„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 3. Mai 2019

Jason W. Moore/Raj Patel, Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin 2018

1. Strategien der Entwertung
2. Entwertung und Mehrwert
3. Fußabdrücke

Moore und Patel versäumen es, individuelle und gesellschaftliche Verantwortung auf eine Weise zu differenzieren, die das individuelle Handeln nicht abwertet. Das zeigt sich an der Stelle, wo sie auf den individuellen ökologischen Fußabdruck zu sprechen kommen, der bei US-Amerikanern bei durchschnittlich vier Planeten und bei Deutschen bei durchschnittlich 2,5 Planeten liegt, die wir bräuchten, wenn alle Menschen unseren Lebensstil übernehmen würden. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.268)

Die Bedeutung, die diese Berechnung für die individuelle Verantwortung hat, wird von Moore/Patel gleich wieder relativiert, indem sie auf die Gentrifizierung hinweisen, die die Menschen aus den Städten mit ihren kurzen Arbeits- und Versorgungswegen vertreiben, ohne auf dem Land ein entsprechendes öffentliches Verkehrssystem vorzufinden, das es ihnen erlaubt, auf den konventionellen, mit fossilen Brennstoffen betriebenen Individualverkehr zu verzichten. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.269) Moore/Patel werfen dem Denken in Fußabdrücken vor, den eigentlichen Verursacher für dieses ökologische Dilemma, den Kapitalismus, durch die Fokussierung auf den individuellen Konsum zu verschleiern. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.268) Das eigentlich Problem ist also das ‚System‘ und nicht das ‚Individuum‘:
„Die Erkenntnis, um die es uns geht, ist keine individuell-therapeutische, sondern eine institutionelle und systemische.“ (Moore/Patel 2018, S.274)
Das individuelle Handeln ist also allenfalls therapeutisch und fördert lediglich das persönliche Wohlbefinden? – Seit November vergangenen Jahres gehen tausende Franzosen auf die Straße und blockieren Autobahnzufahrten, weil die französische Regierung die Mineralölsteuer angehoben hat, um den Treibstoff zu verteuern. Millionen auf dem Land lebende Franzosen, die stundenlange Anfahrtswege zu ihrer Arbeitsstelle haben und lange Einkaufswege bewältigen müssen und dafür auf das Auto angewiesen sind, fanden das gar nicht lustig.

Aber was sind ‚lange‘ Versorgungswege? Ich lebe auf dem Land. In dem Dorf, in dem ich lebe, gibt es keine Geschäfte, noch nicht einmal eine Kirche. Der Bus kommt zweimal am Tag vorbei. Trotzdem fahre ich mit dem Rad, jedes Jahr zehntausend Kilometer, auf den Tag runtergerechnet 27,4 km, und zwar jeden Tag. Es mag sein, daß das nichts für jedermann und auch nicht für jede Frau ist, vor allem, wenn man eine Familie zu versorgen hat. Aber die Grenzen individuellen Handelns lassen sich weiter ziehen, als es viele, die in ihren motorisierten Blechkabinen durch die Gegend rollen, vorstellen können und auch wollen. Die individuelle Verantwortung für richtiges Handeln sollte jedenfalls nicht voreilig relativiert werden. Es gibt ein richtiges Leben im falschen!

Gerade bei den ‚Gelbwesten‘ wird die zwielichtige Motivationslage von gesellschaftlichen Bewegungen deutlich, die sich gegen die notwendigen klimapolitischen Veränderungen stemmen und dabei naiv die eigene individuelle Notlage mit menschenfeindlichen Ressentiments vermengen. Also ja, – hier bedarf  es einer individuellen Therapie, nämlich als Rückbesinnung auf eine persönliche Verantwortung, die zwischen berechtigten Bedürfnissen und kollektiven Pathologien zu unterscheiden weiß. Das Problem ist nicht das ‚System‘, sondern die das ‚System‘ vollziehenden Individuen.

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Donnerstag, 2. Mai 2019

Jason W. Moore/Raj Patel, Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin 2018

1. Strategien der Entwertung
2. Entwertung und Mehrwert
3. Fußabdrücke

Bei fast allen billigen Dingen, die Moore/Patel in ihrem Buch aufzählen, handelt es sich um Allmenden, um lebenswichtige Ressourcen, die die Existenz des Menschen auf diesem Planeten ermöglichen: um Natur, Arbeitskraft, Fürsorge, Nahrung, Energie und, in gewisser Verdopplung zur Natur, um ‚Leben‘, womit im betreffenden Kapitel vor allem das Eigentum an sich selbst und die damit verbundene Würde gemeint ist (vgl. Moore/Patel 2018, S.239ff.). Nur eins fällt aus diesen Dingen heraus: das Geld, das Moore/Patel in Form billiger Kredite ebenfalls zu den billigen Dingen zählen. Dabei entgeht dem Autorenpaar allerdings, daß es sich beim Geld keineswegs um eine Ressource handelt, die man durch Verbilligung entwerten kann. Tatsächlich bildet das Geld, nämlich als Kapital, den Kern der umfassenden Entwertung alles dessen, was das Leben und unsere Menschlichkeit ausmacht.

Zwar weisen Moore/Patel durchaus auf die Differenz des Kapitals hin, die aus Geld mehr macht als bloß ein Zahlungsmittel:
„Geld ist nicht gleich Kapital. Journalisten reden gern von Kapital, obwohl sie Geld meinen, oder, schlimmer noch, sie verstehen unter Kapital etwas, das in etwas anderes umgewandelt werden kann. Von ‚natürlichem Kapital‘ oder ‚sozialem Kapital‘ zu sprechen führt zu einer großen Begriffsverwirrung.() Nicht gefällte Bäume oder noch nicht genutzte Fähigkeiten sind kein Kapital.“ (Moore/Patel 2018, S.40)
Moore/Patel halten fest, daß erst die Zirkulation, die Verwandlung von Geld in Gütern und von Gütern in Geld aus Geld Kapital macht. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.40) Aber zwei Momente werden bei diesem Verwandlungsprozeß nicht berücksichtigt: der damit verbundene Metamorphismus und der Mehrwert. Was den Mehrwert betrifft, ist er vor allem ein Betrug an der menschlichen Arbeitskraft, die nicht vollständig bezahlt wird. Der Arbeiter wird nur für einen Teil seiner Arbeit bezahlt, den Rest steckt der Kapitalist als ‚Mehrwert‘ ein. Dieses Prinzip der ‚billigen Arbeit‘ wird auch auf all die anderen billigen Dinge angewandt. Der Kapitalismus ist nur profitabel, weil er auf Ressourcen zurückgreift, für deren Kosten er nicht aufkommen muß. Das ist das ganze Geheimnis des Mehrwerts.

Das Problem mit dem Geld reicht aber noch tiefer. Es fungiert als Wertspeicher, der den Wert der bezahlten Ware in sich aufnimmt und bewahrt. In ökonomischer Hinsicht bedeutet das, daß die Ware nur Tauschwert hat. Ihr Gebrauchswert ist gleich null. Sobald sie bezahlt worden ist, hat sie keinen Wert mehr. Man kennt das vom Wertverlust, dem neue Autos auf geheimnisvolle Weise unterliegen: kaum gekauft, sinkt ihr Wiederverkaufswert. Ihr Wert überträgt sich auf das Geld, das wir für sie ausgegeben haben. Das Geld ist wie ein Vampir: es saugt den Wert der Dinge auf wie Vampire das Blut von Menschen. Deshalb müssen ständig neue Dinge gekauft werden, denn nur im Kaufakt haben sie Wert. Sobald sie gekauft wurden, sind sie Müll. Das nennt man dann Konsum. Wir ‚verzehren‘ nicht etwa die Dinge selbst, was einen wirklichen Stoffwechsel beinhalten würde, sondern wir vernichten ihren Wert.

Damit kommen wir nun zum Problem der Zirkulation. Auch Geld bewirkt Transformationen, wie der Stoffwechsel. Es verwandelt Stoffe, nämlich Rohstoffe, in andere Stoffe um, nämlich in Gebrauchsgüter. Diese Gebrauchsgüter haben aber nur als Waren einen Wert, nämlich Tauschwert. An dieser Stelle wird also der Stoffwechselprozeß unterbrochen. Anstatt im Gebrauch der produzierten Güter zur Ruhe zu kommen, was das Ziel eines echten Stoffwechselprozesses wäre, muß das Geld immer weiter Güter produzieren; denn es geht nicht um die Güter, sondern um die Vermehrung des Geldes selbst, um Zins und Zinseszins.

Moore/Patel haben das nicht verstanden, wenn sie das billige Geld auf eine Stufe mit den anderen sechs billigen Dingen stellen. Das zeigt sich z.B. darin, daß sie Geld bloß als ein „Medium“ bezeichnen, „mit dem der Kapitalismus operiert“. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.38) Geld ist durchaus ein Medium, aber eben keins, ‚mit dem‘ der Kapitalismus ‚operiert‘! Es ist für den Kapitalismus das, was für den Fisch das Wasser ist. Ohne Wasser kein Fisch, ohne Geld kein Kapitalismus. Alle die anderen billigen Dinge, die Moore/Patel aufzählen, sind notwendig für den Kapitalismus, aber sie bilden nicht sein Medium. Die Fürsorge ist nicht der Kapitalismus, so wenig wie Natur, Nahrung, Energie etc. der Kapitalismus sind! Das Geld aber, nämlich das nominalistische Geld, ist der Kaptalismus. Er operiert nicht einfach nur mit ihm, wie er mit den billigen Ressourcen operiert.

Deshalb gehen auch Moore/Patels Analysen zur Gender-Problematik am Kern des Problems vorbei. Es ist irgendwie niedlich, wenn das Autorenpaar die Einführung des Pflugs in die Landwirtschaft für die Ungleichheit der Geschlechter verantwortlich macht. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.156f.) Der Pflug ist ein Moment in der menschlichen Kulturgeschichte, wie viele andere Momente, unter denen man neben dem Pflug sicher weitere ‚Schlüsselfaktoren‘ für die Entwertung der Frauen ausmachen kann. Aber was den Kapitalismus betrifft, kratzt der Hinweis auf den Pflug lediglich an der Oberfläche.

Das gilt übrigens auch für die Genderproblematik selbst. Denn wenn wir von ‚Gender‘ reden, blenden wir für gewöhnlich das Begehren aus, das ihm innewohnt. Sicherlich gehört die Grenzziehung zwischen Mann und Frau zu den Verbilligungsstrategien des ökologischen Kapitalismusses. Aber der eigentlich Eingriff richtet sich nicht auf die Manipulation von Geschlechterdifferenzen, sondern auf die Natur unseres Begehrens. Christina von Braun beschreibt diese Transformation in ihrem Buch „Der Preis des Geldes“ (2012). Das nominalistische Geld usurpiert insbesondere die männliche Fruchtbarkeit, indem es den Mann kastriert. Es nimmt seine Fruchtbarkeit vollständig in den Dienst der Geldvermehrung, von Zins und Zinseszins, die an die Stelle von Kind und Kindeskind treten. Im Finanzkapitalismus erreicht diese Entkörperlichung ihren Höhepunkt, wo sich das Geld durch sich selbst vermehrt und nicht mehr auf die Güterproduktion angewiesen ist.

Die weibliche Fruchtbarkeit, ihre biologische Reproduktionsfähigkeit, wird ebenfalls usurpiert. An ihre Stelle treten Reproduktionstechnologien, die darauf abzielen, das Leben technologisch zu manipulieren und möglicherweise sogar zu produzieren. Das Vorbild für diese Reproduktionstechnologien liegt in der Selbstproduktion des Geldes.

Letztlich ist das nominalistische Geld der Stein der Weisen, den die Alchimisten einst gesucht hatten. Es ist das Geld, das alles in alles verwandelt und aus Nichts heraus Werte schafft. Diese Werte sind aber nichtig, Unwerte, vernichtete Werte. Im nominalistischen Geld gibt es keine Grenze der Wertvernichtung, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß es keine Obergrenze für Schulden gibt. Darauf basiert die Vorstellung von der Notwendigkeit eines unendlichen Wirtschaftswachstums.

Wollen wir uns davon freimachen, müssen wir uns wieder der Natur unseres Begehrens zuwenden. Wir müssen den Schleier des Geldes lüften und unsere eigentlichen Bedürfnisse neu entdecken. Bis zu dieser Einsicht aber dringen Moore/Patels Analysen nicht vor.

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Mittwoch, 1. Mai 2019

Jason W. Moore/Raj Patel, Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin 2018

1. Strategien der Entwertung
2. Entwertung und Mehrwert
3. Fußabdrücke

Jason W. Moore, Dozent für Weltgeschichte, Soziologie und Ökologie an der Universität von Binghamton, und Raj Patel, Research Professor an der University of Texas, beschreiben in ihrem Buch „Entwertung“ (2018) Strategien der Verbilligung von Ressourcen, ohne die die „kapitalistische Ökologie“ (vgl. Moore/Patel 2018, S.155f., 241 u.ö.), wie die beiden Autoren die enge Verbindung des Kapitalismus mit dem „Netz des Lebens“ nennen (vgl. Moore/Patel 2018, S.40), nicht möglich wäre. Diese Strategien der Verbilligung bilden zugleich Strategien der Entwertung und richten sich auf die Natur, Geld (in Form billiger Kredite), Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie und Leben, insbesondere menschliches Leben. Diese Entwertungsstrategien haben unseren Planeten insgesamt umgeformt und den bisherigen erdgeschichtlichen Epochen eine neue Epoche hinzugefügt: das Anthropozän, das aber Moore/Patel zufolge besser „Kapitalozän“ heißen sollte, da es nicht die Menschen schlechthin seien, die diese Epoche hervorgebracht hätten, sondern der Kapitalismus. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.13)

An zwei Beispielen macht das Autorenpaar deutlich, was ‚Verbilligung‘ bzw. ‚Entwertung‘ meint: am Hähnchen und an der Geschichte der Insel Madeira. Die heutigen Hähnchen sind Moore/Patel zufolge nicht mehr dieselben Tiere wie vor hundert Jahren:
„Diese Tiere können kaum noch laufen, sind innerhalb von wenigen Wochen schlachtreif, tragen besonders viel Fleisch und werden in Mengen aufgezogen und geschlachtet, die für unser Ökosystem von Bedeutung sind (mehr als 60 Milliarden Vögel pro Jahr).() Betrachten wir das als ein Beispiel für billige Natur.“ (Moore/Patel 2018, S.14)
Zur Entwertung der Tiere kommt die Entwertung der menschlichen Beziehungen derjenigen, die in den Produktionsprozeß von Hähnchenfleisch eingebunden sind. Moore/Patel fassen die verschiedenen Momente dieses Produktionsprozesses,
  • die schlechte Bezahlung der Arbeiter,
  • die ungesunde Arbeit am Fließband einschließlich der dadurch notwendig werdenden Fürsorge durch deren Familien,
  • die Versorgung der Konsumenten mit billiger Nahrung,
  • den mit der Produktion verbundenen Methanausstoß (Klimaerwärmung),
  • die staatliche Subventionierung
  • und das Franchising-System
  • und die Geringschätzung tierischen und menschlichen Lebens
mit folgenden Worten zusammen:
„Den sozialen Kämpfen um Natur, Geld, Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie und Leben, die mit den Hühnerknochen des Kapitalozäns verbunden sind, kommt ein so großer Stellenwert zu, dass nicht das Auto oder das Smartphone das ikonische Symbol der Moderne ist, sondern der Chicken McNugget.“ (Moore/Patel 2018, S.15f.)
An der Insel Madeira zeigen Moore/Patel, wie ein Öko-System seit seiner Entdeckung und Kolonisierung im 15. Jhdt. vollkommen zugrundegerichtet wurde. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.25ff.) Ursprünglich war die Insel dichtbewaldet gewesen. Innerhalb von 80 Jahren war die Insel vollständig entwaldet, weil die Bäume zunächst für den Schiffbau und dann als Brennmaterial für die Zuckerrohrproduktion gebraucht wurden. Insbesondere der Zuckerrohranbau wurde dabei Moore/Patel zufolge zur Blaupause für die industrielle Produktion in Fabriken:
„Madeira wurde zu einem Experimentierfeld, auf dem man die Grenzen menschlicher Widerstandsfähigkeit und Kraft auslotete und neue Ordnungs-, Prozess- und Spezialisierungstechnologien erprobte, wie sie Jahrhunderte später in den industriellen Fabriken in England zum Einsatz kommen sollten. ... Obwohl nur wenig über die Sklavenaufstände in Madeira bekannt ist, wissen wir doch, dass am Ende des Zuckerbooms die in der Sklaverei und der Plantagenwirtschaft angewandten Methoden verfeinert und über den Atlantik exportiert wurden ...“ (Moore/Patel 2018, S.43f.)
Von Anfang an ist die kapitalistische Ökologie also nicht etwa eine ausschließlich auf Lohnarbeit beschränkte Ausbeutungsform gewesen, mit deren Hilfe der Kapitalist seinen Mehrwert erwirtschaftet. Zur Verbilligungsstrategie gehörte auch die direkte Sklaverei:
„Die Sklaverei trat auf Madeira zwar nicht zum ersten Mal auf, wohl aber die moderne Sklaverei. Die Letztere zeichnet aus, dass die Sklaven zur landwirtschaftlichen Massenproduktion herangezogen und aus ihrer Verwurzelung in die Gesellschaft gerissen wurden. ... Sklaven als Teil der Natur und nicht als Teil der Gesellschaft zu behandeln, erwies sich für die Investoren als ein erfolgreicher Schachzug.“ (Moore/Patel 2018, S.45)
Mit einem aktuellen Beispiel für moderne Sklaverei haben wir es übrigens bei den Flüchtlingen zu tun, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen, um nach Europa zu gelangen. Jan-Philipp Scholz beschreibt in seinem Buch „Menschenhandel, Migrationsbusiness und moderne Sklaverei“ (2019), wie diese oft genug als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichneten Menschen auf ihrem Weg allen möglichen zweifelhaften, profitorientierten Interessengruppen Geld einbringen, nicht nur auf offensichtliche Weise den Schleppern, sondern auch den Staaten, die sie durchwandern, weil die dortigen Machthaber mit Hilfe von EU-Geldern dazu gebracht werden sollen, sie aufzuhalten. So landen die Flüchtlinge in KZ-artigen Lagern, in denen sie mißbraucht, als billige ‚Arbeitskräfte‘ eingesetzt und umgebracht werden, wenn die Lager voll sind, um Platz zu schaffen für neue Flüchtlinge. Diejenigen, die es nach Europa geschafft haben, werden von ihren Herkunftsländern vor allem deshalb nicht zurückgenommen, weil sie diese mit Devisen versorgen, wenn sie ihre Familien mit Geld versorgen, das sie in den Aufnahmeländern unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen verdienen. Außerdem sind die korrupten Machthaber in den Herkunftsländern froh, wenn sie die vorwiegend jungen Leute, die für sie eine potentielle Gefahr sind, los sind. Auch die ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ sind also ein Beispiel für kapitalistische Ökologie. – Über all das sind übrigens die europäischen Politiker, auch die deutschen, bestens informiert.

Die Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft war ein wichtiges ideologisches Instrument bei der Entwertung menschlichen Lebens, das von der Wissenschaft und von der Religion unterstützt wurde. Im Bereich der Wissenschaft entwickelte der Schwede Carl von Linné (1707-1778) eine Nomenklatur, in der er den homo sapiens nach verschiedenen Varietäten (Rassen) ausdifferenzierte, denen er außerdem bestimmte Charaktereigenschaften zuordnete, die eine Hierarchisierung von Menschengruppen ermöglichte:
„Die Naturwissenschaften lieferten die Begründung für eine ethnische Einordnung, die wiederum die koloniale Mission der Zivilisierung legitimierte. Linnés Typologie war verantwortlich dafür, dass Menschen sich das Recht herausnahmen, nicht nur andere Menschen wie Eigentum und Schuldverschreibungen zu behandeln, sondern sich auch an die Spitze einer Hierarchie zu setzen, die diese Menschen einem staatlichen Herrschaftsgefüge unterwarf.“ (Moore/Patel 2018, S.248)
Religiöse Unterstützung erhielt dieses Klassifikationssystem durch Papst Nikolaus V., der 1455 dem portugiesischen König erlaubte, alle Feinde des christlichen Glaubens zu versklaven. Diese Erlaubnis bezog man dann auch auf die indigenen Völker in den Kolonien, die das Evangelium nicht kannten, so daß zu deren Versklavung bloße Unwissenheit ausreichte:
„Was Menschen wussten oder nicht wussten, wurde für die Beschaffung von Arbeitskräften und den Umgang mit ihnen relevant.()“ (Moore/Patel 2018, S.125)
Im Rahmen der „Encomienda“ wurde die Zwangsarbeit der Eingeborenen damit gerechtfertigt, daß sie auf diese Weise zum Christentum ‚erzogen‘ werden sollten:
„Letztlich ermächtigte gerade die Fürsorgepflicht für die Seelen der Eingeborenen die Kolonisatoren dazu, ihnen ihr Land wegzunehmen und sie im Dienste der Zivilisation darauf arbeiten zu lassen.“ (Moore/Patel 2018, S.127)
Wir haben es bei den Entwertungsstrategien der kapitalistischen Ökologie Moore/Patel zufolge hauptsächlich mit einer Vielzahl von Grenzziehungen zu tun, sowohl an den Rändern der Nationalstaaten, die andere Länder unterwarfen und kolonisierten, zunächst europäische Länder wie Irland und Polen, und dann die anderen Kontinente, die beiden Amerikas, Afrika, Asien, Australien; wie auch innerhalb der Nationalstaaten selbst, entlang der Grenzen zwischen Gesellschaft und Natur, Mann und Frau und öffentlich und privat. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.167)

Im Grunde geht es bei diesen Grenzziehungen um jenen historischen Prozeß, den Karl Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet hatte, nämlich um die Einfriedung von allgemeinen Gütern und Rechten, von Allmenden bzw. commons, die allen Menschen gleichermaßen zugänglich waren. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.117, 120, 127) Die sieben billigen Dinge, die Moore/Patel aufzählen und kapitelweise abhandeln, sind ursprünglich nichts anderes als solche Allmenden, die die kapitalistische Ökologie in Privateigentum verwandelt, von dem die meisten Menschen ausgeschlossen werden, um von nun an als Sklaven bzw. Lohnarbeiter ihr Leben fristen zu müssen. Die wichtigste ‚Einfriedung‘ bildet die Natur selbst, zu der eben auch die meisten Menschen gezählt werden, Weiße wie Nicht-Weise, aber vor allem eben Nicht-Weiße, und außerdem die Frauen. Gender ist ein wichtiges Thema in dem Buch von Moore/Patel. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.152ff.) Der Natur gegenüber steht die Gesellschaft bzw. der ‚zivilisierte‘ Teil der Menschheit, hauptsächlich weiße Männer.

Nicht minder wichtig ist die unbezahlte Fürsorgearbeit der Frauen, von der Moore/Patel feststellen, daß der Kapitalismus in dem Moment abgeschafft werde, wo er für die Fürsorge bezahlen muß. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.180) Er ist dann einfach nicht mehr profitabel.

Bei der Differenz zwischen Natur und Gesellschaft haben wir es mit einem für den Kapitalismus grundlegenden Dualismus zu tun, der von René Descartes philosophisch begründet wurde:
„Descartes unterschied zwischen Körper und Geist und verwendete dafür die lateinischen Begriffe res extensa und res cogitans. ... Die herrschenden Klassen der Epoche wiesen die meisten menschlichen Wesen – Frauen, Farbige, Eingeborene – der ausgedehnten, nicht der denkenden Substanz zu. ... Die kartesische Haltung prägte die moderne Logik von Macht und Denken.“ (Moore/Patel 2018, S.72f.)
Moore/Patels These, daß der Kapitalismus auf grundlegenden Grenzziehungen zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Kolonien und Nationalstaaten und zwischen Frauen und Männern beruht, um so billige, Profite ermöglichende Ressourcen zu schaffen, leuchtet ein. Aber das Autorenpaar wird dem Doppelsinn, der mit dem Begriff der Grenze verbunden ist und der allererst so etwas wie eine ‚Ökologie‘, also auch eine kapitalistische Ökologie ermöglicht, nicht gerecht. Ich meine den mit dem Begriff der Grenze verbundenen Begriff des Stoffwechsels:
„Keine Grenze kommt ohne einen Austausch aus, der bereitstellt, was im Inneren fehlt, indem Leben von anderer Stelle abgeschöpft wird.“ (Moore/Patel 2018, S.30)
Moore/Patel gehen nur ganz am Rande auf diese Bedeutungsdimension ein. Dabei benutzen sie nicht den Begriff des Stoffwechsels, sondern den des Oikeios:
„Mit Hilfe seiner Grenzräume beherrscht der Kapitalismus ein Spektrum von Beziehungen zur ‚Lebenserzeugung‘, das über die buchhalterische Bilanz von Gewinn und Verlust hinausreicht. ... Mangels eines angemessenen Begriffs im Deutschen greifen wir auf die Idee des oikeios zurück. Oikeios bezeichnet den vielschichtigen Puls der Lebenserzeugung, der jede menschliche Aktivität am laufen hält und unablässig von natürlichen Kräften geformt wird, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen. Oikeios sorgt dafür, dass bestimmte Formen des Lebens auftauchen, dass Arten Lebensräume schaffen und Lebensräume Arten. So besetzt der Puls der menschlichen Zivilisation nicht einfach Lebensräume, er erzeugt sie – und wird zugleich von ihnen erzeugt.()“ (Moore/Patel 2018, S.31)
Moore/Patel versäumen es, den Begriff des Stoffwechsels auch auf die Zirkulation des Geldes zu beziehen. Zwar ist viel von dieser Zirkulation die Rede (vgl. Moore/Patel 2018, S.37, 40, 91), aber die Transformationen, die das zirkulierende Geld ermöglicht, die Metamorphosen, die es selbst bei der Zirkulation durchläuft, werden nicht thematisiert. So entgeht dem Autorenpaar der eigentliche Entwertungskern, nämlich die Entwertung, die das Geld selbst bewirkt, als Mehrwert; und darüberhinaus entgeht ihm der Kern der Genderproblematik, wie sie Christina von Braun beschrieben hat, als Kastration des Mannes, als Raub an seiner Fruchtbarkeit. Zins und Zinseszins treten an die Stelle von Kind und Kindeskind. Dazu mehr im nächsten Blogpost.

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