„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. November 2019

Stimmungen und Atmosphären

Stimmungen und Atmosphären sind von konkreten Intentionen weitgehend unabhängig. Was das betrifft, stimme ich Hermann Schmitz zu. Allerdings heißt das nicht, daß Intentionalität keine Bedeutung hat und daß es so etwas wie ein Bewußtsein nicht gibt. Genau das, also daß es Bewußtsein nicht gibt, behauptet Hermann Schmitz. Es ist aber vielmehr so, daß Stimmungen und Atmosphären bestimmte Intentionen (auf andere Menschen gerichtete Erwartungen und Verhaltensdispositionen) und mit ihnen Intentionalitätsstrukturen (soziale Praktiken und gesellschaftliche Institutionen) mehr unterstützen als andere. Es gibt eine zumindest einseitig bedingende Abhängigkeit, also des Bewußtseins von Stimmungen und Atmosphären. Tatsächlich ist es aber noch etwas komplizierter.

Abhängigkeiten konkreter Intentionalität von Stimmungen und Atmosphären: vor fünfzig Jahren in Woodstock bewirkte die Atmosphäre des dreitägigen Events eine friedliche und liebevolle Zugewandtheit bei den Teilnehmern. Die Anwohner der nahegelegenen Ortschaften waren hingerissen von dem respektvollen und höflichen Verhalten und dem Charme der Hippies und ‚Freaks‘. Heute: bei Aufmärschen von Pegida und Identitären ist ein anderes Verhalten üblich. Deren Atmosphären unterstützen Gewalttätigkeit, Haß und Mißtrauen gegenüber anderen Menschen.

Bei Stellenausschreibungen werden oft atmosphärische Qualitäten abgefragt: Erfolgsorientierung und Flexibilität beispielsweise. Und auf ‚Firmenkultur‘, also wiederum Atmosphäre, wird vor allem deshalb wertgelegt, weil sonst die konkrete Intentionalitätsstruktur der Firma – also ihre Produktivität (Autos, Smartphones, Altenpflege etc.) – nicht effektiv realisiert werden könnte.

Aber konkrete Intentionen und ihre sozialen Praktiken und institutionellen Strukturen, also die konkrete Intentionalität (erkennen und befriedigen von Bedürfnissen), gehen mit einem Bewußtsein einher, das sich deutlich von vagen Stimmungen und Atmosphären unterscheidet. Letztere unterstützen dieses Bewußtsein, das sich zu einem Selbstbewußtsein entwickeln will, nicht, sondern behindern es. Zwar unterstützen Stimmungen und Atmosphären generell zu ihnen passende Bewußtseinsakte, also auch konkrete Intentionalität mit ihrer reflexiven Komponente, aber nur unterhalb der Bewußtseinsschwelle.

Stimmungen und Atmosphären decken sich weitgehend mit dem, was Blumenberg „Lebenswelt“ nennt. Und diese Lebenswelt fungiert ausschließlich unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Das hat einige Neurowissenschaftler zu der Annahme verleitet, daß es so etwas wie einen freien Willen, also wiederum ein Selbstbewußtsein, nicht gibt. In dieser Hinsicht befinden sie sich auf einer Linie mit Hermann Schmitz.

Aber obwohl diese unterbewußten Prozesse unserem Bewußtsein entzogen sind und es sogar behindern, ermöglichen sie es auch. Denn ohne diese teils psychosozialen, teils physiologischen Prozesse könnte es seine Aufmerksamkeit nicht anderen Dingen in der Welt zuwenden. Es ist das Unterbewußtsein, das das Bewußtsein für die Welt freistellt.

Die Grenze zwischen beidem, zwischen Lebenswelt und Physiologie einerseits und dem Bewußtsein andererseits, ist allerdings beweglich, und beide Seiten kämpfen darum, sie zu ihren Gunsten zu verschieben. Früher, vor den PISA-Studien, nannte man das mal Bildung, nämlich die Erhöhung der Freiheitsgrade von Individuen im Laufe ihres Lebens. Man könnte auch von ‚Seele‘ sprechen, denn die unterbewußten Prozesse, Stimmungen und Atmosphären wollen sich ‚ausdrücken‘ (Expressivität), also zu Bewußtsein kommen; sie können sich aber im Bewußtsein nicht halten und sinken wieder unter die Schwelle zurück.

Das Bewußtsein mit seiner reflexiven Komponente ist atmosphärischen Prozessen nicht zuträglich. Diese behindern also nicht nur das Bewußtsein, sondern das Bewußtsein behindert auch sie. Letztlich kann man also festhalten: wenn Stimmungen und Atmosphären bestimmte Bewußtseinsakte (konkrete Intentionalität) unterstützen (oder behindern) – soziale Zuwendung, Hilfsbereitschaft, Zweitpersonalität in Woodstock; Haß, Menschenverachtung, Gruppenidentität auf Pegidaveranstaltungen –, dann unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Umgekehrt unterstützt (oder behindert) ein ausgebildetes Selbstbewußtsein unterschwellige Stimmungen und Atmosphären nur oberhalb der Bewußtseinsschwelle, nämlich in Form von Bildung. Beide Bewußtseinsebenen begegnen und formen sich gegenseitig auf der Ebene von Meditationen, sozialen Praktiken und institutionellen Strukturen.

Noch ein Letztes: Toni Morrison bezeichnet in ihrem Essayband „Die Herkunft der Anderen“ (2018/2017) die Globalisierung als eine „Verwischung von Drinnen und Draußen“; und zwar auf drei Ebenen: der politischen, der metaphorischen und der psychologischen. (Vgl. Morrison 2017, S.95f.) So gesehen ist Schmitzens „Neue Phänomenologie“ mit ihrer Ersetzung der Innenwelt durch Atmosphäre eine Globalisierungsideologie.

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Freitag, 1. November 2019

„Neue Phänomenologie“

Als ich vor etwas mehr als einem Jahr Svenja Flaßpöhlers „Die potente Frau“ (2018) las (vgl. meine Rezension vom 01.09. bis 03.09.2018), stieß ich dort nach meiner damaligen Meinung zum ersten Mal auf den Begriff der Neuen Phänomenologie und konnte nicht viel damit anfangen. Inzwischen bin ich in meinem eigenen Bücherregal auf zwei Bücher von Hermann Schmitz gestoßen: auf „Der Leib, der Raum und die Gefühle“ (1998) und auf „Der unerschöpfliche Gegenstand“ (2007/1990). Als ich in die Bücher reinschaute, stieß ich dort wieder auf den genannten Begriff und mußte vor mir selbst gestehen, daß ich ihn schon gekannt, aber dann vollständig wieder vergessen hatte.

In beiden Büchern befinden sich Unterstreichungen und Randbemerkungen, aber beide Bücher habe ich nicht vollständig gelesen. „Der Leib, der Raum und die Gefühle“ hatte ich vor ca. 20 Jahren angefangen zu lesen, wie gesagt nur auszugsweise. Obwohl es thematisch voll auf meiner Denklinie liegt, hatte ich mit dem Buch nichts anfangen können. Sonst hätte ich diesen Lektüreversuch wohl auch kaum so vollständig vergessen, wie übrigens auch den von „Der unerschöpfliche Gegenstand“, worin ich vor rund zehn Jahren zum ersten Mal gelesen hatte und dann am Ontologiekapitel gescheitert war.

Viele Philosophen, die ihre Ideen ausdrücken und sich dabei möglichst verständlich ausdrücken wollen, entwickeln einen eigenen unverwechselbaren Sprachstil. Wenn man sich als Leser in diesen Sprachstil einarbeitet, bereitet es keine Mühe mehr, zu verstehen, was der Philosoph einem mitteilen will. Andere Philosophen wiederum entwickeln einen eigenen Sprachstil und kümmern sich dabei nicht darum, ob irgendjemand sie versteht. Typische Vertreter dieser Spezies sind die Poststrukturalisten. Sie bilden eine regelrechte Schule der Unverständlichkeit. Zu diesen Philosophen, also nicht zu den Poststrukturalisten, aber zu den gestelzt Unverständlichen, gehört auch Hermann Schmitz. Übrigens ist es interessant, wie Hartmut Rosa in „Resonanz“ (2018) mit Hermann Schmitz umgeht. Er bezieht sich zwar einige Male auf ihn, bleibt dabei aber sehr allgemein. Wenn es um Details der Schmitzschen Neuen Phänomenologie geht, bezieht sich Rosa nicht direkt auf Schmitz, sondern auf den Psychiater Thomas Fuchs, der ihm als Vermittler dient. Mit anderen Worten: Rosa hat Schmitz wohl auch nicht verstanden.

Zu den Philosophen, die sich nicht verständlich ausdrücken (können oder wollen), gehört also auch Hermann Schmitz, obwohl er kein Poststrukturalist, sondern ein Phänomenologe ist. Allerdings haben die Phänomenologen ihre eigenen Esoteriker: allen voran Edmund Husserl; also jetzt insbesondere der Husserl der Wesensanschauungsphänomenologie, nicht der Intersubjektivitäts- und Lebenswelttheoretiker. Und auch Hans Blumenberg hat seine unverständlichen Momente, in denen er sich eines von Husserl geprägten phänomenologischen Jargons bedient, der den darin nicht eingeweihten Leser außen vor läßt.

Jetzt habe ich jedenfalls vor, meine damaligen unvollständig gebliebenen Lektüren nachzuholen, um doch noch so etwas wie eine Rezension zustandezubringen. Dabei werde ich mich vor allem auf „Der unerschöpfliche Gegenstand“ (2007) und auf den von Hermann Gausebeck und Gerhard Risch herausgegebenen Sammelband „Leib und Gefühl“ (2/1992) konzentrieren, der einige leichter verständliche Texte von Schmitz enthält. Aber auch hier werde ich wieder nur auszugsweise vorgehen, indem ich mich auf das Thema ‚Seele‘ und ‚Introjektion‘ beschränke. Letztlich handelt es sich mit diesem Blogpost nicht um eine gründliche Rezension, sondern um eine Meinungsäußerung, die ich aber gerne zur Diskussion stellen möchte.

Gleich auf den ersten Seiten von „Der unerschöpfliche Gegenstand“ wird klar, daß Schmitz die Seele, ganz anders als Plessner, als bloße „Innenwelthypothese“ in Frage stellt. (Vgl. Schmitz 2007, S.17ff.) Schmitz bezeichnet die Seele als ein „alle Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Impulse, Entschlüsse usw. eines Menschen umfassende(s) Sammelbecken()“, und führt sie im wesentlichen auf zwei Bedürfnisse zurück: auf das „Bedürfnis nach Zentrierung“, was Schmidt zufolge zu der „widerspruchsvollen Doppelansicht der Seele als Subjekt und Rahmen des Erlebens, Herr im Haus und Haus, worin jener Herr ist“, führt (vgl. Schmitz 2007, S.18); und auf das Bedürfnis, „die Welt möglichst weitgehend so zu vergegenständlichen, daß man sich dabei an nur wenige, intermomentan und intersubjektiv gut identifizierbare Merkmale ... zu halten braucht“, womit die sogenannten primären Qualitäten des Raums, der Zeit und der Quantität gemeint sind, während die ‚sekundären‘ Qualitäten der ‚Seele‘, also alle weiter oben aufgezählten subjektiven Empfindungen, vorbehalten bleiben (vgl. ebenda).

An anderer Stelle spricht Schmitz von drei „Motiven“ für die Vorstellung von einer Seele, die er als Quellen eines „grandiosen Selbstmißverständnisses der Menschheit“ bezeichnet: das „praktisch-pädagogische (Motiv – DZ) der Selbstermächtigung des Menschen als mündige Person“, den „Physiologismus der Wahrnehmungslehre“ und die „Objektivierung der Außenwelt“. (Schmitz 2/1992, S.291) Mit dem praktisch-pädagogischen ‚Motiv‘ suggeriert Schmitz, daß die Vorstellung von einer Seele nicht anthropologisch und moralphilosophisch, sondern bloß ideologisch begründet sei. Mit dem Physiologismusvorwurf unterstellt er, daß es keine ‚inneren‘ seelischen Vorgänge gibt, die sich auf physiologischer Ebene beschreiben ließen. Und mit der Objektivierung der Außenwelt wird Schmitz zufolge alles, was sich dieser Objektivierung entzieht, der ‚Seele‘ zugeschrieben.

Mit diesen ‚Motiven‘ verwirft Schmitz in einem Aufwasch den Humanismus der Aufklärung (Autonomie/Mündigkeit) und die Möglichkeit eines Bewußtseins (Differenz von Innen und Außen), die er beide zugleich mit dem Reduktionismus der Naturwissenschaften, insbesondere der Neurophysiologie, in einen Topf wirft, die alle Bewußtseinsakte mit physiologischen Prozessen gleichsetzen. Es ist nicht nur die ‚Seele‘ – wie auch immer man sie sich vorstellen mag –, sondern mit ihr auch das Bewußtsein selbst, das Schmitz aus seiner Neuen Phänomenologie wegdefiniert, was dann auch schon das Neue an seiner ‚Phänomenologie‘ wäre. Denn eine Phänomenologie, die das Bewußtsein für irrelevant erklärt, gab es bislang noch nicht.

Letztlich hält sich Schmitz bei seiner Kritik des Seelenbegriffs an einem historischen Popanz fest, an dem sich heute in dieser Form sowieso kaum noch jemand orientiert. Er verweist auf den traditionellen Sprachgebrauch:
„Die Seelenvorstellung ist heute im üblichen Sinn eines dem Körper an Einheitlichkeit mindestens gleichkommenden Verbandes aller Erlebnisse eines Menschen, oder gar im Sinne eines substantiellen ‚Trägers‘ dieses Verbandes, ein Erbe der griechischen Philosophie des 5. Jahrhunderts v.Chr. und konsolidiert sich erst an der Wende zum 4. Jahrhundert, während sie für Platon schon selbstverständlich ist ... .“ (Schmitz 2007, S.17f.)
Schmitz geht also davon aus, daß die Seele auch heute noch als eine Art innerer Körper bzw. inneres ‚Ding‘ verstanden wird (vgl. Schmitz 2007, S.36f.), und er verwirft mit dieser Seelenvorstellung gleich den ganzen Seelenbegriff und die damit verbundene Vorstellung von einer sich von der Außenwelt unterscheidenden Innenwelt, was er als „Innenwelthypothese“ bezeichnet, die sich aufgrund der Introjektion der durch die Mathematisierung der Außenwelt entstandenen ‚Abfälle‘, also den nicht-mathematisierbaren sekundären Qualitäten herausgebildet hat. (Vgl. Schmitz 2007, S.18f.)

Auf den Dingbegriff, im Sinne eines Außenweltphänomens, bin ich schon in meinem letzten Blogpost zu Harmut Rosa eingegangen. (Vgl. meinen Post vom 01.10.2019) Hier möchte ich nur nochmal kurz auf die Relevanz von Körperdingen auch für innere Prozesse des menschlichen Bewußtseins hinweisen. Da für Schmitz das Bewußtsein kein Thema ist, ist es insofern nicht erstaunlich, wenn er ineins damit auch die phänomenologische Bedeutung von Körperdingen leugnet, um an deren Stelle atmosphärische Ausdehnungen wabern zu lassen. Das Ding, das die Engländer ‚Thing‘ nennen, bildet eine ‚Ratsversammlung‘, im Sinne eines Sinnzentrums, das die Vielheit von Erscheinungen zu einer Einheit (Gestalt) zusammenfaßt. Der Raum, in dem sich diese Einheit formt, ist das Bewußtsein. Das Bewußtsein, das selbst eine Einheit bildet, wird durch das Ding als Einheit von Erscheinungen möglich, so wie es wiederum das Ding möglich macht. Könnte das Bewußtsein sich beim Ding als dieses Ding erlebendes Subjekt nicht mitdenken, gäbe es kein Ding und somit auch kein Bewußtsein. Kant bezeichnet diese Bewußtseinsleistung auch als „Apperzeption“. Letztlich haben wir es mit Gestaltwahrnehmung zu tun, welche Kant als „Apprehension“ bezeichnet.

Mit der Verwerfung des Seelischen – an ihre Stelle setzt Schmitz eine bewußtseinsunabhängige, frei schwebende, sich bei Gelegenheit in Leibesregungen einbettende Subjektivität – disqualifiziert Schmitz sich wie schon erwähnt als Phänomenologe. Zwar spricht er noch von dem „affektiven Betroffensein“ von „Bewußthabern“; aber von ihnen schließt Schmitz nicht auf ein Bewußtsein, sondern auf Subjektivität.

Wenn man mit Hans Blumenberg davon ausgeht, daß die „Phänomenologie als eine Beschreibung von Vorkommnissen des Bewußtseins“ zu verstehen sei (vgl. „Beschreibung des Menschen“ (2006), S.329), fragt man sich, was an Schmitzens Neuer Phänomenologie dann noch phänomenologisch genannt werden könne. Antwort: vor allem die Methode. Ein Phänomenologe ist Schmitz zufolge jemand, der gegenüber allzu hohen Erwartungen hinsichtlich der Definierbarkeit philosophischer Begriffe skeptisch ist. (Vgl. Schmitz 2007, S.32) Der Phänomenologe bleibt Schmitz zufolge in dieser Hinsicht begrifflich geerdet, indem er auf der „relativ trivialen Lebenserfahrung“, die „jedermann“ zugänglich ist, aufbaut. (Vgl. Schmitz 2007, S.33). Mit ‚relativ trivialer Lebenserfahrung‘ ist offensichtlich die Lebenswelt gemeint. Man könnte auch sagen, daß Phänomenologen auf ihren gesunden Menschenverstand setzen. Ohne dabei allerdings unkritisch zu werden, versteht sich.
„Dieses Verfahren soll gewährleisten, daß der Philosoph stets sich verstehen und verstanden werden kann, damit er sich nicht selbst betrügt, wie leicht geschieht, wenn er sich auf dem schwankenden Meer überkommener Begriffe oder prophetenhaft expektorierter Redensarten (‚Jargon der Eigentlichkeit‘) treiben läßt.“ (Schmitz 2007, S.33)
Nun richtet sich allerdings diese überaus gelungene Beschreibung eines Phänomenologen gegen Schmitz selbst. Denn ausgerechnet dieser Verteidiger des gesunden Menschenverstandes leugnet das Vorhandensein von Innenwelten, und die Seele soll nur ein Müllabladeplatz für sekundäre Qualitäten sein. (Vgl. Schmitz 2007, S.18f., 21f., 199ff.) Dennoch soll es eine Subjektivität geben, in Form eines affektiven Betroffenseins, nur eben nicht als Seele oder als Bewußtsein, sondern als Atmosphäre. Diese Verleugnung der Innen-Außen-Differenz ist keineswegs trivial und bedarf eines aufwendigen Begründungsverfahrens, das wiederum viel Vertrauen in die Definierbarkeit philosophischer Begriffe voraussetzt. Wer aber so argumentiert, mißachtet die (lebensweltlichen) Phänomene, die der Phänomenologe mit seiner Skepsis gegenüber Begriffskonstruktionen Schmitz zufolge doch eigentlich ernst nehmen sollte. Immerhin behält Schmitz gegen sich selbst recht, wenn er schreibt, „daß man (trotz großer Evidenz in vielen trivialen und nicht-trivialen Fällen), nie ganz sicher wissen kann, was gerade Phänomen für einen ist“. (Vgl. Schmitz 2007, S.34) – Das trifft wohl allererst auf Schmitz selbst zu.

Auch der gesunde Menschenverstand kann einen also in die Irre führen. Aber gilt das auch für alle Vorstellungen von der Seele, so daß es sich verbietet, künftig weiterhin von ihr zu reden? – Es ist nunmal so, daß wir uns selbst allererst als Körper erleben. Unser Körper ist kein Gas und keine Flüssigkeit. Deshalb ist es Teil unserer trivialen Lebenserfahrung, daß wir uns an die Grenze unseres Körpers gestellt sehen, als Haut und als Gesicht. Die Erfahrung einer Innen-Außen-Differenz ist für uns fundamental. So sehr Gefühle also etwas Atmosphärisches (Gasähnliches) haben – hier stimme ich Schmitz zu –, so sehr stehen diese Gefühle doch an dieser Grenze und durchdringen sie nur expressiv, als Mimik, als Laut und als Wort. Genau das ist Seele!

Indem Hermann Schmitz die ‚Seele‘ – natürlich nicht die Seele, sondern die Gefühle – als etwas atmosphärisch Ausgedehntes beschreibt, beraubt er sie der Fähigkeit des Rückzugs aus der Außenwelt (Extrojektion) in ein abgeschlossenes Inneres – es gibt ja keinen Innenraum –, in das bzw. in den sie sich zurückziehen könnte, wenn sie nicht berührt werden will. Sogar die Scham bezeichnet Schmitz als etwas in erster Linie Atmosphärisches, so daß sie nicht länger auf die Entblößung reagiert, die jemandem widerfährt. Die ‚Seele‘, die es nicht gibt, dieses angeblich grandiose Selbstmißverständnis, ist als bloß atmosphärisches Gefühl dem „Gegenstoß einer von allen Seiten zentripetal auf den Exponierten eindringenden und ihn durchbohrenden atmosphärischen Macht“ nackt und hilflos ausgesetzt. (Vgl. Schmitz 2/1992, S.112) – Dabei haben sogar Gefolterte als letzte Rückzugsmöglichkeit eine innerste Zuflucht, aus der sie kein Folterknecht mehr herauszuholen vermag.

Hermann Schmitz legt die Subjekte darauf fest, affektiv betroffen zu sein. (Vgl. Schmitz 2/1992, S.34f.) Affektiv betroffen sind sie aufgrund von atmosphärisch bedingten Gefühlen. Diese Subjekte kennen keine exzentrische Position, in der sie sich und der Welt gegenüberstehen können. Wenn Gefühle nicht mehr an Körper, sondern an Atmosphären gebunden sind, wird auch der Blick, der sich auf Körper richtet, gegenstandslos. Er löst sich im Atmosphärischen auf und kann keine Gemeinschaft zwischen Ich und Du begründen. Zweitpersonalität und eine in ihr gründende Ethik werden unmöglich. Worauf es ankommt, sind die Kollektive und die Atmosphären, die sie erzeugen.

Atmosphärisches von dieser Art kennt man auch aus anderen Zusammenhängen. Ich hatte in diesem Blog schon mal die „morphogenetischen Felder“ von Rupert Sheldrake diskutiert. Oder man denke an die „Zwischenleiblichkeit“ von Maurice Merleau-Ponty. Nicht zuletzt Edmund Husserls Begriff der „Lebenswelt“ deckt weite Teile dessen ab, was Schmitz als „Atmosphäre“ bezeichnet. Wir haben es hier mit notwendigen Begriffen zu tun. Abgesehen von Sheldrakes „morphogenetischen Feldern“ haben wir es aber immer auch mit Bewußtseinsbegriffen zu tun. Ohne (einzelmenschliches, individuelles) Bewußtsein keine Zwischenleiblichkeit und keine Lebenswelt.

Ein weiterer Begriff, der im Bedeutungsfeld des Atmosphärischen eine Rolle spielt, ist das altgriechische „Pneuma“ (Atem, Hauch) (vgl. hierzu auch meinen Post vom 01.02.2013); und es ist bezeichnend, daß Schmitz dieses Wort vermeidet und lieber von „Klima“, also von Wetterphänomenen spricht als vom Pneuma. Es ist eng mit dem Begriff der Seele verbunden.

Immer wieder stoße ich in der Philosophie und in der Politik auf die Behauptung, daß es auf den einzelnen Menschen nicht ankommt. In der Philosophie ist Erkenntnis bzw. ‚Wahrheit‘ mit dem Allgemeinen, mit der Gattung verknüpft. Und in der Politik lohnt es angeblich das Handeln nicht, wenn nicht alle mitmachen, wie man es zur Zeit insbesondere mit Blick auf den Klimawandel immer wieder hören kann. Es sind insbesondere die klassischen Bildungsphilosophen, die das Individuum ins Zentrum stellen. Sie sind es, die mich gelehrt haben, vom Individuum her und auf das Individuum hin zu denken. Deshalb bin ich immer verärgert, wenn ich bemerke, wie jemand versucht, Individualität zu dekonstruieren und damit auch zu delegitimieren.

Auch Hermann Schmitz gehört zu solchen Verächtern von Individuen und von Individualität. Schmitzens Definition von Gefühlen als von leiblichen Regungen unabhängigen Atmosphären bewegt sich mehr auf der Ebene von Pflanzen und Tieren als auf der Ebene des Menschen. (Vgl. Schmitz 2007, S.304) Wir haben es hier mit einem primären In-der-Welt-sein zu tun, zu dem es keine exzentrische Positionierung gibt. Für Schmitzens Atmosphäre gilt, was ich schon zu Sheldrakes morphogenetischen Feldern festgestellt hatte: beide dezentrieren das Subjekt und entlasten es so von Schuld und Verantwortung. (Vgl. meine Blogposts vom 01.02. und 08.02.2013) Das ist keine Anthropologie, für die ich mich begeistern kann.

Es ist tatsächlich nicht nur der Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand, wenn Schmitz gegen die Introjektion, also gegen die Vorstellung von Innenwelten polemisiert, den ich ihm vorwerfe. Seine Position ist darüberhinaus inkonsistent. Tatsächlich führt Schmitz selbst die Innen-Außen-Differenz unter dem Stichwort „personale Emanzipation“ wieder ein. (Vgl. Schmitz 2007, S.153ff.) Hier beschreibt er ausdrücklich, wie sich die Person (= Seele!) von der objektiven Umwelt als Subjekt abgrenzt:
„Mit dem Rückzug vom Objektivierten beginnt die Ausbildung des personalen Subjekts, das sich im subjektiv bleibenden Rest eine Domäne (= Innenwelt – DZ) verschafft und von dem, was nicht zu ihm gehört, abhebt.“ (Schmitz 2007, S.154)
Das personale Subjekt ist also genau das, was die Seele nicht sein darf. Schmitz geht sogar so weit, der Person ein Bewußtsein von subjektiver Dauer, also von einer sich in der Zeit durchhaltenden Identität zuzubilligen. (Vgl. Schmitz 2007, S.154) Damit bekommt das personale Subjekt fast schon etwas Dingliches. An dieser Stelle wird Schmitzens Polemik gegen die Seele gegenstandslos.

Darauf, daß Schmitz zufolge Gefühle „nicht als dessen (des Körpers – DZ) Zustand gespürt“ werden (vgl. Schmitz 2007, S.304), hatte ich schon hingewiesen. Noch deutlicher wird Schmitz im nächsten Satz: „Nicht das Gefühl ist eine leibliche Regung, wohl aber das Ergriffensein, das affektive Betroffensein vom Gefühl ...“ (Schmitz 2007, S.304)

Etwas sträubt sich in mir, Gefühle nicht als körperliche Zustände bzw. leibliche Regungen verstehen zu dürfen. Und ebenso sträubt sich etwas in mir, Gefühle und Ergriffensein für zwei verschiedene Phänomene zu halten. Diese Differenzierungen sind für meine Empfindung begriffliche Haarspaltereien. Sie widersprechen auch Antonio Damasios Feststellung, daß jedes Gefühl mit physiologischen Veränderungen im Organismus einhergeht, und jede physiologische Veränderung geht mit Emotionen bzw. mit Gefühlen einher. Helmuth Plessner bezeichnet die von Damasio beschriebenen physiologischen Prozesse als „Zustandssinne“, zu denen er neben Geruch, Geschmack und Getast auch die Eingeweide zählt. (Vgl. „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes“ (1980/1923), S.267f., S.289f.) Diese Zustandssinne decken den Bereich des Atmosphärischen bei Schmitz ab. Auch hier also zeigt sich, daß Schmitzens Thematisierung dieses Bereichs historisch gar nicht so einzigartig ist, wie er meint.

Damasio differenziert übrigens nochmal zwischen (unbewußten) Emotionen und (bewußten) Gefühlen; eine Differenzierung, der ich folgen kann. Möglicherweise läßt sich Damasios Differenzierung zwischen Emotionen und Gefühlen mit Schmitzens Formulierung vereinbaren, daß Gefühle nicht als konkret verortbare körperliche Zustände „gespürt“ werden. Daß sie aber keine leiblichen Regungen sind, ist mit Damasio nicht vereinbar.

Abgesehen von der ethischen Problematik (Schuld, Verantwortung) stört es mich auch, daß Gefühle, die keine leiblichen Regungen sind, argumentationsstrategisch Wasser auf die Mühlen der KI-Forscher sind, die von einer substratunabhängigen Super-Intelligenz träumen.

Trotzdem ist etwas dran am Begriff der Atmosphäre. Schmitzens Definitionen machen insofern einen Sinn, als er zwischen Gefühlen unterscheidet, die andere haben und die wir lediglich mitempfinden, und Gefühlen, von denen wir selbst ergriffen sind. Allerdings würde ich dann den Begriff der Atmosphäre für solche mit anderen geteilten Gefühlen, die wir nicht unbedingt selbst haben müssen, reservieren. Gefühle von denen wir auf spezifische Weise selbst ergriffen sind, sind leiblich gebunden und nicht atmosphärisch ausgedehnt.

Die leiblichen Regungen, also unsere physiologischen Bedürfnisse, zu denen ich auch das sexuelle Begehren zähle, sind zwar auch Gefühle; aber von ihnen wissen wir genau, woher sie kommen. Die Gefühle als Atmosphäre hingegen durchdringen uns von allen Seiten, ohne daß wir sie immer einem Ausgangspunkt zuordnen können.

Ich würde deshalb zwischen drei Arten von Gefühlen unterscheiden: a) den körperleiblichen Regungen; b) die Gefühle, die wir empathisch an anderen wahrnehmen und mitempfinden können, ohne von ihnen ergriffen zu sein; c) die Gefühle, von denen wir gemeinsam mit anderen, als Gruppe, ergriffen werden. Die letzten beiden, b und c, sind atmosphärischer Natur.

„Leibliche Regungen“ ist mißverständlich; denn anders als Schmitz meint, sind auch die atmosphärischen Gefühle mit leiblichen Regungen verbunden. Deshalb verwende ich lieber das Wort ‚körperleiblich‘. Es ist enger an die individuelle Körperleiblichkeit des Einzelnen gebunden.

Mit gefällt diese Differenzierung zwischen körperleiblichen und atmosphärischen Gefühlen so gut, weil sie es erlaubt, zwischen sexuellem Begehren und Liebe zu unterscheiden. Das sexuelle Begehren ist eine körperleibliche Regung. Die Liebe hingegen ist atmosphärisch, weil sie an einen anderen Menschen gebunden ist und sie uns überkommt wie eine Krankheit. Tatsächlich beschreibt Schmitz selbst das Atmosphärische als Krankheitsherd, also als einen viralen Effekt, der in uns von außen eindringt. (Vgl. Schmitz 2007, S.18, 200 u.ö.)

Wir fühlen uns der Liebe mehr ausgeliefert als dem sexuellen Begehren, das schnell und restlos befriedigt werden kann wie andere physiologischen Bedürfnisse auch. Kommt aber die Liebe hinzu, dauert sie an und läßt sich durch einzelne Akte des Gebens und Nehmens nicht befriedigen. Aufgrund der engen Beziehung zwischen sexuellem Begehren und Liebe bleibt deshalb nach dem Orgasmus, wo die Liebe fehlt, trotz der physiologischen Befriedigung oft ein schales Gefühl der Leere zurück, weil man sich unwillkürlich fragt, ob das denn schon alles gewesen ist.

Abschließend halte ich fest, daß Hermann Schmitzens „Neue Phänomenologie“ thematisch von der üblichen phänomenologischen Praxis abweicht, das Bewußtsein ins Zentrum unseres Interesses zu stellen. ‚Phänomenologisch‘ ist sein Ansatz nur in dem Sinne, als er sich methodisch an der phänomenologischen Skepsis gegenüber anschauungsfernen Begriffskonstruktionen orientiert. An die Stelle des Bewußtseins und klassischer Vorstellungen von einer substantiellen Seele setzt Schmitz Gefühle, die er als leiblich ungebundene ‚Atmosphären‘ beschreibt. Denn mit der Verabschiedung einer körperlich-dinglichen Seele geraten alle leiblichen Regungen als bloß physiologische Funktionen unter den Verdacht eines naturwissenschaftlichen Reduktionismusses, der Körperdinge als mathematisch abbildbare Quantitäten definiert und alle ‚Qualia‘ als bloß ‚sekundär‘ im Abfallbehälter ‚Seele‘ deponiert.

Helmuth Plessner bezeichnet diese Ablehnung des Seelenbegriffs als „Anticartesianismus“ und beschreibt diesen als Versuch, „in eine angeblich noch problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz“ zurückzugehen. So lasse sich der „Anschein einer ursprünglichen Problemlosigkeit der menschlichen Seinssituation erzeugen, jedenfalls im Hinblick auf das Verhältnis der Psyche bzw. des Menschen zum Körper.“ (Vgl „Lachen und Weinen“ (1950 (1941), S.39)

Schon Schmitzens phänomenologische Vorläufer hatten durchaus darauf hingewiesen, daß „Daten des inneren Sinnes“, wie Blumenberg in „Beschreibung des Menschen“ (2006) festhält, „keine räumliche Bestimmtheit haben müssen“, also nicht als Dinge aufzufassen sind. (Vgl. Blumenberg (2006), S.233) Dennoch haben wir es bei der „inneren Erfahrung“, so Blumenberg weiter, mit einem „Etwas“, also mit einem Phänomen, „im vollen Verstande“ zu tun. Mit anderen Worten: anders als Schmitz meint, stoßen wir bei inneren Erlebnissen nicht auf lauter Hirngespinste. Ähnlich wie Schmitz spricht Helmut Plessner im Zusammenhang mit dem „präsentativen Bewußtsein“ von den „Zustandssinnen“, die nicht auf Gegenstände ausgerichtet sind, was dem Atmosphärischen entspricht, ohne dabei aber den Begriff der Intentionalität als irrelevant zu verabschieden. (Vgl. meine Posts vom 30.01.2012) Letztlich reicht Schmitzens Begriff der „Atmosphäre“ weit in die abendländisch-griechische Begriffstradition zurück, bis hin zum „Pneuma“ der alten griechischen Philosophen. Schmitz kann also für sein phänomenologisches Konzept nicht in Anspruch nehmen, ‚neu‘ zu sein.

Letztlich gibt Schmitz meiner Ansicht nach – obwohl er den Begriff der Seele ablehnt – vor allem bei der Differenzierung zwischen Gefühlen, von denen wir selbst ergriffen sind, und Gefühlen, die wir an anderen Menschen wahrnehmen, ohne von ihnen ergriffen zu sein, einen neuen Ausblick auf das Verhältnis von physiologischen und seelischen Bedürfnissen wie etwa bei der Sexualität und der Liebe. Vielleicht ist Schmitz deshalb bei Psychologen und in der Therapieszene so beliebt. Allerdings haben die Psychologen ihren eigenen Reduktionismus, da sie seltsamerweise – ähnlich wie Schmitz – von der Psyche nichts wissen wollen.

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