„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 15. April 2022

Menschenrechte oder Menschheitsrechte?

Anders als viele Dekonstruktivistinnen und Dekonstruktivisten dekonstruiert Corine Pelluchon in ihren Buch „Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung“ (2021) die Aufklärung und den mit ihr verbundenen Humanismus nicht, um sich dann von ihm als einer Angelegenheit weißer europäischer Männer abzuwenden. Stattdessen will sie das Aufklärungsprojekt fortsetzen und spricht von der Notwendigkeit eines neuen Humanismusses. (Vgl. Pelluchon 2021, S.113ff.)

Damit entgeht sie dem Widerspruch, einerseits mit dem Humanismus auch den Universalismus der Menschenrechte abzuschaffen und ihn andererseits in einen neuen Universalismus der Frauenrechte zu überführen, wobei die ‚Frauen‘ an die Stelle des ‚Menschen‘ treten, die nun pars pro toto für alle diskriminierten Gruppen stehen sollen.

Pelluchon will also am Humanismus festhalten, will allerdings diesen neuen Humanismus nicht auf die individuellen Menschenrechte, sondern auf „Menschheitsrechte“ gründen. Dabei wirft sie ausgerechnet den individuellen Menschenrechten vor, eine bloß „abstrakte Idee“ zu sein (vgl. Pelluchon 2021, S.115), während die Konzeption der Menschheitsrechte die konkrete Verantwortung des Menschen für den Planeten in den Blick nehme. Damit stellt sie die Begrifflichkeiten auf den Kopf. Denn wenn etwas abstrakt ist, dann ist es ein Allgemeinbegriff wie ‚Menschheit‘, der sich allein schon von der Wortbildung her von anderen Allgemeinbegriffen wie ‚Tiere‘, Pflanzen‘ etc. absetzt.

Tatsächlich meint Pelluchon etwas anderes: Menschheitspflichten! Also die Pflichten der Menschheit ihren Mitgeschöpfen gegenüber. Hier macht der abstrakte Allgemeinbegriff Sinn; denn diese Verantwortung ist spezifisch eine Verantwortung, die uns Menschen gegenüber unseren Mitgeschöpfen abgrenzt.

Wenn ich hingegen weiter von „Menschenrechten“ sprechen möchte, so deshalb, weil wir es hier mit einer Konkretion zu tun haben, die offen ist für eine in unserer vielschichtigen Menschlichkeit wurzelnde Verwandtschaftsbeziehung zu Tieren und Pflanzen. Denn erst, wenn wir die Individuen auf angemessene Weise in den Blick nehmen, eröffnen sich die unterschiedlichen Zeitdimensionen ihrer Gewordenheit, die weit in die Biologie und Geologie unseres Planeten zurückreicht und gleichzeitig in die Gegenwart unserer täglichen Lebensführung hineinmündet. Denn darin hat Pelluchon recht: beim Menschen handelt sich um ein „durchweg relationales Subjekt“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.117)

Pelluchons Kritik an der klassischen Aufklärung des 17. und 18. Jhdts. bezieht sich – abgesehen von ihrer Eingrenzung auf weiße europäische Männer – auf ihre Beschränkung des Vernunftbegriffs, die die körperliche Situiertheit des Menschen negiert (vgl.u.a. Pelluchon 2021, S.51). Pelluchon hält der rechnenden Vernunft der Aufklärung eine demütige Vernunft entgegen (vgl. Pelluchon 2021, S.41 und S.43), was meiner Ansicht nach auch eine Kritik der Digitalisierung beinhalten müßte, was bei ihr aber nicht explizit wird. Vielleicht liegt das mit daran, daß Pelluchon den Kapitalismus in seiner destruktiven und apokalyptischen Tendenz nicht zuende denkt, sondern naiv nur den „gegenwärtigen Kapitalismus“ kritisiert (vgl. Pelluchon 2021, S.50), als könne er sich noch mal in etwas zurückverwandeln, was sie an anderer Stelle als einen „den Werten der Autonomie und Gerechtigkeit verpflichteten Kapitalismus früherer Jahrhunderte“ bezeichnet (vgl. Pelluchon 2021, S.39f). Als wäre der Kapitalismus nicht schon immer ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen.

Was die der klassischen Aufklärung fehlende Anerkennung der ‚Körperlichkeit‘ betrifft, wendet sich Pelluchon gegen den abstrakten Begriff der Willensfreiheit, die ja ebenfalls vor allem gegen den Körper gerichtet gewesen war. ‚Frei‘ war der Mensch in seinem Willen, wenn er nicht von körperlichen Bedürfnissen abhängig war. Genau damit, mit Begriffen wie „Lust“, „Passivität“, „Empfänglichkeit“ und „Abhängigkeit“, assoziiert Pelluchon eine positive Körperlichkeit. (Vgl. Pelluchon 2021, S.53) Diese Körperlichkeit bildet auch die Basis ihres Konzepts einer relationalen Subjekthaftigkeit, als „Leben von ...“, also als „Abhängigkeit von den umweltbezogenen, biologischen, sozialen und affektiven Bedingungen (unserer) Existenz“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.58) Zurecht wendet sich Pelluchon dagegen, diese Relationalität als einen Holismus im Sinne identitärer Gemeinschaftlichkeit mißzuverstehen. (Vgl. ebenda) Weder geht ihr etwas Wesenhaftes voraus, noch folgt aus ihr etwas Wesenhaftes. Pelluchons relationales, körperlich situiertes Subjekt entspricht meiner Auffassung von den drei Entwicklungsprozessen, der Biologie, der Kultur und des Individuums, aus denen wir als konkret situierte, menschliche Individuen hervorgegangen sind und unaufhörlich, solange wir leben, weiter hervorgehen.

Demokratie ist Pelluchon zufolge keine bloß formal bestimmte Regierungsform, die es Populisten wie Orban erlaubt, von „illiberalen“ Demokratien zu sprechen. Sie ist wesentlich durch den „intrinsischen Wert der Freiheit“ bestimmt: „Die Demokratie verdankt ihre Legitimität einem ethischen Prinzip und der von der Aufklärung vertretenen Konzeption des guten Lebens: Ein Leben, das sich zu leben lohnt, sei es von Erfolg gekrönt oder nicht, angenehm oder nicht, ist ein Leben, in dem eine Person freien Gebrauch von ihrem Willen machen kann, in dem niemand ihr diktiert, was sie zu denken hat, und in dem sie ihre Ansichten überprüft.()“ (Pelluchon 2021, S.122f.)

Diese intrinsische Freiheit, fährt Pelluchon fort, setzt voraus, „seine Wünsche zu erkennen, statt Bedürfnissen und Bestrebungen nachzugehen, die von außen diktiert und vom Markt geprägt werden“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.123) – Pelluchon spricht also von der Notwendigkeit, unsere eigenen Bedürfnisse zu erkennen, zu gewichten und ihnen eine individuelle Gestalt zu geben.

Feminismus ist für Pelluchon eine Bewußtseinshaltung, in der sich das autonome Subjekt von der Vorstellung befreit, daß es „seine Emanzipation einem Anderen verdankt“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.125) Damit wendet sich Pelluchon nicht gegen eine Ethik des Anderen, sondern sie plädiert für die Selbstbezüglichkeit eines emanzipatorischen Aktes, der seine Freiheit in erster Linie sich selbst verdankt, so wie ja auch die Unfreiheit in erster Linie selbstverschuldet gewesen ist, entsprechend der von Kant konstatierten „selbstverschuldeten Unmündigkeit“: „Die Aufklärung im Zeitalter des Lebendigen basiert also auf einer Revolution in der Denkweise des Menschen über sich selbst und über sein Sein-mit-der-Welt-und-mit-anderen.“ (Pelluchon 2021, S.136)

Dabei kann sich dieses „Sein-mit-der-Welt-und-mit-anderen“ Pelluchon zufolge am besten in kleinen Gemeinschaften verwirklichen: „... eine um Ökologie strukturierte gesellschaftliche und politische Organisation setzt voraus, dass die Menschen kleine, eng an ihre Umwelt gebundene Gemeinschaften bilden, da vor allem in diesem Rahmen ihre Sorge für den Schutz des Lebendigen und ihre Verantwortung für die gemeinsame Welt und die Menschheit entstehen.“ (Pelluchon 2021, S.147)

In diesen Gemeinschaften bilden die Individuen die unhintergehbare Basis für ein moralisches Urteilsvermögen. (Vgl. Pelluchon 2021, S.144, 169/170 u.ö.) Sie bilden den ‚exzentrischen‘ Ursprung, um es mit Plessner auszudrücken, für die Entstehung von offenen Gesellschaften; für den „Bruch mit der Geschlossenheit des Sinnsystems“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.170)

Pelluchons phänomenologische Analyse beinhaltet eine Technologiekritik, wie ich sie bislang anderswo vergeblich gesucht habe. Sogar Richard David Precht („Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ (2020)), dessen Buch ich zunächst mit großer innerer Zustimmung gelesen hatte, hat mich am Ende enttäuscht, weil er auf den letzten Seiten seines Buchs völlig unmotiviert plötzlich positiv wird und was er vorher in düstersten Farben ausgemalt hatte, unvermittelt affirmiert. Trotz ihrer windelweichen Kapitalismuskritik erweist sich Pelluchon an dieser Stelle als unerbittlich, und sie zeigt die enge Verbindung von Kapitalismus und Technik auf: im Dienste des Kapitalismus befriedigt die Digitalisierung nicht „unsere realen Bedürfnisse“, sondern weckt allererst jene scheinbaren Bedürfnisse, „die dieses Modell“, nämlich das Modell, „das unsere Welt regiert“, „hervorruft“. (Vgl. Pelluchon 2021, S.208f.; vgl. auch S.214) – Diese Technologiekritik mündet in eine vernichtende Kritik des Transhumanismusses. (Vgl. Pelluchon 2021, S.226ff.)

Pelluchons Buch liest sich alles in allem ungeheuer hoffnungsvoll. Sie spricht vom kommenden bzw. schon eingetretenen „Zeitalter des Lebendigen“, als liefe die Entwicklung unweigerlich darauf hinaus. Ihre Analyse des imaginären Schemas der Herrschaft, wie es die Aufklärung geprägt hatte und das letztlich eben doch nichts anderes als der Kapitalismus ist, den sie eingangs eher ambivalent bewertet hatte, ist absolut nüchtern und klar. Aber gerade vor dem Hintergrund des offensichtlichen Scheiterns des die kapitalistische Moderne legitimierenden Aufklärungsprojekts erscheint die Möglichkeit, die Pelluchon aufzeigt, nämlich mit der Aufklärung über die Aufklärung hinauszugehen, als geradezu unverzichtbar.

Aber der Rückfall in die Barbarei, vor dem auch Pelluchon warnt, ist nicht nur jederzeit möglich, sondern findet derzeit u.a. in Form des Putinschen Angriffskriegs schon statt. Vielleicht ist es ja so, daß die Barbarei der Schatten ist, der jeden unserer Schritte begleitet, sobald wir uns auf diese komplizierte, längst aus den Fugen geratene Welt einlassen.

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