Als ich Klaus Theweleit als Autor entdeckte und schätzen lernte, geschah das über die Lektüre von „buch der könige. orhpheus und eurydike“ (1988/1992). Mich beeindruckte die Verbindung von Technikgeschichte und Bewußtseinsbildung. So lernte ich auch erstmals den Namen „Friedrich Kittler“ kennen, auf den Theweleit als seinen wichtigsten Gewährsmann immer wieder verwies. Später, sehr viel später, las ich dann auch Kittler selbst; aber trotz seiner beeindruckenden Technik-Psycho-Geschichte des 19. und 20. Jhdts. enttäuschte mich die Lektüre zutiefst. Ich war geradezu entsetzt, als ich Kittlers zutiefst menschenfeindlichen Antihumanismus zur Kenntnis nehmen mußte.
Aber Theweleit lockte mich über die Jahrzehnte weiterhin, obwohl ich in dieser langen Zeit immer wieder anderen Autorinnen und Autoren den Vorzug gab. Um seine „Männerphantasien“ (1977/1989) machte ich einen großen Bogen. Der Titel bereitete mir Unbehagen, und ich war noch nicht bereit, mich darauf einzulassen.
Als ich mich dann endlich den „Männerphantasien“ zuwandte, war gerade eine Neuausgabe (2019) dieses zweibändigen Werks erschienen. Dazu gleich mehr.
Ich blieb bei meiner Ausgabe von 1989, die seit drei Jahrzehnten in meinem Bücherregal ein wenig gammelig geworden war, las sie zunächst gründlich von Seite zu Seite und begann dann Seiten zu überspringen und mir schließlich einige Kapitel herauszupicken. Theweleit befaßt sich als Literaturwissenschaftler ausgiebig mit Tagebüchern und Schriften der Freikorps in den frühen Jahren der Weimarer Republik nach dem ersten Weltkrieg. Aus dieser Lektüre entwickelt er ein Männerbild, das über den Faschismus in Nazideutschland bis ‚heute‘, also die ausgehenden 1970er reicht; und – wenn man das Nachwort der Neuausgabe liest – Theweleit zufolge bis heute andauert.
An dieser Stelle, als ich das Nachwort (2019) las, beendete ich die Lektüre von „Männerphantasien“. Ich habe in meiner Lieblingsbuchhandlung in Münster in die Neuausgabe reingeschaut. Und da bin ich dann tatsächlich erschrocken. Theweleit geht in dieser Neuausgabe tatsächlich so weit, zu behaupten, daß ‚normale‘ Liebesbeziehungen wichtiger seien als der Kampf gegen den Klimawandel. – Wie kann man nur diese zwei fundamental verschiedenartigen Sachverhalte auf eine Ebene stellen und dann auch noch in eine Rangordnung bringen? Der Kampf gegen den Klimawandel ist eine gesamtgesellschaftliche, menschheitliche Aufgabe. Liebesbeziehungen hingegen sind etwas zutiefst privates und nach meinem Verständnis etwas zwischen zwei Menschen, was natürlich subjektiv auch anders gewertet werden kann und wird. Aber ob zwei, drei oder mehr in so ein Liebesverhältnis einsteigen: es ist privat, also intim, und nichts Öffentliches.
Es ist die Crux des Postfeminismusses, daß er diese Ebene des Ich = Du politisiert. Öffentlich bzw. gesellschaftlich kann zwischen zwei Menschen nichts gerettet werden, weil die Gesellschaft dort nichts zu suchen hat. Nicht umsonst darf es zwischen Therapeuten und Klienten keine intime Beziehung geben, und es gilt strengste Verschwiegenheit gegenüber Dritten.
So weit dazu. Darüberhinaus entsetzte mich, daß Theweleit in seinem Nachwort die Grundgesetzformel von der Unberührbarkeit der Menschenwürde als „abstrakt“ und gar als „Luftblase“ bezeichnet. Wie kann man nur, wie Theweleit es tut, „Würde“ und „Respekt“ als Luftblasen bezeichnen? – Als wenn mit den Wörtern „Haut“ und „Zärtlichkeit“, die Theweleit alternativ vorschlägt, irgendetwas gewonnen wäre. Wenn er kein Gefühl dafür hat, daß Würde weit über Zärtlichkeit hinausgeht, ist ihm nicht mehr zu helfen. Es erinnert mich an die unsägliche Formulierung von Erich Fromm in „Die Kunst des Liebens“: wer es nicht dazu bringt, zurückgeliebt zu werden, so Erich Fromm, sei impotent. Liebe und Potenz: einfach dasselbe? – Respekt mit Zärtlichkeit, Liebe mit Potenz gleichzusetzen, führt auf direktem Weg zum pädagogischen Eros und zum Mißbrauch.
Wie schon erwähnt, besteht das Material von Theweleit in Texten und (Auto-)Biographien von Freikorpsmännern. Sein literaturwissenschaftliches Herangehen an diese Texte ist vor allem psychoanalytisch, angelehnt an Freud, was seine Berechtigung hat. Dabei spielt der Begriff des „Partialobjekts“ eine zentrale Rolle. Wenn Freud die Objektbeziehung über ganze, also nicht-partiale Objekte definiert, also die Mutter und nicht die Mutterbrust, dann beinhaltet das eine die ganze Gestalt eines Objekts umfassende Wahrnehmung. Diese Gestaltwahrnehmung ist aber immer individuell. Wir haben es also mit einem individuellen bzw. individualisierten Objekt zu tun. Das beinhaltet eine komplexe Objektbeziehung, die schon als solche nur symbolisch zu vermitteln ist, also eine Differenz von Meinen und Sagen beinhaltet.
Das Partialobjekt hingegen hat nichts Individuelles. Die Mutterbrust ist nur zum Saugen da; auf bloße Funktionalität reduziert. Deleuze/Guattari bezeichnen den Bezug zum Partialobjekt als ‚maschinell‘. (Vgl. Theweleit 1989, Bd.1: S.216) Das Unbewußte bezeichnen sie entsprechend als „Wunschmaschine“. Nun ist es seltsamerweise genau das, wofür sich Theweleit ganz besonders zu erwärmen vermag. An dieser Stelle wird verständlich, wieso der Antihumanist Friedrich Kittler so eine zentrale Rolle bei ihm spielt. Seitenweise läßt sich Theweleit über die Maschinenfeindlichkeit des Bildungsbürgers aus und bringt sein Unverständnis dafür zum Ausdruck. (Vgl. Theweleit 1989, Bd.1, S.262ff.) Er beklagt sich über die „Negativierung des ‚Maschinellen‘“ in der bürgerlichen Umgangssprache und im bürgerlichen Denken. (Vgl. Theweleit 1989, Bd.1, S.264) Da die Maschinen nicht über die Fähigkeit verfügen, sich gekränkt zu fühlen, muß man sich fragen, warum es Theweleit – stellvertretend für die Maschinen – ist. Jedenfalls ist die angebliche Maschinenfeindlichkeit der ‚Bürger‘ schon lange her. Wenn man sich heute so umschaut, quer durch alle Milieus, bürgerlich oder nicht, können wir alle uns gar nicht genug darin tun, unseren Alltag mit Technologie vollzustopfen. – Die freudianische Gleichsetzung des Unbewußten mit der Maschine hat es Theweleit so sehr angetan, daß er sich aufgrund der vermeintlichen Herabsetzung der Maschine im bürgerlichen Diskurs in seinem eigenen Unbewußten gekränkt fühlt.
Theweleits Sprache hat tatsächlich etwas Hinterhältiges. Und das bei jemandem, der die Sprache der Faschisten so luzide zu analysieren vermag! Als alternative ‚Quelle‘ für eine Sprache, die anders als Freud nicht darauf aus ist, Sümpfe trockenzulegen, sondern die Ströme (und Ozeane) fließen zu lassen, will er sich, so kündigt er an, auf Schriftsteller beziehen, „in deren Schriften bestimmte Flüsse zu Hause sind, auf denen der Leser“ – und jetzt kommts! – „mittreiben mag oder sich sperren, je nachdem ...“ (Vgl. Theweleit 1989, Bd.1: S.265)
Das Hinterhältige an dieser Stelle ist die Unterstellung, daß diejenigen Leser, die seiner Argumentation nicht zu folgen vermögen, ein Problem haben; schlimmstenfalls ein Faschismus-Problem. Perfide sind auch die drei Auslassungspunkte, die den Lesern selbst die Entscheidung überlassen, was auf sie zutrifft. Genau diese Pünktchen-Grammatik hatte Theweleit übrigens bezeichnenderweise an anderer Stelle den Freikorpsautoren zum Vorwurf gemacht.
Begriffe und Metaphern in Theweleits zweibändigem Werk passen nicht zusammen. Theweleit will erklärtermaßen alles Feste in Flüssiges überführen; es zum Fließen bringen. Er hat etwas gegen das individuelle Ich, das er mit Verweis auf Freuds „Topik von Ich/Es/Über-Ich“ „als trockenes Grab für die Ströme und die Wunschmaschinen“ bezeichnet (vgl. Theweleit 1989, Bd.1: S.265); dem er also mit anderen Worten vorwirft, sich der Auflösung ins ozeanische Strömen zu verweigern.
Theweleit bezeichnet, mit Verweis auf Foucault, dieses anscheinend heterosexuell geprägte Individuum „als Produkt einer Einsperrung“, dessen Anus penetriert werden muß, um ihm ein Befreiungserlebnis zu ermöglichen; denn das „homosexuelle Verlangen“ steht für die „Wiedergewinnung der revolutionären Dimension des Wunsches“. (Vgl. Theweleit 1989, Bd.2: S.308) Wenn Theweleit also dem faschistischen Mann eine Grundstörung in der Ich-Ausbildung, eine Ich-Schwäche, bescheinigt, die dazu führt, daß er nichts verdrängen muß, weil sich seine Wünsche auf direktem Wege realisieren können, dann hat das etwas von einer klammheimlichen Bewunderung; etwas von Neid. Theweleit behilft sich dann aber damit, daß er beim faschistischen Mann eine Neigung zu formatierter Aufstellung, zum geordneten Marschieren, diagnostiziert, das dem auflösenden Fließen und Strömen widersteht. Es gibt also eine faschistische Masse, die Formation, und eine gute Masse, wie Canetti sie beschreibt (vgl. Theweleit 1989, Bd.1: S.268f.), die die Auflösung des starren, berührungsfeindlichen Ichs ermöglicht.
Trotz Theweleits Parteinahme für das grenzenlose Verströmen legt er, wie schon erwähnt, eine paradoxe Faszination für die Maschinenmetapher an den Tag. Das Unbewußte, also das Begehrungsvermögen, soll eine „Wunschmaschine“ sein. Wer etwas gegen Maschinenmetaphern hat, bekommt von Theweleit eins auf den Deckel: solche Leute können nur Faschisten sein.
Wer aber hat jemals von einer sich verströmenden Maschine gehört? Das paßt einfach nicht zusammen. Maschinenfreundlichkeit und Individualisierungsfeindlichkeit hingegen passen sehr gut zusammen. Hinzu kommt Theweleits Ablehnung der Differenz zwischen Innen und Außen. Er kann sie sich nur als Mauer bzw. als Damm vorstellen, die das sich-Verströmen verhindert. So gesehen ist sogar die Haut, die Theweleit in seinem neuen Nachwort als Würdeersatz feiert, eine Mauer. Hindert sie doch den Körper daran, seine Flüssigkeiten zu verströmen.
Theweleits Art, psychoanalytisch über den Menschen zu sprechen, mißfällt mir. Es steckt eine kaum verhohlene Gewalttätigkeit darin, die das Intime aus seinem wohltätigen Dunkel herauszerrt und zu Markte trägt. Plessner bezeichnet die Seele als ein Geschöpf der Nacht. Sie will nicht angefaßt werden. Es wundert mich deshalb nicht, wenn Theweleit leichtfertig über die grundgesetzlich verbürgte Unantastbarkeit des Menschen herzieht und an ihre Stelle die Antastbarkeit der Haut setzen will. Nicht um zärtliche Berührungen geht es ihm, wie er behauptet. Er ist nur an ihrer Nacktheit interessiert. An ihrer Schutzlosigkeit. Es steckt eine Aufforderung zum Mißbrauch darin.