„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 11. April 2022

Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt a.M. 2020 (5/2021)

Von Redecker lehrt mich ein neues Wort: „Phantombesitz“. (Vgl. von Redecker 2020, S.32ff.) Angelehnt an „Phantomschmerz“ meint Phantombesitz etwas Doppeltes: zum einen die Angst der vermeintlichen ‚Eigentümer‘ vor dem Verlust der Verfügungsgewalt über ihren ‚Besitz‘ und zum anderen den Schmerz der ehemaligen Eigentümer über den Verlust des ihnen vermeintlich zustehenden Eigentums. Dabei unterscheidet von Redecker zwischen Eigentum und Besitz dahingehend, daß Eigentum seit Beginn der kapitalistischen Moderne eine „Willkürherrschaft“ des Eigentümers über Sachen bis hin zu ihrer sinnlosen Zerstörung beinhaltet, während Besitz nur das Nutzungsrecht auf Sachen beinhaltet, wenn man z.B. eine Wohnung mietet oder ein Stück Land pachtet. ‚Sachen‘ können wiederum materielle Gegenstände sein oder auch Personen, wie z.B. Frauen oder Sklaven, oder – im Zuge zunehmender Demokratisierung der Staatsverfassungen – Identitäten wie etwa die Staatsbürgerschaft. Wir haben es also in der kapitalistischen Moderne immer mit einer „Sachherrschaft“ zu tun. (Vgl. von Redecker 2020, S.28ff.)

Dabei können sich die Eigentümer ihrer Identitäten bzw. ihrer Rechte über die Sachen nie sicher sein, weshalb wir es mit einem Phantombesitz zu tun haben. Je nach der Entwicklung der Produktionsverhältnisse und der Ausdehnung von Rechten auf größere Personenkreise, also Personen weiblichen Geschlechts und anderer Hautfarbe, können sie jederzeit ihren vermeintlichen Besitz verlieren: es ist eben nur Phantombesitz. Und auf der anderen Seite können ‚Völker‘ bzw. ‚Staaten‘ versuchen, ehemalige ‚Hoheitsgebiete‘ zurückzugewinnen, wie es Putin zur Zeit mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine versucht. Ebenfalls Phantombesitz.

Von Redeckers Grundgedanke besteht darin, daß mit dem Übergang des kapitalistischen Eigentumsrechts, also der Willkürherrschaft über Sachen, in Besitzrecht die Willkürherrschaft über andere Menschen nicht wirklich abgeschafft ist. Sie lebt in Form des Phantombesitzes weiter. Wir alle sind nach wie vor ‚Sachen‘, keine Menschen. Im Hintergrund droht auf ständig angsterregende Weise die Rückkehr des Eigentümers, der wieder in seine Willkürhoheit eintreten will.

Das die Willkürherrschaft legitimierende Eigentumsrecht ist auch das Grundprinzip der (neo-)liberalen Fortschrittsidee, wie sie sich mit dem kapitalistischen Verwertungszwang gemein gemacht hat. Von Redecker spricht vom Fortschritt als einem „Sturm“, was an Walter Benjamins Engel der Geschichte erinnert, nur daß dieser Sturm nicht von einem hinter uns liegenden Paradies her weht, sondern von vorne dem produzierenden Menschen ins Gesicht: er weht „aus der spekulierten Zukunft“, als dem künftigen Profit, in unsere Gegenwart „zurück“ und verwüstet sie schon jetzt. (Vgl. von Redecker 2020, S.42) Aber ob der Sturm nun aus einer verlorenen, nicht mehr zu rettenden Vergangenheit heranweht, wie bei Benjamin, oder aus einer uneinholbaren Verwertungszukunft mit ihren immer unerfüllt bleiben Versprechungen, wie bei von Redecker: beide meinen damit den Fortschritt der kapitalistischen Moderne.

Die Sachherrschaft selbst, die auch den Zwang zur Selbstverwertung des ehemaligen Lohnarbeiters und heute des Arbeitnehmers als Unternehmer in eigener ‚Sache‘ beinhaltet, ist eng mit unserem Technologieverständnis verbunden. Denn Technik dient längst nicht mehr der Selbsterhaltung der Menschen, sondern ist untrennbarer Teil der Sachherrschaft, was sich z.B. in aktualisierter Form als Vertrauen darauf äußert, daß wir die aktuellen Probleme des Klimawandels durch künftige neue Technologien bewältigen werden. Also noch mehr Sachherrschaft. So beschließen die Länder auf internationalen Konferenzen abstrakte Ziele wie das Zwei-Grad-Ziel, und erwecken den Eindruck, es ginge nur um einige Anpassungsmaßnahmen, die wir mit Hilfe der Entwicklung neuer Technologien umsetzen können. Hier wird die Willkürherrschaft als Sachherrschaft bis in die Diskussion und Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen hinein nahtlos fortgesetzt. Von Redecker betont dagegen, daß es allererst darum geht, wie wir künftig leben wollen. (Vgl. von Redecker 2020, S.110f.) Und das zentrale Moment dabei ist der Verzicht, über den mittlerweile nicht mal die Grünen mehr reden wollen. Und zwar ist mit diesem Verzicht der Verzicht auf unbeschränkte Produktion und Konsum gemeint; aber vor allem auch der Verzicht auf die Willkürherrschaft über ‚Sachen‘.

Wir müssen uns wieder bewußtmachen, daß die vermeintlichen toten ‚Sachen‘ Bestandteil von planetaren Stoffwechsel- und Lebenszyklen sind, die Materie und Lebendiges gleichermaßen umfassen und alle ihre unterschiedliche Zeit haben. Das paßt gut zu meinem Konzept, daß der Mensch aus vier Entwicklungsprozessen besteht, aus denen er nicht nur in einem langen Evolutionsprozeß hervorgegangen ist, sondern die ihn ständig, buchstäblich mit jedem Atemzug, am Leben erhalten: nämlich aus geologischen, biologischen, kulturellen und individuellen Entwicklungsprozessen mit ihren ganz unterschiedlichen Zeiträumen. Von Redecker bezeichnet diese Zeiträume als Zyklen: sie verlaufen nicht linear, sondern erneuern sich entsprechend ihrer Eigentümlichkeit. In Anlehnung an Ebbe und Flut bezeichnet von Redecker diese Zyklen als „Gezeiten“: „Die Welt ist ein Ensemble von Gezeiten. ... Die Kreisläufe sind unendlich verwoben, sie erstrecken sich über ganz unterschiedliche Zeitspannen – Atemrhythmen, Vegetationsperioden, Produktionszyklen.“ (Von Redecker 2020, S.235)

Die Gegenwart, in der wir leben, ist deshalb der Zeitraum, „wo sich alle Gezeiten treffen“: „Jeder Reproduktionszyklus hat seine eigene Spanne und Myriaden von Voraussetzungen im Material anderer Zyklen. Aber alles, was lebt, ist jetzt anwesend.“ (Von Redecker 2020, S.285)

Von Redecker bekennt sich zu einem „umsichtige(n) Kommunismus“ (von Redecker 2020, S.284), der darin besteht, Räume zu schaffen, in denen die Menschen sich wieder „gemein“ machen können, im Sinn von ‚allgemein‘ oder im Sinn von ‚Gemeinwohl‘. Dazu wählt sie das Bild eines Waldes, in dem die Bäume einzeln dastehen, mit Zwischenräumen zwischen sich und den anderen Bäumen, aber gemeinsam einen Wald bilden. (Vgl. von Redecker 2020, S.155) Sie sind verbunden durch Wurzeln und ein dichtes unsichtbares Pilzgeflecht, das wie Nervenleitungen in einem menschlichen Gehirn funktioniert. Von Redecker schlägt vor, daß wir also nicht nur selbst solidarischen Abstand praktizieren, wie es die Pandemie uns auferlegt, sondern auch die Zwischenräume, die die aktuelle Wirtschaftsordnung läßt, nutzen, um eine andere Wirtschaftsordnung ansatzweise und experimentierend zu verwirklichen.

Denn auch wenn die Sachherrscher uns etwas anderes einzureden versuchen: es kommt auf uns an, auf jede/n Einzelne/n. Die Revolution für das Leben besteht nicht in einem plötzlichen und gewaltsamen Umbruch, sondern im alltäglichen Experiment, ein anderes Leben zu führen.

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