschen jenseits von Rasse, Geschlecht, Herkunft und Religion zu bezeichnen. Die Herkunft dieses Wortes ist keineswegs einfach auf ‚Mann‘ zurückzuführen, so wenig wie ‚Mann‘ und ‚Frau‘ ursprünglich Geschlechtsbezeichnungen gewesen sind. Mit ‚Mensch‘ verwandt ist das lateinische ‚mens‘, Bewußtsein, und verweist schon mit dieser Etymologie auf seine transzendentale Qualität. Das Subjekt ‚Mensch‘ ist zum einen transzendental, im Sinne einer Ich-Identität, die sich durch die Zeit durchhält, unabhängig von Prädikaten wie ‚jung‘, ‚erwachsen‘ und ‚alt‘, und es bezeugt im Sprechakt diese Identität des Sprechenden; zum anderen ist die Bezeichnung ‚Mensch‘ auch offen für individuelle Verschiedenheit im Namen einer Humanität, die nicht reguliert oder normiert.

Das ist der nicht-machtförmige, humane Sinn von Universalität, den sogar Butler – allerdings wieder nur mit Bezug auf Wittig und damit offenlassend, ob sie dem zustimmt – positiv hervorhebt:
„Den Standpunkt der Frauen universalisieren bedeutet, die Kategorie ‚Frau(en)‘ zu zerstören und gleichzeitig die Möglichkeit eines neuen Humanismus zu schaffen.“ (Butler 1991, S.177)
In diesem Zitat referiert Butler Monique Wittigs Standpunkt nur, ohne ihn zu teilen. Die Textstelle bleibt zwar insgesamt im Ungewissen, weil Butler sich an dieser Stelle nicht deutlich von Wittigs Standpunkt distanziert. An anderen Stellen nimmt Butler aber eindeutig Position gegen den Humanismus, weil sie ihm vorwirft, nur auf europäische weiße Männer beschränkt zu sein; an einer Stelle übrigens in Übereinstimmung mit Monique Wittigs Kritik am Humanismus, an einer anderen Stelle wiederum in Form einer Kritik an der Wittigschen Adaption des Humanismus. (Vgl. Butler 1991, S.50, 172)

Butler gesteht also im Unterschied zu Wittig dem Menschenrechts-Humanismus nicht zu, daß er sich weiterentwickelt hat und sich im Laufe der Geschichte faktisch universalisiert hat, also alle Menschen, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, Hautfarbe etc. umfaßt. Butler verwirft also den Humanismus als politische Option und damit auch Wittigs Universalisierungsthese. An die Stelle des Humanismus soll eine alle heutigen und künftigen Genderpraktiken umfassende Zukunftsoffenheit treten, die durch nichts, also auch durch keinen Humanismus, begrenzt ist. Butler gerät damit in einen performativen Widerspruch: es sind wesentlich der Humanismus und die Menschenrechte, die sich gegen Diskriminierungen aller Art richten. Wenn der Humanismus aber selbst diskriminierend ist, wie Butler behauptet, dann gibt es auch keine Instanz, die vorkommende Diskriminierungen feststellen und verurteilen könnte.

Monique Wittigs Perspektive auf das Universalisierungspotential des Humanismus kann ich mich vorbehaltlos anschließen. Sogar Judith Butler verwendet in ihrem Buch „Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen“ (2009/2004) tatsächlich wieder den Begriff des Menschlichen und ‚Mensch‘. (Vgl. Butler 2009, S.26ff.) Allerdings schränkt sie die Notwendigkeit, den „Status eines menschlichen Lebens“ neu zu ‚überdenken‘, mit dem Hinweis ein, daß das „keine Rückkehr zum Humanismus“ beinhalte. (Vgl. Butler 1991, S.27) – Vielleicht keine Rückkehr. Aber vielleicht doch die Möglichkeit eines Ausblicks auf eine humane Zukunft.

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