„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Ich suche Menschen: 15 Jahre Erkenntnisethik

Vor fünf Jahren beendete ich meinen Blog in der Absicht, mich in ein Offline-Leben zurückzuziehen. Daraus wurde dann aber nur eine einjährige Pause, und 2022 setzte ich den Blog wieder fort. Allerdings anders als zuvor. Ich gab den wissenschaftlichen Anspruch des Blogs auf. Ich schreibe keine meist fachwissenschaftlich angebundenen Rezensionen mehr, sondern nur noch Kommentare zu Büchern, die ich lese, darunter hin und wieder auch Comics. Ich verfolge mein eigenes Projekt, das mehr als früher darin besteht, meine Beziehung zu den Menschen ins Zentrum zu stellen. Ich will klären, was mir wichtig ist am Menschen. Ich will wissen, was mich als Mensch ausmacht. In den letzten Jahren ging es mir hauptsächlich um die Wechselbeziehung zwischen Ich und Du.

Außerdem postete ich Gedichte. Ich kam zu der Einsicht, daß mit „Erkennt­nis­ethik“ nicht nur eine philosophische Anthropologie in der Nachfolge von Helmuth Plessner gemeint sein konnte. Es ging nicht einfach nur um die allgemeine Frage nach unserer Lebensführung. Ich habe jetzt ein Alter erreicht ‒ und die 15 Jahre „Erkennt­nis­ethik“ haben den Weg dazu bereitet ‒, wo ich dies vor mir selbst eingestehen kann: ich schreibe um zu überleben. Wenn ich aufhöre zu schreiben, höre ich auf zu leben.

* * *

Etwas hat sich in dem Umfeld, in dem ich meinen Blog schreibe, grundsätzlich geändert. In den letzten 15 Jahren hatte ich mich immer wieder gegen die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ gewandt, der des Denkens nicht mächtige KI-Möchtegernforscher zutrauen, dem Menschen irgendwann das Denken zu ersparen, weil sie es besser kann. Manchmal denke ich, daß sie es schon geschafft hat.

Inzwischen mag die KI zwar das Denken noch nicht ganz abgeschafft haben, aber Autorinnen und Autoren hat sie jetzt den Rang abgelaufen und ,generiert‛ selber Texte. Denken kann sie immer noch nicht, aber schreiben schon. Das nächste, was sie abschaffen wird, ist die menschliche Leserschaft, die ja schon längst auch die menschliche Textproduktion nicht mehr zu bewältigen vermag. Damit überhaupt noch gelesen wird, bedarf es also einer KI. ChatGPT braucht keine menschlichen Leserinnen und Leser. Sie liest sich selbst und produziert auf dieser Grundlage Texte, die sie wiederum selbst liest usw. Sie nimmt uns also nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen ab. Ich selbst habe schon Kommentare von ChatGPT bekommen und zunehmend taucht diese KI auch in der Sta­tistik meines Blogs auf.

Für wen schreibe ich also meinen Blog? ‒ Für mich selbst. Ich bin Autor und Leser meiner Texte in Personalunion.

* * *

Was also unterscheidet mich noch von ChatGPT? ‒ Vielleicht folgendes: In den letzten drei Jahren habe ich mir für meine Lektüre, statt neue zu kaufen, zunehmend Bücher aus meinem Regal geholt. Oft waren Bücher dabei, von denen ich glaubte, sie noch nicht gelesen zu haben und in denen ich Unterstreichungen und Rand­bemerkungen vorfand, die das Gegenteil belegten. Nach den Erscheinungsjahren zu urteilen, lag die Erstlektüre oft 30 bis 40 Jahre zurück, und ich hatte sie komplett vergessen. Anhand dieser Markierungen, insbesondere der Randbemerkungen, fiel mir auf, wie sehr ich mir in all diesen Jahren in meinem Denken treu geblieben bin, aber auch, wo sich nun die zweite Lektüre palimpsestartig über die Erstlektüre legt, manchmal sogar in einer dritten Schicht, daß ich doch über die früheren Denkschichten hinausgewachsen bin. Ich bin kein Hamster im Rad gewesen und nicht im Vorwärtshasten auf der Stelle verharrt. Das finde ich tröstlich.

Diese oft bis zu vierzig Jahre umfassende Denkgeschichte verlief ganz offensichtlich weitgehend unterhalb meines reflektierenden Bewußtseins. Deshalb hatte ich zwar keine Erinnerung an diese Lektüren, aber sie waren nicht wirkungslos geblieben.

* * *

Meine Beziehung zu den Büchern in meinen Regalen war immer auch recht ambivalent gewesen. Einerseits erwarb ich ständig neue Bücher, auf die ich neugierig war, die ich dann aber nicht las, weil ich sie, wie sich herausstellte, noch nicht verstehen konnte. So z.B. die drei Vernunftkritiken von Immanuel Kant. Oft fragten mich Bekannte, die vor meinen Regalen standen, ob ich die auch alle gelesen hätte. Eine typische Frage von Nichtlesern, die nicht verstehen können, daß es darauf gar nicht ankommt. Daß es oft wichtiger ist, ein Buch zu haben, als es zu lesen. Vor mir selbst habe ich mich immer damit getröstet, daß ich später mal, als Rentner, in einem Sessel vor einem Kamin sitzen würde, und alle die Bücher lese, die bis dahin ungelesen im Regal gestanden hatten. Auch Kant.

Das war die eine Seite meiner Bücherbeziehung. Die andere Seite war, daß ich Sorge hatte, im Leben zu kurz zu kommen. Daß mich die Bücher davon abhalten könnten, eine Freundin zu finden. Damals, als ich jung war, gab es noch keine social media, und Bücher galten als eine Droge, Lesen als eine Suchterscheinung. Bücherkritiker warnten vor „Eskapismus“. Michael Ende hatte ein Buch darüber geschrieben und nannte es „Die unendliche Geschichte“.

Tatsächlich war ich in den 1980ern eine Zeitlang versucht, mich all meiner Bücher zu entledigen, sie auf dem Flohmarkt zu verramschen oder so. Glücklicherweise kam es nicht dazu. Stattdessen lernte ich, Bücher so zu lesen, daß ich nicht jedesmal blind alles glaubte, was darin stand. Ich lernte, Bücher so zu lesen, daß ich meinen Verstand beim Lesen nicht ausschaltete, sondern mitdachte. Auf diese Weise sind sie für mich in einer für mich schwierigen Zeit zu meinen Lebensrettern geworden.

* * *

Und deshalb bleibe ich ihnen treu, in einer Welt, in der die Digitalisierung alle Lebensbereiche so umgestaltet hat, daß ich die Menschen nicht mehr wiedererkenne. Sie sind mir fremd geworden. Früher einmal hatte ich verstehen wollen, was es mit dem Menschen auf sich hat, weil ich ein Mensch unter Menschen sein wollte. Heute versuche ich nur noch, die Erinnerung daran zu bewahren, was Menschen einmal gewesen sind. In der Hoffnung, daß sie es irgendwann wieder sein werden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen