„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 28. April 2022

Offline-Lesegeräte für QR-Codes

Die Online-Einschläge fallen immer dichter um mich herum. Kaum noch etwas geht ohne QR-Code. Als ich meine Briefwahlunterlagen für die NRW-Wahl beantragen wollte, wurde ich gleich mit zwei QR-Codebildern konfrontiert. Aber dann ging es doch ohne QR-Code. Uff! – Glück gehabt.

Da kam mir eine geniale Idee: könnten nicht Offline-Geräte aller Art in der Zukunft der große Verkaufsschlager werden? Das wäre doch mal eine technologische Innovation! Man bräuchte nur eine (scheinbar) altmodische Digitalkamera mit einer QR-Code-Leseapp versehen, und schon könnte man überall die QR-Codes im öffentlichen Raum und die Speisekarten in Restaurants wieder für Offlinefans lesbar machen. Das wäre doch was!

Ich stelle hiermit diese Idee, die ich bewußt nicht patentiere, allen Interessierten zur Verfügung.

PS: Mir kommt da gerade ein Gedanke: könnte es sein, daß diese QR-Codes gar nicht, wie ich naiverweise immer dachte, eine Fülle von Informationen anbieten, sondern nur an Internetadressen weiterleiten, für die man wieder ein Online-Gerät wie das Smartphone braucht? Das ist mir bei den QR-Codes für die Briefwahlunterlagen aufgefallen: sie verweisen lediglich auf eine Internetadresse; nichts weiter. Um die Speisekarte im Restaurant zu lesen, bräuchte ich also wieder ein internetfähiges Endgerät. – War wohl nichts mit meiner Idee.

Mittwoch, 20. April 2022

„Im Namen des Volkes“

Arendt unterscheidet zwischen Macht und Gewalt, indem sie die Macht auf den ‚Willen‘ des Volkes zurückführt und die Gewalt nicht. (Vgl. Hannah Arendt, „Macht und Gewalt“ (1969/70), S.42ff.) Auf einer einzigen Seite variiert sie diesen Zusammenhang in sieben unterschiedlichen Formulierungen, die ihren letztgültigen Ausdruck in Zahlenverhältnissen finden: „Macht des Volkes“, „Unterstützung des Volkes“, „ursprünglicher Konsens“, „die lebendige Macht des Volkes“, „Volkswillen“, „Majorität“, und die Macht „hängt von der Zahl derer ab“, die die jeweilige Regierung, unabhängig von der Regierungsform (Monarchie, Oligarchie, Aristokratie, Demokratie) unterstützen. (Vgl. Arendt 1969/70, S.42)

Abgesehen von der ernüchternden Aussage zum statistischen Charakter des Volkswillens – die jeweilige (immer zeitlich befristete) Majorität – verwundert mich diese Mystifizierung des Volksbegriffs, an der sich Arendt an dieser Stelle beteiligt, ohne dabei die Minderheiten zu berücksichtigen, die ja auch irgendwie zum Volk gehören. Sie werden von Arendt nur als diejenigen angeführt, die von der „Mehrheit“ – also dem „Volk“, dessen Macht bzw. ‚Wille‘ „immer von Zahlen abhängt“ – unterdrückt werden. (Vgl. Arendt 1969/70, S.43) Dieser Volksbegriff paßt nicht zu der Tatsache, daß „die Menschen nur im Plural existieren“. (Vgl. Arendt 1969/70, S.96)

Pluralität hat nichts mit Statistik zu tun, sondern bildet ein konstitutives Merkmal unserer Individualität. Auf gesellschaftlicher Ebene handelt es sich bei dieser Pluralität nach Arendts eigener Definition um den Raum, in dem jedes Individuum seine eigene Wahrheit leben und sich mit anderen Individuen zu gemeinsamem Handeln zusammenfinden kann.

Etymologisch kann man das ‚Volk‘ darauf zurückführen, daß es die ‚Vielen‘ sind, die sich zu einer irreduziblen ‚Fülle‘ zusammenfinden. Nichts anderes aber meint auch Arendt mit dem Begriff der Pluralität. Das hat nichts mit Zahlenverhältnissen und Meinungsumfragen zu tun. Denn darum handelt es sich bei dem „Volkswillen“ als Fundament der (politischen) Machausübung: um Meinung: Die Gewalt unterscheidet sich von der politisch legitimierten Macht dadurch, daß sie „nicht auf der Meinung der Beherrschten, bzw. auf der Zahl derer, die eine bestimmte Meinung teilen,“ beruht. (Vgl. Arendt 1969/70, S.54) Um nichts anderes handelt es sich bei dem gerade jetzt in Kriegszeiten wieder so beliebten Volksmystifizismus: um Meinungsmehrheit.

Der Volksbegriff beinhaltet eine unvermeidbare Ungenauigkeit: Als souveräner Wille (volonté générale) fallen die Minderheiten, die immer etwas anderes wollen (oder meinen) als die Mehrheit, aus ihm heraus. Eine Demokratie, als Herrschaft des Volkes, ist deshalb auch immer als Herrschaft über die Minderheiten definiert. Diese politische Spaltung läßt sich nur dadurch entschärfen, daß in die Konstitution einer Demokratie unverfügbare Minderheitenrechte, als Minderheitenschutz, explizit eingebaut werden.

Freitag, 15. April 2022

Menschenrechte oder Menschheitsrechte?

Anders als viele Dekonstruktivistinnen und Dekonstruktivisten dekonstruiert Corine Pelluchon in ihren Buch „Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung“ (2021) die Aufklärung und den mit ihr verbundenen Humanismus nicht, um sich dann von ihm als einer Angelegenheit weißer europäischer Männer abzuwenden. Stattdessen will sie das Aufklärungsprojekt fortsetzen und spricht von der Notwendigkeit eines neuen Humanismusses. (Vgl. Pelluchon 2021, S.113ff.)

Damit entgeht sie dem Widerspruch, einerseits mit dem Humanismus auch den Universalismus der Menschenrechte abzuschaffen und ihn andererseits in einen neuen Universalismus der Frauenrechte zu überführen, wobei die ‚Frauen‘ an die Stelle des ‚Menschen‘ treten, die nun pars pro toto für alle diskriminierten Gruppen stehen sollen.

Pelluchon will also am Humanismus festhalten, will allerdings diesen neuen Humanismus nicht auf die individuellen Menschenrechte, sondern auf „Menschheitsrechte“ gründen. Dabei wirft sie ausgerechnet den individuellen Menschenrechten vor, eine bloß „abstrakte Idee“ zu sein (vgl. Pelluchon 2021, S.115), während die Konzeption der Menschheitsrechte die konkrete Verantwortung des Menschen für den Planeten in den Blick nehme. Damit stellt sie die Begrifflichkeiten auf den Kopf. Denn wenn etwas abstrakt ist, dann ist es ein Allgemeinbegriff wie ‚Menschheit‘, der sich allein schon von der Wortbildung her von anderen Allgemeinbegriffen wie ‚Tiere‘, Pflanzen‘ etc. absetzt.

Tatsächlich meint Pelluchon etwas anderes: Menschheitspflichten! Also die Pflichten der Menschheit ihren Mitgeschöpfen gegenüber. Hier macht der abstrakte Allgemeinbegriff Sinn; denn diese Verantwortung ist spezifisch eine Verantwortung, die uns Menschen gegenüber unseren Mitgeschöpfen abgrenzt.

Wenn ich hingegen weiter von „Menschenrechten“ sprechen möchte, so deshalb, weil wir es hier mit einer Konkretion zu tun haben, die offen ist für eine in unserer vielschichtigen Menschlichkeit wurzelnde Verwandtschaftsbeziehung zu Tieren und Pflanzen. Denn erst, wenn wir die Individuen auf angemessene Weise in den Blick nehmen, eröffnen sich die unterschiedlichen Zeitdimensionen ihrer Gewordenheit, die weit in die Biologie und Geologie unseres Planeten zurückreicht und gleichzeitig in die Gegenwart unserer täglichen Lebensführung hineinmündet. Denn darin hat Pelluchon recht: beim Menschen handelt sich um ein „durchweg relationales Subjekt“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.117)

Pelluchons Kritik an der klassischen Aufklärung des 17. und 18. Jhdts. bezieht sich – abgesehen von ihrer Eingrenzung auf weiße europäische Männer – auf ihre Beschränkung des Vernunftbegriffs, die die körperliche Situiertheit des Menschen negiert (vgl.u.a. Pelluchon 2021, S.51). Pelluchon hält der rechnenden Vernunft der Aufklärung eine demütige Vernunft entgegen (vgl. Pelluchon 2021, S.41 und S.43), was meiner Ansicht nach auch eine Kritik der Digitalisierung beinhalten müßte, was bei ihr aber nicht explizit wird. Vielleicht liegt das mit daran, daß Pelluchon den Kapitalismus in seiner destruktiven und apokalyptischen Tendenz nicht zuende denkt, sondern naiv nur den „gegenwärtigen Kapitalismus“ kritisiert (vgl. Pelluchon 2021, S.50), als könne er sich noch mal in etwas zurückverwandeln, was sie an anderer Stelle als einen „den Werten der Autonomie und Gerechtigkeit verpflichteten Kapitalismus früherer Jahrhunderte“ bezeichnet (vgl. Pelluchon 2021, S.39f). Als wäre der Kapitalismus nicht schon immer ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen.

Was die der klassischen Aufklärung fehlende Anerkennung der ‚Körperlichkeit‘ betrifft, wendet sich Pelluchon gegen den abstrakten Begriff der Willensfreiheit, die ja ebenfalls vor allem gegen den Körper gerichtet gewesen war. ‚Frei‘ war der Mensch in seinem Willen, wenn er nicht von körperlichen Bedürfnissen abhängig war. Genau damit, mit Begriffen wie „Lust“, „Passivität“, „Empfänglichkeit“ und „Abhängigkeit“, assoziiert Pelluchon eine positive Körperlichkeit. (Vgl. Pelluchon 2021, S.53) Diese Körperlichkeit bildet auch die Basis ihres Konzepts einer relationalen Subjekthaftigkeit, als „Leben von ...“, also als „Abhängigkeit von den umweltbezogenen, biologischen, sozialen und affektiven Bedingungen (unserer) Existenz“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.58) Zurecht wendet sich Pelluchon dagegen, diese Relationalität als einen Holismus im Sinne identitärer Gemeinschaftlichkeit mißzuverstehen. (Vgl. ebenda) Weder geht ihr etwas Wesenhaftes voraus, noch folgt aus ihr etwas Wesenhaftes. Pelluchons relationales, körperlich situiertes Subjekt entspricht meiner Auffassung von den drei Entwicklungsprozessen, der Biologie, der Kultur und des Individuums, aus denen wir als konkret situierte, menschliche Individuen hervorgegangen sind und unaufhörlich, solange wir leben, weiter hervorgehen.

Demokratie ist Pelluchon zufolge keine bloß formal bestimmte Regierungsform, die es Populisten wie Orban erlaubt, von „illiberalen“ Demokratien zu sprechen. Sie ist wesentlich durch den „intrinsischen Wert der Freiheit“ bestimmt: „Die Demokratie verdankt ihre Legitimität einem ethischen Prinzip und der von der Aufklärung vertretenen Konzeption des guten Lebens: Ein Leben, das sich zu leben lohnt, sei es von Erfolg gekrönt oder nicht, angenehm oder nicht, ist ein Leben, in dem eine Person freien Gebrauch von ihrem Willen machen kann, in dem niemand ihr diktiert, was sie zu denken hat, und in dem sie ihre Ansichten überprüft.()“ (Pelluchon 2021, S.122f.)

Diese intrinsische Freiheit, fährt Pelluchon fort, setzt voraus, „seine Wünsche zu erkennen, statt Bedürfnissen und Bestrebungen nachzugehen, die von außen diktiert und vom Markt geprägt werden“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.123) – Pelluchon spricht also von der Notwendigkeit, unsere eigenen Bedürfnisse zu erkennen, zu gewichten und ihnen eine individuelle Gestalt zu geben.

Feminismus ist für Pelluchon eine Bewußtseinshaltung, in der sich das autonome Subjekt von der Vorstellung befreit, daß es „seine Emanzipation einem Anderen verdankt“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.125) Damit wendet sich Pelluchon nicht gegen eine Ethik des Anderen, sondern sie plädiert für die Selbstbezüglichkeit eines emanzipatorischen Aktes, der seine Freiheit in erster Linie sich selbst verdankt, so wie ja auch die Unfreiheit in erster Linie selbstverschuldet gewesen ist, entsprechend der von Kant konstatierten „selbstverschuldeten Unmündigkeit“: „Die Aufklärung im Zeitalter des Lebendigen basiert also auf einer Revolution in der Denkweise des Menschen über sich selbst und über sein Sein-mit-der-Welt-und-mit-anderen.“ (Pelluchon 2021, S.136)

Dabei kann sich dieses „Sein-mit-der-Welt-und-mit-anderen“ Pelluchon zufolge am besten in kleinen Gemeinschaften verwirklichen: „... eine um Ökologie strukturierte gesellschaftliche und politische Organisation setzt voraus, dass die Menschen kleine, eng an ihre Umwelt gebundene Gemeinschaften bilden, da vor allem in diesem Rahmen ihre Sorge für den Schutz des Lebendigen und ihre Verantwortung für die gemeinsame Welt und die Menschheit entstehen.“ (Pelluchon 2021, S.147)

In diesen Gemeinschaften bilden die Individuen die unhintergehbare Basis für ein moralisches Urteilsvermögen. (Vgl. Pelluchon 2021, S.144, 169/170 u.ö.) Sie bilden den ‚exzentrischen‘ Ursprung, um es mit Plessner auszudrücken, für die Entstehung von offenen Gesellschaften; für den „Bruch mit der Geschlossenheit des Sinnsystems“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.170)

Pelluchons phänomenologische Analyse beinhaltet eine Technologiekritik, wie ich sie bislang anderswo vergeblich gesucht habe. Sogar Richard David Precht („Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ (2020)), dessen Buch ich zunächst mit großer innerer Zustimmung gelesen hatte, hat mich am Ende enttäuscht, weil er auf den letzten Seiten seines Buchs völlig unmotiviert plötzlich positiv wird und was er vorher in düstersten Farben ausgemalt hatte, unvermittelt affirmiert. Trotz ihrer windelweichen Kapitalismuskritik erweist sich Pelluchon an dieser Stelle als unerbittlich, und sie zeigt die enge Verbindung von Kapitalismus und Technik auf: im Dienste des Kapitalismus befriedigt die Digitalisierung nicht „unsere realen Bedürfnisse“, sondern weckt allererst jene scheinbaren Bedürfnisse, „die dieses Modell“, nämlich das Modell, „das unsere Welt regiert“, „hervorruft“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.208f.; vgl. auch S.214) – Diese Technologiekritik mündet in eine vernichtende Kritik des Transhumanismusses. (Vgl. Pelluchon 2021, S.226ff.)

Pelluchons Buch liest sich alles in allem ungeheuer hoffnungsvoll. Sie spricht vom kommenden bzw. schon eingetretenen „Zeitalter des Lebendigen“, als liefe die Entwicklung unweigerlich darauf hinaus. Ihre Analyse des imaginären Schemas der Herrschaft, wie es die Aufklärung geprägt hatte und das letztlich eben doch nichts anderes als der Kapitalismus ist, den sie eingangs eher ambivalent bewertet hatte, ist absolut nüchtern und klar. Aber gerade vor dem Hintergrund des offensichtlichen Scheiterns des die kapitalistische Moderne legitimierenden Aufklärungsprojekts erscheint die Möglichkeit, die Pelluchon aufzeigt, nämlich mit der Aufklärung über die Aufklärung hinauszugehen, als geradezu unverzichtbar.

Aber der Rückfall in die Barbarei, vor dem auch Pelluchon warnt, ist nicht nur jederzeit möglich, sondern findet derzeit u.a. in Form des Putinschen Angriffskriegs schon statt. Vielleicht ist es ja so, daß die Barbarei der Schatten ist, der jeden unserer Schritte begleitet, sobald wir uns auf diese komplizierte, längst aus den Fugen geratene Welt einlassen.

Montag, 11. April 2022

Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt a.M. 2020 (5/2021)

Von Redecker lehrt mich ein neues Wort: „Phantombesitz“. (Vgl. von Redecker 2020, S.32ff.) Angelehnt an „Phantomschmerz“ meint Phantombesitz etwas Doppeltes: zum einen die Angst der vermeintlichen ‚Eigentümer‘ vor dem Verlust der Verfügungsgewalt über ihren ‚Besitz‘ und zum anderen den Schmerz der ehemaligen Eigentümer über den Verlust des ihnen vermeintlich zustehenden Eigentums. Dabei unterscheidet von Redecker zwischen Eigentum und Besitz dahingehend, daß Eigentum seit Beginn der kapitalistischen Moderne eine „Willkürherrschaft“ des Eigentümers über Sachen bis hin zu ihrer sinnlosen Zerstörung beinhaltet, während Besitz nur das Nutzungsrecht auf Sachen beinhaltet, wenn man z.B. eine Wohnung mietet oder ein Stück Land pachtet. ‚Sachen‘ können wiederum materielle Gegenstände sein oder auch Personen, wie z.B. Frauen oder Sklaven, oder – im Zuge zunehmender Demokratisierung der Staatsverfassungen – Identitäten wie etwa die Staatsbürgerschaft. Wir haben es also in der kapitalistischen Moderne immer mit einer „Sachherrschaft“ zu tun. (Vgl. von Redecker 2020, S.28ff.)

Dabei können sich die Eigentümer ihrer Identitäten bzw. ihrer Rechte über die Sachen nie sicher sein, weshalb wir es mit einem Phantombesitz zu tun haben. Je nach der Entwicklung der Produktionsverhältnisse und der Ausdehnung von Rechten auf größere Personenkreise, also Personen weiblichen Geschlechts und anderer Hautfarbe, können sie jederzeit ihren vermeintlichen Besitz verlieren: es ist eben nur Phantombesitz. Und auf der anderen Seite können ‚Völker‘ bzw. ‚Staaten‘ versuchen, ehemalige ‚Hoheitsgebiete‘ zurückzugewinnen, wie es Putin zur Zeit mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine versucht. Ebenfalls Phantombesitz.

Von Redeckers Grundgedanke besteht darin, daß mit dem Übergang des kapitalistischen Eigentumsrechts, also der Willkürherrschaft über Sachen, in Besitzrecht die Willkürherrschaft über andere Menschen nicht wirklich abgeschafft ist. Sie lebt in Form des Phantombesitzes weiter. Wir alle sind nach wie vor ‚Sachen‘, keine Menschen. Im Hintergrund droht auf ständig angsterregende Weise die Rückkehr des Eigentümers, der wieder in seine Willkürhoheit eintreten will.

Das die Willkürherrschaft legitimierende Eigentumsrecht ist auch das Grundprinzip der (neo-)liberalen Fortschrittsidee, wie sie sich mit dem kapitalistischen Verwertungszwang gemein gemacht hat. Von Redecker spricht vom Fortschritt als einem „Sturm“, was an Walter Benjamins Engel der Geschichte erinnert, nur daß dieser Sturm nicht von einem hinter uns liegenden Paradies her weht, sondern von vorne dem produzierenden Menschen ins Gesicht: er weht „aus der spekulierten Zukunft“, als dem künftigen Profit, in unsere Gegenwart „zurück“ und verwüstet sie schon jetzt. (Vgl. von Redecker 2020, S.42) Aber ob der Sturm nun aus einer verlorenen, nicht mehr zu rettenden Vergangenheit heranweht, wie bei Benjamin, oder aus einer uneinholbaren Verwertungszukunft mit ihren immer unerfüllt bleiben Versprechungen, wie bei von Redecker: beide meinen damit den Fortschritt der kapitalistischen Moderne.

Die Sachherrschaft selbst, die auch den Zwang zur Selbstverwertung des ehemaligen Lohnarbeiters und heute des Arbeitnehmers als Unternehmer in eigener ‚Sache‘ beinhaltet, ist eng mit unserem Technologieverständnis verbunden. Denn Technik dient längst nicht mehr der Selbsterhaltung der Menschen, sondern ist untrennbarer Teil der Sachherrschaft, was sich z.B. in aktualisierter Form als Vertrauen darauf äußert, daß wir die aktuellen Probleme des Klimawandels durch künftige neue Technologien bewältigen werden. Also noch mehr Sachherrschaft. So beschließen die Länder auf internationalen Konferenzen abstrakte Ziele wie das Zwei-Grad-Ziel, und erwecken den Eindruck, es ginge nur um einige Anpassungsmaßnahmen, die wir mit Hilfe der Entwicklung neuer Technologien umsetzen können. Hier wird die Willkürherrschaft als Sachherrschaft bis in die Diskussion und Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen hinein nahtlos fortgesetzt. Von Redecker betont dagegen, daß es allererst darum geht, wie wir künftig leben wollen. (Vgl. von Redecker 2020, S.110f.) Und das zentrale Moment dabei ist der Verzicht, über den mittlerweile nicht mal die Grünen mehr reden wollen. Und zwar ist mit diesem Verzicht der Verzicht auf unbeschränkte Produktion und Konsum gemeint; aber vor allem auch der Verzicht auf die Willkürherrschaft über ‚Sachen‘.

Wir müssen uns wieder bewußtmachen, daß die vermeintlichen toten ‚Sachen‘ Bestandteil von planetaren Stoffwechsel- und Lebenszyklen sind, die Materie und Lebendiges gleichermaßen umfassen und alle ihre unterschiedliche Zeit haben. Das paßt gut zu meinem Konzept, daß der Mensch aus vier Entwicklungsprozessen besteht, aus denen er nicht nur in einem langen Evolutionsprozeß hervorgegangen ist, sondern die ihn ständig, buchstäblich mit jedem Atemzug, am Leben erhalten: nämlich aus geologischen, biologischen, kulturellen und individuellen Entwicklungsprozessen mit ihren ganz unterschiedlichen Zeiträumen. Von Redecker bezeichnet diese Zeiträume als Zyklen: sie verlaufen nicht linear, sondern erneuern sich entsprechend ihrer Eigentümlichkeit. In Anlehnung an Ebbe und Flut bezeichnet von Redecker diese Zyklen als „Gezeiten“: „Die Welt ist ein Ensemble von Gezeiten. ... Die Kreisläufe sind unendlich verwoben, sie erstrecken sich über ganz unterschiedliche Zeitspannen – Atemrhythmen, Vegetationsperioden, Produktionszyklen.“ (Von Redecker 2020, S.235)

Die Gegenwart, in der wir leben, ist deshalb der Zeitraum, „wo sich alle Gezeiten treffen“: „Jeder Reproduktionszyklus hat seine eigene Spanne und Myriaden von Voraussetzungen im Material anderer Zyklen. Aber alles, was lebt, ist jetzt anwesend.“ (Von Redecker 2020, S.285)

Von Redecker bekennt sich zu einem „umsichtige(n) Kommunismus“ (von Redecker 2020, S.284), der darin besteht, Räume zu schaffen, in denen die Menschen sich wieder „gemein“ machen können, im Sinn von ‚allgemein‘ oder im Sinn von ‚Gemeinwohl‘. Dazu wählt sie das Bild eines Waldes, in dem die Bäume einzeln dastehen, mit Zwischenräumen zwischen sich und den anderen Bäumen, aber gemeinsam einen Wald bilden. (Vgl. von Redecker 2020, S.155) Sie sind verbunden durch Wurzeln und ein dichtes unsichtbares Pilzgeflecht, das wie Nervenleitungen in einem menschlichen Gehirn funktioniert. Von Redecker schlägt vor, daß wir also nicht nur selbst solidarischen Abstand praktizieren, wie es die Pandemie uns auferlegt, sondern auch die Zwischenräume, die die aktuelle Wirtschaftsordnung läßt, nutzen, um eine andere Wirtschaftsordnung ansatzweise und experimentierend zu verwirklichen.

Denn auch wenn die Sachherrscher uns etwas anderes einzureden versuchen: es kommt auf uns an, auf jede/n Einzelne/n. Die Revolution für das Leben besteht nicht in einem plötzlichen und gewaltsamen Umbruch, sondern im alltäglichen Experiment, ein anderes Leben zu führen.

Samstag, 9. April 2022

Menschliche Bedürfnisbefriedigung – Fortsetzung

Tatsächlich kommt auch von Redecker nochmal auf die Zweitpersonalität (Ich = Du) zurück; interessanterweise an einer Stelle, wo sie auf die geteilte Intentionalität von Michael Tomasello zurückgreift, deren Rekursivität sie zur Grundlage einer solidarischen Bedürfniserfüllung macht. (Vgl. von Redecker 2020, S.213ff. und S.221) Von Redecker entwickelt die Zweitpersonalität, also Ich = Du, anhand von Marx-Zitaten, in denen die Rekursivität als „doppelte Bejahung“ des Menschen durch eine nicht-entfremdete Produktion beschrieben wird. (Vgl. von Redecker 2020, S.216ff.) Aus dieser doppelten Bejahung ergeben sich „vier Weisen, auf die sich in der solidarischen Arbeit unsere Freiheit spiegelt“. (Vgl. von Redecker 2020, S.216)

Diese doppelte Bejahung besteht in der wechselseitigen Anerkennung und Erfüllung von Bedürfnissen zweier Menschen; also im Ich = Du. Dabei besteht die erste Bedingung darin, daß ‚ich‘ in den Produkten meiner Arbeit mich selbst als Individuum wiedererkennen kann. (Vgl. von Redecker 2020, S.216) Die zweite Bedingung besteht darin, daß diese Produkte menschliche Bedürfnisse befriedigen. (Vgl. von Redecker 2020, S.217) Die Betonung liegt dabei auf der Menschlichkeit dieser Bedürfnisse. Diese Menschlichkeit erweist sich darin, daß es dabei immer auch um die Bedürfnisse meiner Mitmenschen geht: Ich = Du! Ich genieße nicht nur meine Bedürfnisbefriedigung, sondern auch, daß die Produkte meiner Arbeit zur Bedürfnisbefriedigung meiner Mitmenschen (Du) beitragen.

Von Redecker denkt dabei, anders als Marx, nicht in erster Linie an Produktion, sondern an Reproduktion. Die Reproduktionstätigkeit bildet das eigentliche Zentrum einer neuen Wirtschaftsordnung.

Die dritte Bedingung führt nun, von Redecker zufolge, über die „Zweisamkeit“ hinaus und beinhaltet ein „bestimmtes Verhältnis zur Menschheit insgesamt“. (Vgl. von Redecker 2020, S.217) Die „Menschheit“ besteht darin, daß ‚ich‘ für mein Du zum „Mittler“ der „Gattung“ werde: „also von dir selbst als eine Ergänzung deines eigenen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden“. (Vgl. von Redecker 2020, S.218)

Tatsächlich verlassen wir also gar nicht die Ebene der „Zweisamkeit“, wie von Redecker meint, sondern Ich = Du erweist sich vielmehr als eigentliche Keimzelle dessen, was wir „Menschheit“ nennen.

Als vierte Bedingung für nicht-entfremdete Arbeit führen Marx/Redecker an, daß meine individuelle Arbeit mein menschliches Wesen als „Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht“. (Vgl. von Redecker 2020, S.219)

Ich denke, daß dieses Gemeinwesen nun tatsächlich die Zweitpersonalität zu einem neuen Horizont hin erweitert, der die Gesamtheit der Menschen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfaßt, und daß diese Gesamtheit in enger Verbindung mit der lebendigen Erde steht. Grundlage dieses Gemeinwesens, also der Menschheit, sind Bedürfnisse, in deren Befriedigung wir uns selbst und unsere Mitmenschen wiedererkennen können.

Freitag, 8. April 2022

Solidarische Kollektive und Heterosexualität

Ich lese gerade „Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen“ (5/2021) von Eva von Redecker. Ich habe auch vor, zu diesem Buch, das mir wirklich gut gefällt, nochmal eigens Stellung zu nehmen. Doch eine Textstelle läßt mir keine Ruhe, und noch bevor ich mit meiner Lektüre zu einem Ende gekommen bin, möchte ich mich gerne jetzt schon dazu äußern.

Es geht in dieser Textstelle um die Femizide in der mexikanischen Region Ciudad Juárez. Von Redecker führt die „mörderische Gewalt“ auf eine „zentrale() Institution“ zurück: auf die „heterosexuellen Paarbeziehungen“. (Vgl. Von Redecker 2020, S.196) Ich bin mir des Kontextes, in dem diese Aussage steht, sehr wohl bewußt und bin auch bereit, zuzugestehen, daß von Redeckers Aussage über heterosexuelle Paarbeziehungen in diesem eingeschränkten Sinne zu verstehen ist. Trotzdem bin ich es inzwischen gewöhnt, daß aus einer dekonstruktivistischen Perspektive ‚Heterosexualität‘ immer schon mit ‚Patriarchat‘ gleichgesetzt wird und als allgemeines Übel betrachtet wird, das, da hier Differenzierungen oft fehlen, wie das Patriarchat abgeschafft gehört. Judith Butler ist da übrigens differenzierter als manch andere ihrer Nachfolgerinnen. Sie weist ausdrücklich darauf hin, daß Heterosexualität eine legitime sexuelle Orientierung sei.

So richtig alle diese (dekonstruktivistischen) Analysen und Kritiken des „possessiven patriarchalen Geschlechtsverhältnis(ses)“ sind (vgl. von Redecker 2020, S.196), führt die undifferenzierte Reduktion der heterosexuellen Paarbeziehungen auf eine institutionelle Struktur dazu, daß das heterosexuelle „Du“, wie ich als männlicher und heterosexueller Leser von von Redecker direkt angesprochen werde, nicht mehr gleich Ich ist (meine Formel, an der ich mich orientiere: Ich = Du), sondern ein Vergewaltiger: „‚Der Vergewaltiger bist Du.‘ – auch die Frau, die sich nicht vom Begehren bewegen lässt, andere Frauen und sich selbst lebendig zu wollen.“ (Von Redecker 2020, S.201)

Wie sollen wir Heterosexuellen uns zu einem lebendigen Bedürfnis bekennen können, wenn ‚Ich‘ nicht mehr gleich ‚Du‘ sein kann, weil ich immer schon ein Vergewaltiger bin? – Ich gebe von Redeckers Argumentation bewußt verkürzt wieder, denn ich glaube nicht, daß sie das so meint. Es geht darum, die/den anderen lebendig zu wollen. Aber heterosexuelle Paare wollen genau das anscheinend nicht. Sie bilden nur die institutionellen Strukturen des Patriarchats ab.

Folgender Satz, in dem von Redecker sich für die individuelle Differenz in unserer Art, Mensch zu sein, einsetzt (und da bin ich wieder ganz bei ihr), legt das Problem offen: „Differenz wird überhaupt nur zum Problem, wenn man sie von der Warte der Homogenität aus betrachtet. Aber die Frage ist nicht, welche Einheit wir gemeinsam bilden, sondern welche Welt wir gemeinsam bauen können.“ (Von Redecker 2020, S.212)

Wenn es also um Differenz geht, und nicht um Homogenität, dann darf Heterosexualität nicht zum „Auswurf“ hochstilisiert werden. Denn etwas zum „Auswurf“ zu machen, ist etwas, so von Redecker, das das „solidarische Kollektiv“ tunlichst vermeiden sollte. (Vgl. von Redecker 2020, S.211f.) Und wenn von Redecker davon spricht, daß die „Vielgestaltigen ins richtige Verhältnis zueinander“ gesetzt werden müssen (vgl. von Redecker 2020, S.212), dann kann diese Verhältnisbestimmung nur auf der Basis von Ich = Du stattfinden! Denn nur dann sind wir „lebendig und frei“ und „gemeinsam“. (Vgl. von Redecker 2020, S.212)

Das solidarische Kollektiv muß also heterosexuelle Paarbeziehungen zulassen können, denn es hat, wie von Redecker schreibt, einen „anarchistischen Horizont“: „Der anarchistische Horizont nimmt konkrete Beziehungen in den Blick“ – und sie fügt hinzu: „er vermengt Solidarität nicht mit Vertrautheit“. (Vgl. von Redecker 2020, S.214) Aber aus Sorge, Solidarität mit Vertrautheit zu vermengen, wenn von Redecker Solidarität mit den Opfern der Femizide einfordert und dabei heterosexuelle Paarbeziehungen pauschal auf institutionelle Strukturen reduziert, verweigert sie zugleich, wenn sie intimste Beziehungspraktiken verunglimpft, den Respekt für die auch für heterosexuelle Paarbeziehungen geltende Vertrautheit, die es verbietet, sie einfach mit Institutionalität gleichzusetzen.

In folgendem Satz erkenne ich mich wieder: „Gegenseitige Hilfe schafft Beziehungen, sie setzt sie nicht voraus.“ (Von Redecker 2020, S.214) – Von Redecker setzt mit dem Begriff des Anarchismus dem solidarischen Kollektiv einen offenen, weiten Horizont, in dem jede Begegnung zwischen Menschen voraussetzungslos ist. Die Basis dafür bildet nach meinem Dafürhalten die Formel Ich = Du. Aus dieser Voraussetzungslosigkeit heterosexuelle Paarbeziehungen ausschließen zu wollen, kommt einem performativen Widerspruch gleich.

Ich selbst bin da übrigens keineswegs voraussetzungslos und in gewisser Weise beschränkt. Meiner Ansicht nach sind beispielsweise pädophile Paarbeziehungen problematisch. Der Hintergrund ist meine pädagogische Praxiserfahrung in reformpädagogischen Einrichtungen wie etwa der Odenwaldschule, in denen ein pädagogischer ‚Eros‘ auf mißbräuchliche Weise umgesetzt wurde. Ich verurteile nicht etwa das zugrundeliegende Bedürfnis, sondern ich kann mir einfach keine erotischen Praktiken vorstellen, in denen zwischen Erwachsenen und Kindern das Ich = Du respektiert würde.

Aber: Bedürfnisse sind grundsätzlich immer etwas, das respektiert werden muß. Sie sind eine Realität. Sie zu leugnen, kommt einer Realitätsverleugnung gleich. Unsere Aufgabe ist es – und darin schließe ich, diesmal wirklich voraussetzungslos, uns alle ein –, mit unseren Bedürfnissen so umzugehen, daß niemand dadurch zu schaden kommt.

Sonntag, 3. April 2022

Zum Mann gereift

Putins Angriffskrieg hat Begriffe wieder salonfähig werden lassen, die für Intellektuelle wie mich längst in der sprichwörtlichen Mottenkiste der Geschichte verstaut gewesen waren. Man kann wieder von Helden sprechen, von Tapferkeit im Krieg, vom Volk und von Vaterlandsliebe. Am 23. März war in der Talkshow von Markus Lanz die Frau von Vitali Klitschko, Natalia Klitschko, zu Gast. Ihr Mann ist bekanntermaßen Bürgermeister von Kiew. Auf eine Bemerkung von Lanz zu einigen Bildern von Vitali Klitschko vor zerstörten Häusern, ihr Mann habe sich seit Kriegsbeginn sehr verändert, antwortete Natalia Klitschko, er sei jetzt zu einem Mann geworden. Sie wiederholte das mehrmals. Das war ihr wohl wichtig. Außerdem sprach sie von ihrem Stolz auf das ukrainische Volk, und auch vom Stolz, dazuzugehören. Ein Teil dieses Volkes sein zu dürfen.

Es ist nicht nur der Umstand, daß jetzt, wo in Europa ein Krieg ausgebrochen ist, der Volksbegriff wieder zu einer mythischen Größe hochstilisiert wird, der mich nachdenklich macht. Auch die Männer müssen jetzt wieder Männer sein. Natalia Klitschko war schon vor dem Kriegsausbruch mit ihrem Mann verheiratet gewesen, und sie hat auch gemeinsam mit ihm Kinder. War ihr Mann also, der Vater ihrer Kinder, zu dieser Zeit kein Mann gewesen? Warum ist er erst durch den Krieg zum Mann geworden?

Ich selbst hatte in diesem Blog schon einige Worte zum Volksbegriff gepostet, und ich hatte dabei das ‚Volk‘ als politische und identitäre Größe verabschiedet. Offensichtlich war das voreilig gewesen. Corine Pelluchon weist in „Das Zeitalter des Lebendigen“ (2021) darauf hin, daß das Volk „kein einheitliches Ganzes mehr (ist), das es zu repräsentieren gälte wie im bonapartistischen Modell der Repräsentation/Inkarnation“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.184) – Mit dem Volksbegriff verabschiedet Pelluchon auch die Vorstellung von einem „allgemeinen Willen“, wie er von Rousseau geprägt wurde, und plädiert mit Hannah Arendt dafür, ihn durch den Begriff der „Pluralität“ zu ersetzen.

Die Zeiten haben sich geändert. Immer wieder werden wir durch die Medien und die Politik darüber belehrt. Dabei wird manches aus den Sedimenten unseres Unterbewußtseins hochgespült, was dort bislang ruhte.

Ich habe Ende der 1970er Jahre den Wehrdienst verweigert. Inzwischen kann ich mir vorstellen, wie Vitali Klitschko zu handeln, wäre ich Ukrainer. Aber ich würde nicht so sprechen wie er, voller Vorwürfe gegen Europa und dieses Deutschland, in dem in den letzten zwei Jahrzehnten eine Politik Putin gegenüber betrieben wurde, die man nur als verfehlt und verblendet bezeichnen kann, und wo man nun im Einvernehmen mit den Alliierten versucht, einen dritten Weltkrieg zu vermeiden. Vor allem aber würde ich nicht wollen, daß meine Frau von mir sagt, ich sei durch meine Kampfbereitschaft zum Mann geworden. Ich würde mich fragen, wen meine Frau geliebt hat, bevor der Krieg ausbrach. Ich würde mich fragen, ob ich der Mann sein will, auf den sie jetzt stolz ist.

Es gibt gute Gründe, für das Land zu kämpfen, in dem man aufgewachsen ist. Aber daß ich für dieses Land kämpfen würde, um dadurch zum Mann zu werden, ist absurd. Denn dadurch hätte ich vollzogen, was ich durch meinen Einsatz hatte bekämpfen wollen.

Ich verstehe unter diesem ‚Land‘ nicht irgendeinen Staat oder ein bestimmtes Volk. Ich verstehe unter dem Land ein Stück Erde, auf dem ich mit meinen Füßen stehe. Auf ihm wächst, was ich zum Leben brauche, und es bezaubert mich mit seiner Schönheit. Das Land ist die Landschaft mit ihrem offenen Horizont und mit ihren Jahreszeiten. Das ist mein Land. Es gehört mir nicht. Es gehört niemandem. Dieses Land würde ich, wenn ich müßte, gegen alle verteidigen, die einen Besitzanspruch darauf erheben. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, so zu handeln. Ich stelle mir vor, daß ich es nicht für mich verteidigen würde, sondern für die Menschen und ihre Zukunft.

Wenn ich müßte. Wenn ich den Mut dazu hätte. Vielleicht.

Samstag, 2. April 2022

Die Wunschmaschine: Theweleits Männerphantasien

Als ich Klaus Theweleit als Autor entdeckte und schätzen lernte, geschah das über die Lektüre von „buch der könige. orhpheus und eurydike“ (1988/1992). Mich beeindruckte die Verbindung von Technikgeschichte und Bewußtseinsbildung. So lernte ich auch erstmals den Namen „Friedrich Kittler“ kennen, auf den Theweleit als seinen wichtigsten Gewährsmann immer wieder verwies. Später, sehr viel später, las ich dann auch Kittler selbst; aber trotz seiner beeindruckenden Technik-Psycho-Geschichte des 19. und 20. Jhdts. enttäuschte mich die Lektüre zutiefst. Ich war geradezu entsetzt, als ich Kittlers zutiefst menschenfeindlichen Antihumanismus zur Kenntnis nehmen mußte.

Aber Theweleit lockte mich über die Jahrzehnte weiterhin, obwohl ich in dieser langen Zeit immer wieder anderen Autorinnen und Autoren den Vorzug gab. Um seine „Männerphantasien“ (1977/1989) machte ich einen großen Bogen. Der Titel bereitete mir Unbehagen, und ich war noch nicht bereit, mich darauf einzulassen.

Als ich mich dann endlich den „Männerphantasien“ zuwandte, war gerade eine Neuausgabe (2019) dieses zweibändigen Werks erschienen. Dazu gleich mehr.

Ich blieb bei meiner Ausgabe von 1989, die seit drei Jahrzehnten in meinem Bücherregal ein wenig gammelig geworden war, las sie zunächst gründlich von Seite zu Seite und begann dann Seiten zu überspringen und mir schließlich einige Kapitel herauszupicken. Theweleit befaßt sich als Literaturwissenschaftler ausgiebig mit Tagebüchern und Schriften der Freikorps in den frühen Jahren der Weimarer Republik nach dem ersten Weltkrieg. Aus dieser Lektüre entwickelt er ein Männerbild, das über den Faschismus in Nazideutschland bis ‚heute‘, also die ausgehenden 1970er reicht; und – wenn man das Nachwort der Neuausgabe liest – Theweleit zufolge bis heute andauert.

An dieser Stelle, als ich das Nachwort (2019) las, beendete ich die Lektüre von „Männerphantasien“. Ich habe in meiner Lieblingsbuchhandlung in Münster in die Neuausgabe reingeschaut. Und da bin ich dann tatsächlich erschrocken. Theweleit geht in dieser Neuausgabe tatsächlich so weit, zu behaupten, daß ‚normale‘ Liebesbeziehungen wichtiger seien als der Kampf gegen den Klimawandel. – Wie kann man nur diese zwei fundamental verschiedenartigen Sachverhalte auf eine Ebene stellen und dann auch noch in eine Rangordnung bringen? Der Kampf gegen den Klimawandel ist eine gesamtgesellschaftliche, menschheitliche Aufgabe. Liebesbeziehungen hingegen sind etwas zutiefst privates und nach meinem Verständnis etwas zwischen zwei Menschen, was natürlich subjektiv auch anders gewertet werden kann und wird. Aber ob zwei, drei oder mehr in so ein Liebesverhältnis einsteigen: es ist privat, also intim, und nichts Öffentliches.

Es ist die Crux des Postfeminismusses, daß er diese Ebene des Ich = Du politisiert. Öffentlich bzw. gesellschaftlich kann zwischen zwei Menschen nichts gerettet werden, weil die Gesellschaft dort nichts zu suchen hat. Nicht umsonst darf es zwischen Therapeuten und Klienten keine intime Beziehung geben, und es gilt strengste Verschwiegenheit gegenüber Dritten.

So weit dazu. Darüberhinaus entsetzte mich, daß Theweleit in seinem Nachwort die Grundgesetzformel von der Unberührbarkeit der Menschenwürde als „abstrakt“ und gar als „Luftblase“ bezeichnet. Wie kann man nur, wie Theweleit es tut, „Würde“ und „Respekt“ als Luftblasen bezeichnen? – Als wenn mit den Wörtern „Haut“ und „Zärtlichkeit“, die Theweleit alternativ vorschlägt, irgendetwas gewonnen wäre. Wenn er kein Gefühl dafür hat, daß Würde weit über Zärtlichkeit hinausgeht, ist ihm nicht mehr zu helfen. Es erinnert mich an die unsägliche Formulierung von Erich Fromm in „Die Kunst des Liebens“: wer es nicht dazu bringt, zurückgeliebt zu werden, so Erich Fromm, sei impotent. Liebe und Potenz: einfach dasselbe? – Respekt mit Zärtlichkeit, Liebe mit Potenz gleichzusetzen, führt auf direktem Weg zum pädagogischen Eros und zum Mißbrauch.

Wie schon erwähnt, besteht das Material von Theweleit in Texten und (Auto-)Biographien von Freikorpsmännern. Sein literaturwissenschaftliches Herangehen an diese Texte ist vor allem psychoanalytisch, angelehnt an Freud, was seine Berechtigung hat. Dabei spielt der Begriff des „Partialobjekts“ eine zentrale Rolle. Wenn Freud die Objektbeziehung über ganze, also nicht-partiale Objekte definiert, also die Mutter und nicht die Mutterbrust, dann beinhaltet das eine die ganze Gestalt eines Objekts umfassende Wahrnehmung. Diese Gestaltwahrnehmung ist aber immer individuell. Wir haben es also mit einem individuellen bzw. individualisierten Objekt zu tun. Das beinhaltet eine komplexe Objektbeziehung, die schon als solche nur symbolisch zu vermitteln ist, also eine Differenz von Meinen und Sagen beinhaltet.

Das Partialobjekt hingegen hat nichts Individuelles. Die Mutterbrust ist nur zum Saugen da; auf bloße Funktionalität reduziert. Deleuze/Guattari bezeichnen den Bezug zum Partialobjekt als ‚maschinell‘. (Vgl. Theweleit 1989, Bd.1: S.216) Das Unbewußte bezeichnen sie entsprechend als „Wunschmaschine“. Nun ist es seltsamerweise genau das, wofür sich Theweleit ganz besonders zu erwärmen vermag. An dieser Stelle wird verständlich, wieso der Antihumanist Friedrich Kittler so eine zentrale Rolle bei ihm spielt. Seitenweise läßt sich Theweleit über die Maschinenfeindlichkeit des Bildungsbürgers aus und bringt sein Unverständnis dafür zum Ausdruck. (Vgl. Theweleit 1989, Bd.1, S.262ff.) Er beklagt sich über die „Negativierung des ‚Maschinellen‘“ in der bürgerlichen Umgangssprache und im bürgerlichen Denken. (Vgl. Theweleit 1989, Bd.1, S.264) Da die Maschinen nicht über die Fähigkeit verfügen, sich gekränkt zu fühlen, muß man sich fragen, warum es Theweleit – stellvertretend für die Maschinen – ist. Jedenfalls ist die angebliche Maschinenfeindlichkeit der ‚Bürger‘ schon lange her. Wenn man sich heute so umschaut, quer durch alle Milieus, bürgerlich oder nicht, können wir alle uns gar nicht genug darin tun, unseren Alltag mit Technologie vollzustopfen. – Die freudianische Gleichsetzung des Unbewußten mit der Maschine hat es Theweleit so sehr angetan, daß er sich aufgrund der vermeintlichen Herabsetzung der Maschine im bürgerlichen Diskurs in seinem eigenen Unbewußten gekränkt fühlt.

Theweleits Sprache hat tatsächlich etwas Hinterhältiges. Und das bei jemandem, der die Sprache der Faschisten so luzide zu analysieren vermag! Als alternative ‚Quelle‘ für eine Sprache, die anders als Freud nicht darauf aus ist, Sümpfe trockenzulegen, sondern die Ströme (und Ozeane) fließen zu lassen, will er sich, so kündigt er an, auf Schriftsteller beziehen, „in deren Schriften bestimmte Flüsse zu Hause sind, auf denen der Leser“ – und jetzt kommts! – „mittreiben mag oder sich sperren, je nachdem ...“ (Vgl. Theweleit 1989, Bd.1: S.265)

Das Hinterhältige an dieser Stelle ist die Unterstellung, daß diejenigen Leser, die seiner Argumentation nicht zu folgen vermögen, ein Problem haben; schlimmstenfalls ein Faschismus-Problem. Perfide sind auch die drei Auslassungspunkte, die den Lesern selbst die Entscheidung überlassen, was auf sie zutrifft. Genau diese Pünktchen-Grammatik hatte Theweleit übrigens bezeichnenderweise an anderer Stelle den Freikorpsautoren zum Vorwurf gemacht.

Begriffe und Metaphern in Theweleits zweibändigem Werk passen nicht zusammen. Theweleit will erklärtermaßen alles Feste in Flüssiges überführen; es zum Fließen bringen. Er hat etwas gegen das individuelle Ich, das er mit Verweis auf Freuds „Topik von Ich/Es/Über-Ich“ „als trockenes Grab für die Ströme und die Wunschmaschinen“ bezeichnet (vgl. Theweleit 1989, Bd.1: S.265); dem er also mit anderen Worten vorwirft, sich der Auflösung ins ozeanische Strömen zu verweigern.

Theweleit bezeichnet, mit Verweis auf Foucault, dieses anscheinend heterosexuell geprägte Individuum „als Produkt einer Einsperrung“, dessen Anus penetriert werden muß, um ihm ein Befreiungserlebnis zu ermöglichen;  denn das „homosexuelle Verlangen“ steht für die „Wiedergewinnung der revolutionären Dimension des Wunsches“. (Vgl. Theweleit 1989, Bd.2: S.308) Wenn Theweleit also dem faschistischen Mann eine Grundstörung in der Ich-Ausbildung, eine Ich-Schwäche, bescheinigt, die dazu führt, daß er nichts verdrängen muß, weil sich seine Wünsche auf direktem Wege realisieren können, dann hat das etwas von einer klammheimlichen Bewunderung; etwas von Neid. Theweleit behilft sich dann aber damit, daß er beim faschistischen Mann eine Neigung zu formatierter Aufstellung, zum geordneten Marschieren, diagnostiziert, das dem auflösenden Fließen und Strömen widersteht. Es gibt also eine faschistische Masse, die Formation, und eine gute Masse, wie Canetti sie beschreibt (vgl. Theweleit 1989, Bd.1: S.268f.), die die Auflösung des starren, berührungsfeindlichen Ichs ermöglicht.

Trotz Theweleits Parteinahme für das grenzenlose Verströmen legt er, wie schon erwähnt, eine paradoxe Faszination für die Maschinenmetapher an den Tag. Das Unbewußte, also das Begehrungsvermögen, soll eine „Wunschmaschine“ sein. Wer etwas gegen Maschinenmetaphern hat, bekommt von Theweleit eins auf den Deckel: solche Leute können nur Faschisten sein.

Wer aber hat jemals von einer sich verströmenden Maschine gehört? Das paßt einfach nicht zusammen. Maschinenfreundlichkeit und Individualisierungsfeindlichkeit hingegen passen sehr gut zusammen. Hinzu kommt Theweleits Ablehnung der Differenz zwischen Innen und Außen. Er kann sie sich nur als Mauer bzw. als Damm vorstellen, die das sich-Verströmen verhindert. So gesehen ist sogar die Haut, die Theweleit in seinem neuen Nachwort als Würdeersatz feiert, eine Mauer. Hindert sie doch den Körper daran, seine Flüssigkeiten zu verströmen.

Theweleits Art, psychoanalytisch über den Menschen zu sprechen, mißfällt mir. Es steckt eine kaum verhohlene Gewalttätigkeit darin, die das Intime aus seinem wohltätigen Dunkel herauszerrt und zu Markte trägt. Plessner bezeichnet die Seele als ein Geschöpf der Nacht. Sie will nicht angefaßt werden. Es wundert mich deshalb nicht, wenn Theweleit leichtfertig über die grundgesetzlich verbürgte Unantastbarkeit des Menschen herzieht und an ihre Stelle die Antastbarkeit der Haut setzen will. Nicht um zärtliche Berührungen geht es ihm, wie er behauptet. Er ist nur an ihrer Nacktheit interessiert. An ihrer Schutzlosigkeit. Es steckt eine Aufforderung zum Mißbrauch darin.