„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 26. Juni 2022

Geographische Thesen

Ländernamen sollten keine politische Bedeutung mehr haben. Sie sollten nur noch geographische Bezeichnungen sein.

Die Menschen, die dort leben, sollten zwar das Recht haben, sich politisch zu organisieren, aber nicht mehr als Staatsvolk begriffen werden. Sie haben eine Staatsbürgerschaft, mit der Rechte und Pflichten verbunden sind. Aber darüber hinaus sind sie nichts als nur Individuen. Vor allem sind sie kein Volk.

Mit solchen staatlichen Gebilden, die sich unabhängig von geographisch definierten Regionen aus dem Willen von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern ergeben, kann man keine Geopolitik betreiben.

Geopolitik ist nur eine Umschreibung für Imperialismus und Kolonialismus. Geopolitik ist ein Verbrechen an den Menschen, die sich überall auf dieser Erde politisch organisieren dürfen, ohne Rücksicht auf die Zufälle einer politisch oder völkisch aufgeladenen Geographie.

Ein Staat hat in der geographischen Region, in der er sich konstituiert, keinen Besitzanspruch auf das Land: nicht auf die Bodenschätze, nicht auf die Pflanzen, nicht auf die Tiere. Sie gehören der Zukunft eines bewohnbaren Planeten.

Geopolitik ist von Übel. Gäapolitik ist notwendig.

Wehrhaft ist der Staat nicht gegenüber Staatsfeinden oder ausländischen Mächten, sondern gegenüber allen, die Besitzansprüche auf das Land erheben.

Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind die Hüter des Landes.

Heimat ist ein unpolitischer Begriff.

Sonntag, 19. Juni 2022

PC-Exzeß zum dritten

Ich habe mich entschlossen, nicht weiter auf die Inhalte von „Rassistisches Erbe“ (2022) einzugehen. Es steht nichts drin, was ich als europäischer weißer Mann nicht schon wüßte; im Bewußtsein, daß all dieses Wissen nichts an dem kulturell subkutan einverleibten Rassismus ändert. Ich kann mein Verhalten ändern, aber nur wenig an Gedanken und Gefühlen, mit denen, über die Lebenswelt aufgesaugt, ich mich Zeit meines Lebens auseinanderzusetzen habe.

Nur noch kurz zu einigen der durchgestrichenen Unwörter: natürlich steht auch ‚Indianer‘ auf der Liste. (Leider stellt mir die Formatierungsleiste von blogspot keine Durchstreichfunktion zur Verfügung.) Letzte Woche war bei Bettina Tietjen im Abendstudio der Winnetou-Darsteller von den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg zu Gast. Es war gleichermaßen faszinierend wie erschreckend, zu sehen, wie der Schauspieler auf Tietjens unvermeidliche Frage zur politischen Korrektheit von Karl-May-Festspielen reagierte. Er fing an zu stottern und sein Gesicht spiegelte die blanke Angst, in die ihn diese Frage versetzte. Er versuchte nervös die Mayschen ‚Indianer‘-Geschichten zu harmlosen Märchen zu verniedlichen, hob ihren fiktiven Charakter hervor und verwies auf einen us-amerikanischen Indigenen – ‚Native‘ steht auf der Liste; wie übrigens auch ‚Häuptling‘ –, der wohlwollend vom Volksfestcharakter der Festspiele sprach und den Teilnehmern viel Freude und gute Unterhaltung wünschte. Dabei unterstrich der Schauspieler seine nervösen Äußerungen mit fahrigen Gesten und wischte sich den Angstschweiß an seinen Händen an den Hosenbeinen ab. Tietjen stand ihm so gut sie konnte bei und half ihm hier und da mit Stichworten weiter.

Dabei ist es gar nicht zu leugnen: Karl Mays Indianererzählungen, und nicht nur die, sind rassistisch. Ich selbst habe mich in diesem Blog dazu geäußert. (Vgl. meine Blogposts vom 19.02.2019 und 20.02.2019) – Das bringt mich zu zwei weiteren in den Listen durchgestrichener Unwörter aufgeführten Wörtern: ‚rot‘ und ‚gelb‘. ‚Rot‘ ist, wie auch ‚Gelb‘, ein Unwort, weil es eine Hautfarbe bezeichnet; oder besser: das Konstrukt einer Hautfarbe. Denn wirklich rote Menschen gibt es so wenig, wie es wirklich gelbe Menschen gibt. Warum aber gerade ‚rot‘ und ‚gelb‘? Warum nicht auch ‚weiß‘ und ‚schwarz‘? Auch diese beiden Wörter bezeichnen auf die menschliche Haut bezogene Farb-Konstrukte. Und gerade ‚weiß‘ erfüllt ja wohl auf besondere Weise alle Kriterien eine Unworts! Warum also gerade ‚weiß‘ nicht?

Susan Arndt liefert eine Begründung dafür. (Vgl. Arndt 2022, S.212f.) Diese Begründung ist pädagogisch: um sich als weißer Europäer – ich beschränke mich hier auf die männliche Form, weil nur weiße heterosexuelle Männer weitgehend diskriminierungsfrei durchs Leben gehen können – anti-rassistisch zu positionieren, können wir auf den Terminus ‚weiß‘ nicht verzichten. Wir müssen ihn vielmehr so oft wie möglich nutzen, um mit seiner Hilfe unsere Sonderposition reflektieren zu können. Obwohl es also ein Unwort ist, wird es nicht in die Liste durchgestrichener Unwörter aufgenommen.

Was aber nun die tatsächlich aufgeführten Unwörter ‚rot‘ und ‚gelb‘ betrifft: sind jetzt nur diese Wörter verboten oder auch die Farben, die sie bezeichnen? Sind jetzt nur noch blau, weiß und schwarz erlaubt? Welche Konsequenzen hat das für die Malerei? Muß ich aus meinem Farbdrucker Gelb und Magenta entfernen? – Schließlich denke ich an die Wörter ‚rot‘ und ‚gelb‘ auch dann, wenn ich etwas Rotes und Gelbes sehe; auch wenn ich diese Farbwörter nicht ausspreche.

Aber vielleicht reicht es ja, wenn ich diese Wörter einfach nicht mehr auf die Haut beziehe. Dem kann ich zustimmen.

Samstag, 18. Juni 2022

PC-Exzeß zum zweiten

Wie liest man ein Buch, wo man, vorsichtig geschätzt, in jedem zweiten Absatz auf einen typographischen Warnblitz stößt? Nehmen wir mal an, ich hätte tatsächlich eine entsprechende Empfindlichkeit, so müßte für mich der Text, wo immer mich Warnzeichen zum Weggucken auffordern, Lücken aufweisen, vergleichbar den geschwärzten Passagen in IM-Dokumenten aus dem Stasiarchiv. Ich müßte also mit einer äußerst unvollständigen Lektüre vorliebnehmen.

Wäre es da nicht besser gewesen, einfach dem ganzen Buch eine Triggerwarnung voranzustellen, wie bei den FSK-Hinweisen für nicht jugendfreie Publikationen? Dann würden sowieso nur diejenigen Leserinnen und Leser das Buch lesen, die ihm psychisch und intellektuell gewachsen sind.

Inhaltlich scheint, so weit ich bis jetzt gelesen habe, alles korrekt zu sein, bis auf jene Stelle, wo von „Deutschlands Wirtschaftsminister Christian Lindner“ die Rede ist. (Vgl. Arndt 2022, S.31) Gestern jedenfalls war er meines Wissens noch Bundesfinanzminister gewesen.

In der Einleitung thematisiert die Autorin ihre eigene Person, um, wie ich vermute, Vorwürfen zu begegnen, daß sie als weiße Frau gar nicht berechtigt sei, über Rassismus zu schreiben. Deshalb hebt sie selbst genau diesen Umstand hervor: „Ich wurde vom Rassismus (anders als im Rest des Buches erstaunlicherweise nicht durchgestrichen – DZ) als weiße Person sozialisiert.“ – Und sie gesteht noch im selben Absatz ein: „Damit bin ich diskriminierender Teil des systemischen Rassismus (wieder nicht durchgestrichen – DZ) und seiner Sprache.“ (Arndt 2022, S.12)

Ich hätte ja noch gerne gewußt, ob sie zur LGBTQ-Gemeinde gehört, was ja wegen der damit verbundenen Diskriminierungserfahrungen ein Pluspunkt für die Autorin wäre, oder ob sie vielleicht (Triggerwarnung!) heterosexuell orientiert ist, was ihre Verstrickung in systemisches Unrecht noch erheblich vergrößern würde. Immerhin, das Wort ‚heterosexuell‘ taucht in den Listen durchgestrichener Unwörter nicht auf. (Vgl. Arndt 2022, S.6f. und S.221f.) Aber ich gehe mal davon aus, daß diese Listen nicht vollständig sind.

Freitag, 17. Juni 2022

PC-Exzeß

In der Buchhandlung fiel mir heute ein Buch ins Auge, das mir beim Durchblättern so kurios vorkam, daß ich es gleich kaufte und mitnahm. Es handelt sich um das im Dudenverlag herausgegebene Buch „Rassistisches Erbe. Wie wir mit der kolonialen Vergangenheit unserer Sprache umgehen“ (2022) von Susan Arndt, Professorin für englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Aus der Lektüre des Vorworts und der Einleitung geht hervor, daß die Autorin in ihrem Buch die political correctness bis ins Detail durchdekliniert hat, was auch das verwunderliche Erscheinungsbild des Textes erklärt. Angefangen von der gendergerechten Sprache – gegen die ich eigentlich nichts einzuwenden habe, solange ich reden und schreiben darf, wie ich es für richtig halte – über die als Unwörter kenntlich gemachten rassistisch belasteten Wörter, die nur durchgestrichen im Textbild erscheinen dürfen, bis hin zu Triggerwarnungen in Form von typographischen Warnblitzen. Auf jeder Seite wird durch diese Warnblitze auf potenzielle Empfindlichkeiten Rücksicht genommen und aufgrund der bedauerlichen Unkontrollierbarkeit von Leserinnen und Lesern deren Denken mit Hilfe der Durchstreichungen so viel wie möglich vorweg gesteuert, bevor sie überhaupt die Chance haben, einen Satz zuende zu lesen. Sogar in Zitaten dürfen die Unwörter nicht undurchstrichen bleiben, was besonders heikel ist, weil an der Unantastbarkeit von Zitaten der ganze Wissenschaftlichkeitsanspruch geisteswissenschaftlicher Forschung hängt, die es, was diesen Anspruch betrifft, ohnehin schwer hat, von den Naturwissenschaften ernstgenommen zu werden. Ich bin fasziniert und gespannt auf die weitere Lektüre. Dies ist das erste Buch, das ich in Händen halte, das von der Autorin selbst zensiert worden ist, bevor ein Zensor (oder Rezensent) die Gelegenheit hatte, Hand daran zu legen.

Sonntag, 12. Juni 2022

Glück statt Würde?

Nach meinem letzten Blogpost zum Podcast „Lanz & Precht“ habe ich mir nun auch Prechts Buch „Von der Pflicht. Eine Betrachtung“ (2021) gekauft und gelesen. Dieses Buch ist wie bislang alle Bücher, die ich von Precht gelesen habe, kenntnisreich geschrieben, man lernt einiges über antikes und modernes politisches Denken, und es beinhaltet einen klaren Standpunkt. Aber zur Schattenseite gehören zahlreiche Verkürzungen und begriffliche Ungenauigkeiten, die der schwungvollen, launigen Formulierkunst des Autors geschuldet sind. Von einem Philosophen hätte ich mir mehr Arbeit am Begriff erwartet, auch im Rahmen eines Essays und auch wenn das bedeutet hätte, Abstriche an der Lesbarkeit des Essays zu machen.

Vor allem das erste Kapitel hat mich enttäuscht. (Vgl. Precht 2021, S.7-34) Über weite Passagen des Textes hinweg fehlt die Reflexion von Begrifflichkeiten völlig. Der Text erschöpft sich darin, die verschiedenen Gedankenverwirrungen der heutigen ‚Querdenker‘ langatmig und ironisch nachzuerzählen. Das führt zu begrifflichen Kurzschlüssen, wie z.B. beim Wahrheitsbegriff: „Letzte Evidenz für absolute Wahrheit ist die Authentizität, mit der sie gefühlt wird.“ (Precht 2021, S.31f.)

So vereinzelt wie dieser auf die ‚Querdenker‘ gemünzte Satz ohne weitere Ergänzung in den Raum gestellt ist, frage ich mich als Leser, was Precht mir damit sagen will? Wie steht Precht zum Wahrheitsbegriff? Ist er vielleicht der Meinung, daß es so etwas wie absolute Wahrheit gibt, vielleicht nicht im Sinne Platons, aber vielleicht im Sinne heutiger Faktengläubigkeit (als wären Fakten der Notwendigkeit, interpretiert zu werden, enthoben), und daß die ‚Querdenker‘ nur auf falsche Weise, nämlich gefühlsmäßig an Wahrheit glauben? Wie steht Precht zum Pluralitätskonzept von Hannah Arendt? – An solchen Stellen habe ich den Eindruck, daß Precht nur holzknüppelartig auf die ‚Querdenker‘, die für ihn ein bequemes Opfer bilden, eindrischt, ohne dem philosophischen Anspruch seiner Thesen zum Pflichtbegriff gerecht zu werden.

Noch so eine problematische Stelle: „Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht wertneutral und ihr Grundgesetz kein moralisch unbeschriebenes Blatt.“ (Precht 2022, S.37) – Da der Staat durch das Grundgesetz definiert wird, muß ich daraus schließen, daß das Grundgesetz nicht wertneutral ist. Das ist aber definitiv falsch. Das Grundgesetz soll nach weitgehend übereinstimmender Aussage der Verfassungsrechtler vor allem sicherstellen, daß die Bürger ihre eigenen Werte leben dürfen, weshalb der Staat sich aus allen Wertentscheidungen herauszuhalten hat. Es geht um Schutzrechte für Bürgerinnen und Bürger. Das ist der Kern der Verpflichtung des Staates auf Wertneutralität!

Diese Wertneutralität kann man natürlich auch als eine Art ‚Wert höherer Ordnung‘ verstehen, aber dann handelt es sich um einen formalen Wert, dessen materiale Füllung mit konkreten gelebten Werten jeder einzelnen Bürgerin, jedem einzelnen Bürger überlassen bleibt. Nun führt Precht genau solche formalen Prinzipien, wie sie vor allem die staatliche Organisation betreffen, als Werte an, die belegen sollen, daß der Staat nicht wertneutral sei: „Staatsstrukturprinzipien, das Sozialstaatsprinzip, das Bundesstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip“. (Vgl. Precht 2021, S.37)

Zugegeben, das Sozialstaatsprinzip geht über das rein Organisatorische hinaus. Zusammen mit den „Staatszielen“, die Precht ebenfalls nennt, haben wir es hier tatsächlich mit materialen Werten zu tun. Hier werden über die Bürger hinweg Wertentscheidungen getroffen. Das ändert aber nichts daran, daß die Wertneutralität des Staates ein hohes Verfassungsgut ist. Hier kommen wir in den Bereich der Güterabwägung hinein, die dazu führt, daß die Fürsorgefunktion des Staates legitimerweise seine Wertneutralität bis zu einem gewissen Grad einschränken darf.

Was hingegen niemals Teil der staatlichen Güterabwägung sein darf, ist die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Als ‚Wert‘ kann man diese Menschenwürde eigentlich gar nicht bezeichnen, obwohl sie gemeinhin gerne als oberster Wert, der über allen anderen ‚Werten‘ steht, bezeichnet wird. Tatsächlich läßt das Grundgesetz keine Relativierung der Menschenwürde zu, anders als bei den anderen Grundrechten (‚Werten‘), die das Grundgesetz aufführt. Kant hat die Würde des Menschen begrifflich daran festgemacht, daß wir den Menschen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Selbstzweck behandeln müssen. Diese Gleichzeitigkeit von Mittel und Selbstzweckhaftigkeit ist ein Spagat und im täglichen Leben schwer umzusetzen. Deshalb gerät die Menschenwürde ja auch so leicht unter die Räder. Sie wird dann eben doch wieder relativiert.

Die ganzen im Grundgesetz aufgeführten Grundrechte dienen letztlich nur dazu, genau das möglichst zu verhindern. Denn sie alle hängen irgendwie mit der Menschenwürde zusammen. Und sie alle sind formaler Natur! Keines legt fest, wie die Bürgerinnen, Bürger, ihr Leben zu führen haben.

Nehmen wir die verschiedenen ‚Freiheiten‘: Meinungsfreiheit, Forschungsfreiheit, das Recht auf freie Persönlichkeitsentwicklung etc. Freiheit ist letztlich die Luft, die die Menschenwürde zum Atmen braucht, der Raum, um sich zu entfalten. Ohne Freiheit keine Würde. Die grundgesetzlich garantierten Freiheiten gewährleisten, daß Menschen nicht zu Mitteln der Willkür von Institutionen gemacht und rücksichtslos gesellschaftlichen Zwängen unterworfen werden. Wenn aber z.B. Gegner des Tempolimits von der freien Fahrt für freie Bürger schwafeln, fragt man sich zu Recht, was das mit der Menschenwürde zu tun hat. Freiheit und Würde haben einen tieferen, genuin menschlichen Sinn. Es ist Aufgabe unserer Lebensführung, herauszufinden welchen.

Wenn das Grundgesetz die Menschenwürde zum einzigen ‚Wert‘ erhebt, der keiner Relativierung unterliegt, keiner Güterabwägung, sagt das etwas über das Menschenbild des Grundgesetzes aus. Dieses Menschenbild stellt Individualrechte ins Zentrum, und erst in zweiter Linie kommen auch Gruppenrechte zur Sprache. Precht aber erklärt dieses Menschenbild mit Verweis auf Kant für veraltet! (Vgl. Precht 2021, S.73) Kant, so Precht, der der Urheber des modernen Begriffs der Menschenwürde ist, lebte noch in einer Zeit, wo das Lebensrecht und das Glück des einzelnen Menschen nichts zählten. Die Menschen waren Ständen, Zünften, Religionsgemeinschaften und nicht zuletzt Fürstentümern zugeordnet. Um sie vor staatlicher bzw. fürstlicher Willkür zu schützen, entstand die Vorstellung von Menschenrechten, die in den Anfängen vor allem weißen Männern vorbehalten waren, aber nach und nach universalisiert wurden.

Lebte Kant heute, so suggeriert Precht, entschiede er sich wohl eher für das Glück als höchstem Wert. (Vgl. Precht 2021, S.73) Was Precht hier verschweigt, ist, daß bei Kant das Glück eng mit der Würde zusammenhängt. Lebte Kant heute, würde er sich also wohl eher fragen, ob die Menschen heute, die den Planeten zugrunderichten und auf Kosten der nachfolgenden Generationen leben, überhaupt glückswürdig sind.

Jedenfalls behauptet Precht, daß die heutigen Demokratien sich vor allem durch ihre Fürsorge, ihren Einsatz für das Glück von Bürgerinnen und Bürgern legitimieren. Deshalb sei die Bundesrepublik Deutschland ja auch ein Wohlfahrtsstaat. (Vgl. Precht 2021, S.38f.) Precht zeichnet hier geradezu paradiesische Verhältnisse in den westlichen liberalen Demokratien, und würde er das nicht später durch eine realistischere Darstellung der engen Verbindung zwischen Wohlfahrtsstaat und modernem Kapitalismus wieder ins rechte Bild rücken (vgl. Precht 2021, S.117-140), nähme ich ihm das wirklich übel.

Aber der Umstand bleibt bestehen, daß Precht die Menschenwürde als oberstem Grundwert durch das Glück ersetzt sehen möchte.

Kommen wir zum letzten Punkt, den ich Precht vorwerfe. Im Zusammenhang mit dem Glückskonzept führt Precht Foucaults Begriff der Biopolitik ein. (Vgl. Precht 2021, S.42ff.) Der Staat soll sich um das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger sorgen, also, so Precht, ‚Biopolitik‘ betreiben. Damit öffnet Precht die Büchse der Pandora, denn ich bezweifle sehr, daß man zwischen einer guten (um das Leben der Menschen besorgten) Biopolitik und einer faschistischen (das Auslöschen lebensunwerten Lebens besorgenden) Biopolitik unterscheiden kann. Beide sind, auf verschiedene Weise, gefährlich. Jede Biopolitik führt letztlich zum Ende einer die individuelle Lebensführung respektierenden staatlichen Wertneutralität.

Das macht den Pflichtbegriff, dem Precht seinen Essay gewidmet hat, so problematisch. Das Zentrum des Prechtschen Verständnisses von Biopolitik bildet ein Gewebe wechselseitiger Pflichten zwischen Staat und Bürgern. Dieses Pflichtverständnis soll, wie Precht mit Verweis auf Cicero schreibt, die Grundlage alles (politischen) Handelns bilden. (Vgl. Precht 2021, S.89) Später ergänzt Precht, daß die von ihm gemeinte Pflichterfüllung nicht ohne phronesis, also nicht ohne Urteilskraft zu haben ist. (Vgl. Precht 2021, S.95) Wie Precht selbst, wieder an einer anderen Stelle – man muß sich diese Stellen mühsam zusammensuchen –, hervorhebt, ist diese Urteilskraft eine genuin individuelle Leistung: „Jeder Staatsbürger hat das moralische Recht, ja sogar die moralische Pflicht, sich zu entpflichten, wenn die (staatlich – DZ) angewiesene Pflicht der humanitas widerspricht!“ (Precht 2021, S.103) – Es gibt sozusagen eine individuelle Pflicht zum „Widerstand gegen staatliche Willkür“. (Vgl. ebenda)

Kant spricht hier von der Autonomie des individuellen Verstandes, und Hannah Arendt macht aus genau diesen Gründen die individuelle Urteilskraft – und nicht die Pflicht – zur eigentlichen Grundlage politischen Handelns. Wenn hier von Pflicht die Rede wäre, dann nur im Sinne einer Pflicht zum denken!

Der immensen politischen Bedeutung, die hier der Urteilskraft und dem individuellen Verstand zuwächst, widerspricht der Begriff der Biopolitik.

Ein Beispiel für gute Biopolitik ist Precht zufolge das Agieren des Staates während der Corona-Pandemie: „Die moderne Biopolitik in der Covid-19-Pandemie ist nicht, wie vielfach plakatiert, ‚der größte Zivilisationsbruch seit 1945‘, sondern der Versuch, einen solchen durch massenhaftes leichtfertiges Sterbenlassen zu verhindern.“ (Precht 2021, S.54)

Genau mit diesen Worten können aber auch sogenannte Lebensschützer gegen Abtreibung argumentieren und sich gerechtfertigt fühlen, gewalttätig gegen schwangere Frauen vorzugehen. In beiden Fällen, in Sachen Pandemie und in Sachen Abtreibung, haben wir es mit Individualrechten zu tun, mit Rechten des Individuums gegen Gesellschaft und Staat! Im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs geht es um die Individualrechte einer lebendigen Person gegenüber den Individualrechten eines Embryos, das ohne diese Person überhaupt nicht lebensfähig wäre. Egal, in welche Worte man diesen Sachverhalt zu fassen versucht – ich habe meine Worte gewählt – hier müssen offensichtlich Rechte und Werte ausgehandelt werden, und in diesem Aushandlungsprozeß hat das Embryo seine Lobby. Aber die schwangere Frau hat nur eine Lobby: das Grundgesetz.

Biopolitik unterscheidet nicht zwischen Schutzbedürftigen in einer Pandemie und Schutzbedürftigen bei einem Schwangerschaftsabbruch. Biopolitik hat in beiden Fällen nichts zu suchen.

Precht verhandelt aber nun den Pflichtbegriff auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Biologie (Recht auf Leben) und auf der Ebene der Gesellschaft (Solidarität). Die individuelle Urteilskraft thematisiert er, anders als Hannah Arendt, nur als Ergänzung zum Pflichtbegriff (vgl. Precht 2021, S.95, 98, 102f., 104), während er die individuellen Schutzrechte des Grundgesetzes als veraltet darstellt. So gerät ihm alles politische Handeln zu einem Entweder-Oder, ohne Ausblick auf ein mögliches Drittes: „massenhygienisches Verhalten“ (gut) oder Rebellion dagegen (schlecht), Solidarität (gut) oder Auslese (schlecht), Verantwortung oder Verantwortungslosigkeit. Alles aber, so Precht, gut oder schlecht, ist Biopolitik. (Vgl. Precht 2021, S.62f.) Man soll sich für die gute Biopolitik entscheiden.

Dem kann ich nicht folgen.

Freitag, 10. Juni 2022

Zum Thema ‚Pflicht‘ bei Lanz & Precht

Das Thema des heutigen Podcasts von Lanz & Precht, „Pflicht“, der mich dazu motiviert, mir jetzt doch mal das gleichnamige Buch von Precht zu kaufen, trifft mich an einer empfindlichen Stelle: meiner querköpfigen Einstellung zur Gesellschaft und zum Staat. (Als Adjektiv wird das anrüchige Wort in diesem Satz vielleicht erlaubt sein.)

Ich hatte schon in einem früheren Blogpost Lanz seine staatsbürgerliche Befindlichkeit übel genommen, weil er glaubte, sich für die öffentliche Zurückhaltung des Bundeskanzlers bei der Verwendung bestimmter Begriffe zur Ukraine schämen zu müssen. Mir gehen solche Empfindlichkeiten gegen den Strich. Ich wittere da immer gleich die Wiederkehr des unsäglichen Volkbegriffs.

Jetzt stellt Precht aber die gesellschaftlichen und eben auch staatsbürgerlichen Pflichten in einen Kontext, für den ich eigentlich den Begriff der Achtsamkeit reserviert habe: er spricht, Nietzsche zitierend, von „Rechten der Anderen auf mich“! Wenn Precht den Begriff der Pflicht so faßt, kann ich eigentlich nicht anders als zuzustimmen.

Problematisch wird es dann aber gleich wieder, wenn Precht die Abschaffung der Wehrpflicht und mit ihr des Zivildienstes bedauert, weil diese Institutionen einmal dazu beigetragen hatten, das Bewußtsein des jungen Menschen für seine gesellschaftliche Verantwortung zu schärfen; dafür daß das Staatsbürgersein sich nicht darin erschöpft, Steuern zu zahlen. Oder dafür sich nicht als Kunde zu verstehen, der sich per Paketdienst freihaus vom Wohlfahrtsstaat seine sozialen Rechte liefern läßt (meine Formulierung).

Das wird im Gespräch zwischen Lanz und Precht natürlich gleich mit den Pflichten des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern gekontert, der sich nicht damit begnügen darf, alle sozialen Aktivitäten und Lebensangelegenheiten zur Privatsache zu erklären, sondern selbst etwas zur gesundheitlichen und sozialen Grundversorgung beizutragen hat.

So weit verlief das Gespräch sehr ausgeglichen und ‚schrammte‘ immer wieder gekonnt über die verschiedenen Klippen, die unterhalb des Staats- und Pflichtbegriffs verborgen sind, hinweg. Ich will da auch gar nicht weiter ins Detail gehen. Selbst dort, wo Precht auf den Ehrbegriff früherer aristokratisch organisierter Gesellschaften rekurrierte und ihn durch einen demokratisch gefaßten Pflichtbegriff ersetzt wissen wollte, zuckte ich nur kurz zusammen, weil ich von dessen Einbindung in den Kontext der Achtsamkeit fasziniert war.

Dann aber kam der Moment, wo Precht sich für ein zweites soziales Jahr für Rentner einsetzte. Mit dem ersten ist – angesichts von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine – die Wiedereinführung der Wehrpflicht  gemeint, in Verbindung mit einem allgemeinen verpflichtenden sozialen Jahr auch für Frauen und Wehrdienstverweigerer.

Ich bin gerade seit drei Monaten Rentner und habe viel zu viel Zeit. Wenn ich alles gemacht habe, was ich auch vorher schon immer gemacht habe, bleibt immer noch zu viel Zeit vom Tag übrig, wo mir einfach nichts einfällt, was ich sinnvoller Weise tun könnte. Das halbe Jahr, bevor ich in Rente ging, wurde ich von Kolleginnen und Kollegen, im Freundeskreis, überhaupt von allen möglichen Leuten, mit denen ich so ins Gespräch kam, gefragt, was denn so meine Pläne seien für die Zeit ‚danach‘. Und weil mir dann immer nichts einfiel, dachte ich mir was aus: wieder an der Uni Seminare oder Vorlesungen zu geben und/oder einmal die Woche auf dem Domplatz in Münster eine Stunde lang eine Mahnwache für ein Offline-Leben zu halten.

Was die Mahnwache betrifft habe ich mir das schon im Detail ausgemalt. Ich wollte mich da einfach nur hinstellen, mit meinem Fahrrad und einem Schild: „Offline – selber leben, selber denken“ – und darauf warten, daß mich irgendwelche Leute ansprechen, und mir anhören, was sie mir zu sagen haben. In einem Korb auf dem Fahrrad hätte ich dann noch ein Bündel Flugblätter zu Themen rund um die Digitalisierung.

Je mehr ich mir (und anderen) das ausmalte, um so mehr Lust hatte ich darauf. Und jetzt ist es so, wie es bislang immer in meinem Leben war. In der Phantasie hatte ich mir mit großer Befriedigung irgendwas ausgemalt, und wenn es dann ans Umsetzen ging, fehlte doch wieder der Wille.

Vielleicht wäre dieses zweite soziale Jahr doch eine ganz gute Sache für Leute wie mich. Allerdings müßte man mir dann ein Smartphone zur Verfügung stellen. Ich wäre sonst zu nichts zu gebrauchen.

Samstag, 4. Juni 2022

Neutrale Vermittler?

Wenn SPD-Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich China als neutralen Vermittler zwischen Rußland und der Ukraine für geeignet hält, weil sich China bei einer Verurteilung Rußlands in der UNO ‚zurückgehalten‘ habe, während Deutschland sich zugunsten der Ukraine positioniert habe, dann wird daran überdeutlich, wie sehr sich die SPD in ihre frühere Rußlandpolitik verstrickt hat und wie schwer es ihr fällt, sich davon zu befreien. Sie kann den Ausweg aus dem Putinschen Angriffskrieg gegen die Ukraine nur in den Kategorien eines ‚Handels‘ mit einem mit Putin gleichgesetzten Rußland denken.

Natürlich bildet ‚Handel‘‚ also Diplomatie, ein Wesensmerkmal vor allem der Außenpolitik. Und ,Wahrheit‘ hat in der Politik immer einen prekären Status und gehört eigentlich nicht dahin. Insofern mag die Tatsache, daß Putin den Krieg durch seinen Einmarsch in die Ukraine begonnen hat, keine ‚politische‘ Bedeutung haben. Politisch interessant ist ausschließlich die Frage, wie dieser Krieg beendet werden kann. Und an der im eigentlichen Sinne politischen Frage nach einem möglichen Ende des Krieges gibt es nichts moralisch Anrüchiges.

Aber politische Systeme wie das in China als ‚neutrale‘ Verhandlungsführer in Betracht zu ziehen, nur weil sich chinesische Vertreter eines selbst zutiefst inhumanen politischen Systems bei UNO-Beschlüssen nicht gegen Putin positioniert haben, ist blanker Hohn und nur möglich, weil SPD-Politiker wie Mützenich (noch) nicht zu einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Rußlandpolitik in den letzten 22 Jahren fähig sind. Ein Verhandlungsführer, der die Augen vor Putins Verantwortung für die russischen Kriegsverbrechen verschließt und sogar selbst für notorische Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, wäre nicht neutral.

Allerdings ist die deutsche Opposition nicht besser. Weder die CDU, noch die Linke, noch die AFD können sich der eigenen Verantwortung für diesen Krieg entziehen. Es gibt, wenn ich das richtig sehe, nur eine Partei im Bundestag, die sich hier nichts vorzuwerfen hat.

PS: Auch in diesem Blogpost wimmelt es wieder von Worten, die zu groß sind, um wahr zu sein. ‚China‘, ‚Deutschland‘, , Rußland‘ – man möge es mir nachsehen. Ich versuche, sie immer wieder einzufangen und ihre Größe zu reduzieren.