„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)
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Donnerstag, 3. Mai 2018

Ugo Bardi, Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können, München 2017

(oekom verlag, Hardcover, 320 S., 25.-- €)

1. Zusammenfassung
2. Gaia-Hypothese
3. Geld

Bardis hauptsächlicher theoretischer Zugriff auf das Phänomen ‚Geld‘ besteht in seiner Steuerungsfunktion für Produktion und Handel, letztlich eigentlich vor allem für den Handel. Mit Hilfe des Geldes werden industrielle und landwirtschaftliche Produkte weltweit verteilt, so daß der Mangel von bestimmten Produkten in einer Region durch die Produkte anderer Regionen ausgeglichen werden kann:
„Heute ist die ganze Welt durch ein Handelssystem verbunden, das vor allem auf dem Seetransport beruht. ... All das ist möglich, weil es in dem System ein Steuerungselement gibt: das globalisierte Finanzsystem. Die Integration der regionalen Ökonomien in ein großes weltweites System hat es möglich gemacht, dass für weite Teile der Weltbevölkerung Nahrungsmittel von überall her bezogen werden können. Damit wurden die Folgen lokaler Nahrungsmittelknappheit auf ein Minimum reduziert. Selbst die Menschen, die zu arm sind, um Nahrungsmittel zu Marktpreisen zu kaufen, überleben, weil Hilfsorganisationen Nahrung in alle Erdteile schicken und sie kostenlos oder zu niedrigen Preisen verteilen – zumindest ist der Prozentsatz derer, denen nicht geholfen werden kann, gesunken.“ (Bardi 2017, S.138f.)
Das Negativbeispiel für eine ‚Ökonomie‘ ohne Geld – Bardi geht so weit, zu behaupten, daß eine Ökonomie ohne Geld „schlichtweg keine Ökonomie“ sei (vgl. Bardi 2017, S.125) – ist Irland, wo es im 18. und 19. Jhdt. mehrere große Hungersnöte gegeben hatte. (Vgl. Bardi 2017, S.117ff.) Bardi führt diese Hungersnöte auf drei Umstände zurück: die steilen Felsküsten, die eine Versorgung der Bevölkerung über die See schwierig bis unmöglich machte, die Abhängigkeit von einem einzigen Grundnahrungsmittel, der Kartoffel, und den verbreiteten Mangel an Geld:
„Die irischen Bauern konnten ohne jegliches Geld überleben. Gut möglich, dass sie, wenn überhaupt, nur selten eine bedeutende Geldsumme zu Gesicht bekamen. Sie lebten gewissermaßen noch in einem frühen Stadium der Geschichte, als das Geld noch gar nicht erfunden war.“ (Bardi 2017, S.125)
Alle diese Umstände zusammen machten es praktisch unmöglich, Mißernten in einer Region durch Überschüsse in anderen Regionen auszugleichen.

Es gibt aber ein anderes Positivbeispiel von einer Inselökonomie, die sich zweieinhalb Jahrhunderte von anderen Ökonomien auf dem asiatischen Festland und von europäischen Seefahrtnationen abschottete: Japan in der Edo-Periode zwischen 1603 bis 1868. Die japanischen Herrscher schafften es, das Geld durch einen Exportverbot von Edelmetallen stabil zu halten (vgl. Bardi 2017, S.133), was dem römischen Imperium nicht gelungen war, weshalb es Bardi zufolge an der Erschöpfung seiner Gold- und Silberminen zugrunde gegangen war (vgl. Bardi 2017, S.44ff.). Es gab auch kein Bevölkerungswachstum, weil die Inselbevölkerung mehr in die anspruchsvolle Erziehung einiger weniger Kinder als in die Zeugung vieler Kinder investierte. Wir haben es beim Japan der Edo-Periode mit einer Gleichgewichtswirtschaft mit „null Prozent“ Wirtschaftswachstum zu tun:
„Diese Strategie erwies sich eineinhalb Jahrhunderte lang als erfolgreich.“ (Bardi 2017, S.135)
Der Hinweis auf das Edelmetall deutet an, daß Ökonomien, die ihre Währung an diesen Rohstoff binden, ein Wachstumsproblem haben, wenn man das so nennen will. Man könnte auch sagen: eine Währung, die an einen begrenzten Rohstoff gebunden ist, ist besser für eine Gleichgewichtswirtschaft geeignet. Die Wirtschaftswissenschaftler unterscheiden hauptsächlich zwischen zwei Formen des Geldes: dem auf Edelmetallen basierenden Geld und dem auf Schulden bzw. auf ‚Kredit‘ basierenden Geld. Die für das Edelmetall plädieren, werden als ‚Metallisten‘ bezeichnet, während diejenigen, die zum Kreditwesen neigen, als ‚Chartalisten‘ bezeichnet werden, von lat. ‚charta‘, Papier, also Zahlen (Schulden), die auf ein Stück Papier geschrieben werden. (Vgl. Bardi 2017, S.99f.) Auf Schulden basierendes Geld wird auch als ‚nominalistisches Geld‘ bezeichnet. (Vgl. meine Blogposts vom 25.11. und vom 28.11.2012)

Im Unterschied zu den begrenzten Ressourcen Silber und Gold sind Schulden unbegrenzt, und damit auch der Reichtum auf der Seite der Gläubiger. Sobald eine auf nominalistischem Geld beruhende Ökonomie mit der „Möglichkeit des negativen Vermögens“ zu rechnen begann, gab es keine Ober- und Untergrenzen mehr:
„Es gibt keine Grenzen für den Reichtum, den man anhäufen kann, und auch den Schulden sind keine Grenzen gesetzt. Nach diesem Modell neigen Vermögen und Schulden dazu, sich unentwegt zu vermehren.“ (Bardi 2017, S.113)
Das nominalistische Geld bildet also die Grundlage für das globale Wirtschaftssystem. Es gibt Berechnungen, daß 95 Prozent der im Umlaufen befindlichen Geldmenge durch keine konkreten Produkte bzw. Waren mehr gedeckt sind.

Genau an dieser Stelle macht sich nun aber bei Ugo Bardi der Mangel an einer fundamental-anthropologischen Reflexion schmerzlich bemerkbar. So eine anthropologische Reflexion finden wir bei Christina von Braun in ihrem Buch „Der Preis des Geldes“ (2012). Ihre kulturanthropologischen Überlegungen legen den Gedanken nahe, daß das nominalistische Geld den Menschen von seiner natürlichen Umwelt abgenabelt und seine körperleiblich fundierte Bedürfnisstruktur völlig umgekrempelt hat. An die Stelle der biologischen Fruchtbarkeit, die den Eltern eine Perspektive auf Kind und Kindeskind über ihren Tod hinaus eröffnet, treten Zins und Zinseszins mit ihrer Perspektive über alle biologischen und planetarischen Grenzen hinaus.

Ugo Bardi schreibt, die „Chimäre des pekuniären Gewinns“ habe den Menschen veranlaßt, „falsche Entscheidungen zu treffen, welche zu weiteren falschen Entscheidungen führen“. (Vgl. Bardi 2017, S.98) Das mag sein. Es führt aber an dem eigentlichen Problem des Geldes meilenweit vorbei.

Wir haben es beim Menschen nicht einfach mit einer genetisch bedingten Neigung zu tun, das zu zerstören, wovon er lebt (vgl. Bardi 2017, S.180f. und S.233), zu der dann noch das nominalistische Geld hinzukommt, um diese irrationale Tendenz zusätzlich zu steigern. Tatsächlich ist das Geld, das keinerlei Deckung mehr zu natürlichen Ressourcen oder zu industriellen Produkten mehr hat, zu einer gigantischen Wertvernichtungsmaschinerie geworden, die zudem noch alchimistische Qualitäten aufweist, insofern sie Technologien ermöglicht, die die Erdkruste gründlicher um- und umgraben als alle Meteoriten der vergangenen Jahrmilliarden; Technologien, die Substanzen entwickeln, auf die die geologische und die biologische Evolution bislang nicht gekommen sind, und die das biologische Leben selbst reproduzieren und konstruieren, als hätten wir es hier nur mit einer weiteren Maschine zu tun.

Das alles läßt sich mit bloßer Habgier und Profitorientierung nicht mehr erklären. Es sind nicht mehr die Menschen, die Geldmünzen prägen oder Geldscheine drucken; es ist das Geld, das sich die Menschen macht, wie es sie braucht. Das Phänomen des nominalistischen Geldes läßt sich nur verstehen, wenn man die körperleibliche bzw. psychophysische Deformation des Menschen in Betracht zieht, die es bewirkt.

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Donnerstag, 6. Juli 2017

Ernst Peter Fischer, Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens, München 2017

1. Acht Argumente gegen den genetischen Determinismus
2. Genotyp und Phänotyp: Strukturalität und Phänomenalität
3. Exkurs
4. Genotyp und Phänotyp: Entwicklungsebenen
5. Technologischer Determinismus
6. Ethik, Wissenschaftskritik und Medienschelte

Ernst Peter Fischers Buch ist von Anfang bis Ende von ethischen Reflexionen durchzogen, zu denen auch eine gute Portion Wissenschaftskritik gehört. Immer wieder deutet der Autor den ethischen Hintergrund sogar der Naturwissenschaften an, wenn er z.B. Parallelen zwischen den Biowissenschaften und der Alchemie zieht:
„Vor dem Hintergrund der aktuellen Biowissenschaften wird deutlich, dass die Alchemie keinesfalls ein Relikt aus der Mottenkiste der Wissenschaftsgeschichte ist.“ (Fischer 2017, S.251)
Die auffälligste Parallele besteht natürlich in der Homunkulus-Problematik. Der Gedanke der Menschenzüchtung ist in der modernen Reproduktionsmedizin zentral, wird noch einmal durch CRISPR-Cas9 verstärkt und durch das Gene-Drive in Richtung auf die Möglichkeit eines Genocids in sein Gegenteil pervertiert. (Vgl. Fischer 2017, S.241ff.) Im Rahmen seines Vergleichs zwischen Biowissenschaften und Alchemie verweist deshalb Fischer auch auf den auffälligsten Unterschied:
„Sie (die Alchemie – DZ) war vielmehr damit beschäftigt, etwas zu befreien, das in den Stoffen und Formen vorgegeben war. Die Alchemisten folgten der Natur, um sie zu vollenden und dadurch zu befreien. (Wer hierin den Grundgedanken einer Pädagogik entdeckt, die in Kindern wachrufen will, was in ihnen schläft, könnte recht haben.) Die moderne Form der Naturwissenschaft geht anders vor. Ihr Wahlspruch lautet: Wissen ist Macht, und das bedeutet, dass man die Gesetze der Natur mit dem Ziel ihrer Unterwerfung ergründen soll.“ (Fischer 2017, S.253f.)
Die Differenz zwischen der Alchemie und der modernen Naturwissenschaft besteht also darin, daß die Alchemie die Natur vollenden wollte, indem sie, wie es weiter heißt, ihr „Innere(s)“ „befreien“ wollte (vgl. ebenda), während die moderne Naturwissenschaft nur auf technologische Unterwerfung aus ist. Fischers Hinweis in der Klammer auf die pädagogische Qualität dieses alchemistischen Vorhabens zeigt, daß es sich bei diesem Natur-Inneren nicht nur um ein genetisches Innen handelt – in dem Sinne wie Fischer an anderer Stelle meint, daß sich die gegenwärtigen technologischen Innovationen von der äußeren Welt ab- und der inneren, menschlichen Natur zuwenden (vgl. Fischer 2017, S.186) –, sondern um eine expressive Verhältnisbestimmung von Innen und Außen, in der wir unsere individuelle „Einzigartigkeit“ zum Ausdruck zu bringen versuchen (vgl. Fischer 2017, S.290f.).

Beide Male geht es um Vollkommenheit: um vollkommene Selbstverwirklichung (sowohl der Natur wie des Menschen) auf Seiten der Alchemie oder um vollkommene Unterwerfung (sowohl der Natur wie des Menschen) auf Seiten der heutigen Technologie. Und Fischers Position ist an dieser Stelle eindeutig: Wir sollen, so fordert er uns auf, nein zu der technologischen Unterwerfung sagen. (Vgl. Fischer 2017, S.291)

Fischers Impetus ist also über weite Teile seines Buches wissenschaftskritisch. Dann aber erfolgt gegen Ende des letzten Kapitels eine erstaunliche Wende, in der das bisherige reflexive Niveau abflacht. Mit Bezug auf eine Äußerung von Carl Friedrich von Weizsäcker (1882-1951), in der dieser die Wissenschaft für die Folgen ihres Tuns verantwortlich macht (vgl. Fischer 2017, S.295), leugnet Fischer genau das: Er lehnt jede Verantwortung ‚der‘ Wissenschaft ab, indem er durchaus korrekt argumentiert, daß die Wissenschaft keine „Person“ sei „und nur Menschen ... moralische Verantwortung übernehmen (können)“. (Vgl. Fischer 2017, S.295) Mit dieser Feststellung beginnt eine Apologie der Wissenschaft, deren Niveau weit unter allem liegt, was Fischer bislang in seiner eigenen vorangegangen Wissenschaftskritik an den Tag gelegt hatte.

Zunächst bleibt festzuhalten, daß es natürlich richtig ist, daß ‚die‘ Wissenschaft, losgelöst von den konkreten Menschen, die sie betreiben, selbstverständlich keine verantwortliche Instanz ist. Wissenschaftliche Forschung ist in diesem Sinne wertfrei und kann Gutes wie Schlechtes bewirken. Aber Wissenschaft wird nun mal von Menschen betrieben, und diese sind tatsächlich für das, was sie können, für ihre Expertise verantwortlich gegenüber der Öffentlichkeit. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit bildet den transdisziplinären Hintergrund jeder wissenschaftlichen Forschung.

Es ist ja gerade die Expertise der Wissenschaftler, die genau die technologischen Innovationen ermöglicht, zu denen die anderen, wissenschaftlich nicht ausgebildeten Menschen, die Laien, nein sagen können sollen, wie Fischer selbst fordert. Und es sind natürlich auch nicht zuletzt die Interessen der Wirtschaft, die mittels eigener Forschung und Sponsoring die Richtung der wissenschaftlichen Forschung mitbestimmen. Zurecht heißt es in einer „Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Deutschen Akademie für Naturforscher“, die Fischer durchaus zustimmend zitiert:
„Denn Forscher haben aufgrund ihres Wissens, ihrer Erfahrung und ihrer Freiheit eine besondere ethische Verantwortung.“ (Fischer 2017, S.305)
Inwiefern kann man also zwischen ‚Wissenschaft‘ und ‚Wissenschaftlern‘ differenzieren? Was ist mit jenen exponierten Neurowissenschaftlern, wie Wolf Singer und Gerhard Roth, die 2004 ein „Manifest“ veröffentlichten, in dem Geist, Bewußtsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit summarisch als biologische Prozesse deklariert werden und das damit genau jene Neigung der Laien, sich durch das „bereitwillige() Akzeptieren von neurowissenschaftlichen Befunden“ an die Leine legen zu lassen, bestärkt? (Vgl. Fischer 2017, S.311f.) Ist es nicht genau die Autorität ‚der‘ Wissenschaft, die das Verhalten dieser Wissenschaftler in den Augen der gläubigen Laien unangreifbar macht?

Während sich Fischer also gegen eine spezifische Verantwortung der Wissenschaft und mit ihnen der Wissenschaftler wendet, nimmt er dafür umso mehr eine ominöse ‚Öffentlichkeit‘ für ihre ‚Verantwortung‘ in Haftung, und dabei unterscheidet er überhaupt nicht mehr zwischen ‚der‘ Öffentlichkeit und den einzelnen konkreten Menschen, wie er das bei ‚der‘ Wissenschaft tut. Vielmehr attackiert er die Verantwortungslosigkeit ‚der‘ Öffentlichkeit, als wäre sie eine Person: ‚die‘ Öffentlichkeit kann sich nämlich ‚empören‘ und ein, natürlich wissenschaftsfeindliches, „Tribunal“ bilden. (Vgl. Fischer 2017, S.300) Außerdem ist ‚die‘ Öffentlichkeit selbstherrlich und arrogant, denn sie „spielt offenbar gern – mithilfe mancher Medien und populistischer Philosophen – so etwas wie den lieben Gott“. (Vgl. ebenda) – An dieser Stelle darf natürlich auch die jederzeit beliebte Medienschelte nicht fehlen, denn zumindestens ‚manche‘ von ihnen, so Fischer, beteiligen sich an diesem unfreundlichen, gegen die Wissenschaft gerichteten ‚Spiel‘.

Es ist dem Rezensenten völlig unerfindlich, woher plötzlich diese Aggressivität kommt, mit der Fischer insbesondere über die Gentechnik-Kritiker herfällt. (Vgl. Fischer 2017, S.232f.) Möglicherweise hängt sie mit dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA zusammen und mit dem gegenwärtigen Siegeszug eines wissenschaftsfeindlichen Populismusses überall in Europa. Aber das sollte man nun wirklich nicht einfach alles in einen Topf werfen, zumal es wiederum Fischer selbst ist, der, nachdem er seine polemische Attacke beendet hat, selbst wieder auf die Gefahren einer unreflektierten Gentechnologie hinweist. So sei es bei der gentechnischen Behandlung der „Alzheimer-Demenz“ (Fischer 207, S.241) wichtig, sich hier nicht nur auf das hohe Alter zu konzentrieren, sondern den gesamten Lebenslauf eines Menschen miteinzubeziehen, um erstmal herauszufinden, „was die Alzheimer-Sequenzen hier beitragen, bevor man seine editorischen Fähigkeiten an ihnen probiert“ (vgl. Fischer 2017, S.264). Denn möglicherweise sind genau diese Sequenzen für den jüngeren Menschen überlebenswichtig und zeigen erst im Alter ihre persönlichkeitszerstörenden Wirkungen. Und hätte es in grauer Vorzeit schon die Gentechnik gegeben, die es unseren Vorfahren ermöglicht hätte, die Sichelzellenanämie zu heilen, wären wohl viele ihrer Nachkommen der Malaria zum Opfer gefallen, gegen die die Sichelzellenanämie immunisiert. (Vgl. Fischer 2017, S.258f.) Auch die Anwendung des „Gene-Drive“ bei der Ausrottung der Malaria-Mücke bedarf einer umsichtigen Klärung der ökologischen Folgen, da sich die Frage stellt, welche Effekte das auf die Biodiversität hätte. (Vgl. Fischer 2017, S.243)

Kritik an der Gentechnik ist also gerechtfertigt und läßt sich nicht einfach mit irrationalen Ängsten und Abneigungen gleichsetzen, wie Fischer es tut. (Vgl. Fischer 2017, S.232f.) Sicher sind wir mehr denn je auf gentechnische Erkenntnisse angewiesen, wenn es darum geht, eine „wachsende Menschheit“ zu ernähren. (Vgl. Fischer 2017, S.233) Aber essentieller als die Gentechnik ist die Notwendigkeit einer fundamentalen Verhaltensänderung, zu der auch eine veränderte Einstellung des Menschen zur Fortpflanzung gehört. Wenn Elephanten dazu in der Lage sind, in Notzeiten weniger Nachwuchs zur Welt zu bringen und so ihre Populationsgröße zu regulieren, sollten auch wir Menschen das können.

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Montag, 3. Juli 2017

Ernst Peter Fischer, Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens, München 2017

1. Acht Argumente gegen den genetischen Determinismus
2. Genotyp und Phänotyp: Strukturalität und Phänomenalität
3. Exkurs zu Rückseiten und Hintergründen
4. Genotyp und Phänotyp: Entwicklungsebenen
5. Technologischer Determinismus
6. Ethik, Wissenschaftskritik und Medienschelte

Am Beispiel des katholischen Ordenspriesters Gregor Mendel (1822-1884), der in seinem Klostergarten mit Erbsen experimentierte und dabei den Vererbungsgesetzen von genetisch bedingten Eigenschaften auf die Spur kam, verweist Fischer auf die Erhaltung von Eigenschaften, auch wenn sie zeitweise nicht sichtbar sind. Mendel, so Fischer, war mit dem physikalischen Grundsatz von der „Erhaltung der Energie“ vertraut, und er übertrug ihn nun auf die biologische Vererbbarkeit von Eigenschaften:
„Und so nahm er an, dass seine hypothetischen Erbelemente ebenfalls erhalten blieben, also auch dann noch vorhanden waren, wenn sie keine Wirkung nach außen zeigten.“ (Fischer 2017, S.34)
Das erinnert nicht von ungefähr an Heisenbergs im vorangegangenen Blogpost zitiertes „chemisches Element“, das ebenfalls „nach allen möglichen chemischen oder physikalischen Prozessen schließlich immer wieder das gleiche Element bleibt und die gleichen Eigenschaften aufweist“. (Vgl. Fischer 2017, S.145f.) Mendel spricht an dieser Stelle von dominanten und rezessiven ‚Erbelementen‘, die in der Generationenfolge je nach ihrer Kombination im Phänotyp bestimmte Eigenschaften zutagetreten lassen oder nicht, ohne daß diese Eigenschaften verloren gehen.

Dieser strukturalistische Erklärungsansatz findet seine Entsprechung in der Phänomenologie. Edmund Husserl (1859-1938) unterschied zwischen „Innenhorizonten“ und „Außenhorizonten“ von Phänomenen. Außenhorizonte haben sichtbare Vorderseiten und nicht sichtbare Rückseiten, die beweglich sind und mit dem Standort des Beobachters wechseln. Vorderseiten können also zu Rückseiten werden und sich dem Blick des Beobachters entziehen, und Rückseiten können zu Vorderseiten und sichtbar werden, wenn der Beobachter seinen Standort wechselt.

Innenhorizonte beziehen sich auf die innere Beschaffenheit von Phänomenen, die dem Beobachter nicht ohne weiteres zugänglich sind, die aber prinzipiell sichtbar gemacht werden können, wenn man etwa einen Stein spaltet und seine Stücke uns jetzt sein bislang verborgenes Inneres zuwenden. Hier kommen wir in den Bereich der Strukturen, die uns nur durch trickreiches Verhalten (Experimente) oder durch Gewaltanwendung zugänglich sind.

Weitere phänomenologische Begriffe sind Vordergrund und Hintergrund. Hintergründe unterscheiden sich von Rückseiten dadurch, daß sie sichtbar bleiben, aber unserer Aufmerksamkeit, die sich auf den Vordergrund richtet, entgehen. Rückseiten sind also prinzipiell unsichtbar, können aber zu Vorderseiten werden, während Hintergründe prinzipiell sichtbar sind, sich aber unserer Aufmerksamkeit entziehen.

Ein Phänomen bildet also als Außenhorizont ein dynamisches Gestaltganzes mit strukturellen Implikationen (Innenhorizonte). Beides, Phänomenalität (Außenhorizont) und Strukturalität (Innenhorizont), bedingt sich wechselseitig: Umweltbedingungen wirken über die äußeren Eigenschaften auf die inneren Zustände, und die inneren Zustände wirken über die äußeren Eigenschaften auf die Umwelt. Haben wir es nicht nur mit lebloser Materie, sondern auch mit belebten, empfindsamen Körpern zu tun, dem Plessnerschen Körperleib, so bewegen sie sich auf der Grenze zwischen Innen und Außen und aus Vorderseiten werden Vordergründe und aus Rückseiten werden Hintergründe. Von jetzt an ist es weniger eine Frage der räumlichen Kinästhesen als vielmehr eine Frage der subjektiven Aufmerksamkeit, was wir fokussieren und was nicht.

Mit der subjektiven Aufmerksamkeit erhält die Differenz zwischen Innen und Außen jetzt eine expressive Komponente, die Fischer mit der Kunst- und Bildungsmetapher aufgreift. (Vgl. Fischer 2017, S.83, 161) Fischer verweist auf die Alchemie, die der inneren Natur der Materie auf die Spur kommen wollte, um sie zu läutern und zu reinigen, ein Vervollkommnungsstreben, das die Alchemie mit der heutigen Gentechnologie teilt, nur daß es hier nicht mehr um die Befreiung der Natur geht, sondern um ihre Unterwerfung. (Vgl. Fischer 2017, S.254) Fischers Kunst- und Bildungsmetapher ersetzt den bisherigen Strukturalismus der Lebenswissenschaften durch Expressivität: an die Stelle von Programmen und Codes treten infinitesimale Zellaktivitäten, deren Telos bzw. deren Sinn der lebendige Mensch ist. An dieser Stelle beende ich meinen Exkurs.

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Samstag, 4. Juni 2016

Adam Czirak/Gerko Egert (Hg.), Dramaturgien des Anfangens, Berlin 2016

(Neofelis Verlag, 26.00 €, Softcover, 276 S.)

(Adam Czirak / Gerko Egert, Dramaturgien des Anfangens. Einleitung, S.7-22; Gerald Raunig, Aller Anfang ist dividuell, S.23; Jörn Etzold, Rousseau und der Anfang des Theaters, S.35; Karin Harrasser, Fall in den Zeitkristall. Choreographien des Anfangens und Weitermachens, S.59-74; Julia Bee, Dramatisierungen des Anfangens. Die Intros von Homeland, True Blood und True Detective, S.75; Christoph Brunner, Relationaler Realismus? Zur politischen Ästhetik der Dramatisierung, S.107; Heike Winkel Jenseits von Tragödie und Farce. Neues politisches Kino in Russland und seine Popularisierung: Chto delat und Svetlana Baskova, S.131; Leena Crasemann, Leere Leinwand, weißes Blatt. Der Anfangsmoment künstlerischen Schaffens als topisches Bildmotiv, S.161; Matthias Warstat, Wie man Revolutionen anfängt. Lenin und das Agitproptheater, S.185; Krassimira Kruschkova Performance für Anfänger. Nicht(s)tun, S.203; José Gil Tanz – Prolog, S.219; Erin Manning, Den nächsten Schritt beginnen, S.235; Sibylle Peters, Starting over. Der Unwahrscheinlichkeitsdrive. Ein Forschungsbericht, S.253)

Karin Harrasser entwickelt in ihrem Beitrag „Fall in den Zeitkristall“ (S.59-74) anhand eines Films von Werner Herzog, „Herz aus Glas“ (1976), und eines Films von Pier Paolo Pasolini, „Teorema“ (1968), eine Theorie des Mediums als Transformationshilfe: „Imaginationen von Transformation und Übergang“ sind, so Karin Harrasser, „die Themen, die mich interessieren“. (Vgl. Harrasser 2016, S.63) Dabei rückt sie mit Gilles Deleuze (1925-1995) die Wirkungsweise von Medien in die Nähe von alchimistischen Prozessen (vgl. Harrasser 2016, S.65), in denen materielle Umwandlungsprozesse als Medium für psychische Transformationen dienen.

Harrasser hat es insbesondere das Glas angetan, als eine zweifelhafte, zwischen Flüssigkeit und Festkörperlichkeit schwankende Substanz (vgl. auch meinen Post vom 01.02.2016), die in Form einer Kristallkugel auch der Wahrsagerei dient. (Vgl. Harrasser 2016, S.61) Dabei fungiert, so Harrasser, die „Glaskugel als Grenzobjekt“ zwischen Vergangenheit und Zukunft, das wie ein Brennspiegel die „Träume() seines „Gegenübers“ zu einer „Zukunftsvision“ fokussiert. (Vgl. Harrasser 2016, S.62)

Harrassers Reflexionen zu den medialen Effekten des Films sind faszinierend. Diese Reflexionen bewegen sich aber nicht nur an der Grenzlinie zwischen „Virtuellem und Aktuellem“ entlang (vgl. Harrasser 2016, S.64). Wir haben es zudem mit einer Gratwanderung zwischen Kybernetik und Achtsamkeit zu tun, die aber nicht im Zentrum ihrer Überlegungen steht, sondern nur an ihrem Rande sichtbar wird.

Harrasser fokussiert ihre Frage nach den medial unterstützten Transformationen, entsprechend dem Titel des Herausgeberbandes – „Dramaturgien des Anfangens“ –, auf die Art ihres Beginns und seiner möglichen ‚Inszenierung‘. Darin steckt zweierlei: Weckung von Aufmerksamkeit und Steuerung dieser Aufmerksamkeit. Schon beim Glasthema deutet sich diese kybernetische Differenz an, wenn Harrasser schreibt, daß die „Glasbläser“ an der „Schwelle“ zwischen „glühende(m), undurchsichtige(m) Plasma“ und „erkaltete(m), filigrane(m) Endprodukt“ stehend „Demiurgen“ des „Machens“ seien. (Vgl. Harrasser 2016, S.63) Die Durchsichtigkeit des Glases, die Aufmerksamkeit des Kinopublikums, beides wird ‚gemacht‘ bzw. mit Hilfe der Kamera ‚gerichtet‘ (vgl. Karrasser 2016, S.61). Die Medien, für die Karrasser sich interessiert, ermöglichen wie die Kristallkugel „Choreographie(n) der Blicklenkung“; sie bilden „Infrastrukturen für eine bestimmte Erwartungshaltung“ und führen so den Transformationsprozeß herbei, für den das Kinopublikum sich bereitwillig eingefunden hat. (Vgl. ebenda)

Daneben gibt es aber noch die andere Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit, die nicht ‚gemacht‘ wird. Karin Harrasser spricht von einer „gesteigerten Aufmerksamkeit für anwesende, aber noch nicht ergriffene Möglichkeiten in der Gegenwart“. (Vgl. Harrasser 2016, S.61) In der ‚Steigerung‘ dieser Aufmerksamkeit steckt zwar schon wieder ein kybernetisches Moment, aber zugleich steckt darin auch ein besonderer Bewußtseinszustand, der jeder medialen Vereinnahmung vorausliegt: ein „anderes Aufhorchen auf die Welt“ (Karrasser 2016, S.69) und ein „zögernde(s) Geöffnetsein“ (Karrasser 2016, S.60). Insbesondere dieses ‚Zögern‘ entzieht sich der uneingeschränkten Mediatisierung. Was sich in uns zögernd öffnet, liegt jenseits solchen ‚Machens‘.

Karrasser gelangt in die Nähe dieser Art der Aufmerksamkeit, wenn sie die Schattenseiten der medialen Aufmerksamkeitslenkung erwähnt. Indem die Medien ihren Schwerpunkt auf das Einfangen der Aufmerksamkeit legen, leiten sie einen anarchischen Verwandlungsprozeß ein (vgl. Karrasser 2016, S.69), der sich der Kontrolle entzieht. Das in diesem Sinne Anfangen-Können, das tatsächlich nur eine Art des Eingefangen-Werdens bildet, findet kein Ende mehr. (Zur Notwendigkeit des Endes vgl. Jörn Etzold und meinen Post vom 03.06.2016)  Der Anfang wird fetischisiert: „Das Problem scheint nicht länger das Anfangen, das Durchbrechen einer verknöcherten Struktur zu sein, sondern im Gegenteil: dass das Anfangen zum Imperativ verkommen ist und man mit nichts mehr fertig wird, sind die Heimsuchungen der Moderne.“ (Harrasser 2016, S.71

Die medialen Verlockungen erweisen sich als falsche Versprechungen, aber als solche der süchtigmachenden Art: wer so ‚anfängt‘, kann nicht mehr damit aufhören, so anzufangen. Die Kybernetik des Anfangens hindert uns an jener Aufmerksamkeit, die es uns ermöglicht, mit uns selbst etwas anzufangen. Harrasser weist selbst noch einmal explizit darauf hin, wenn sie mit den Wörtern ‚Medien‘, ‚Propheten‘ und ‚Messias‘ spielt und in dem einen ihrer beiden Resümees verkündet, „dass die Verführung durch Propheten (ob sie nun kommender Messias, Kommunismus oder Film heißen) ohnehin immer ein Betrug war“: „Nicht mehr überspannt zu erwarten, sondern die Kräfte des Gegenwärtigen aufzuschließen, ist im Vergleich dazu befreiend.“ (Harrasser 2016, S.74) – Schon Friedrich Kittler (1943-2011) hatte den Betrug als Wesensmerkmal jedes Mediums bezeichnet. (Vgl.u.a. meine Posts vom 08.04. bis zum 14.04.12)

Soweit aber geht Karin Harrasser dann doch nicht. Ihr zweites Resümee lautet: „Der Film als Vertreter dieser Öffnung ist kein Vertreter einer kommenden Wahrheit, er ist Vermittlung, er baut Relationen, er verbindet und trennt.“ (Harrasser 2016, S.74) – So positiv kann sie eigentlich nur enden, weil sie mit Werner Herzog (*1942) und Per Paolo Pasolini (1922-1975) zwei ‚Glasbläser‘ thematisiert, die die Brechungen ihres „Grenzobjekts“ noch einmal in sich selber brechen lassen. So wird der Betrug selbst zum Medium weniger einer Transformation als vielmehr der Reflexion.

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Mittwoch, 1. April 2015

Patrick Rothfuss, Die Musik der Stille, Stuttgart 2015

Jean-Jacques Rousseau war der Meinung gewesen, daß die Dinge die besten Lehrmeister der Kinder seien. Sie geben ihnen Antworten, die die Kinder sich selbst erfragen und erarbeiten müssen, anders als die Erwachsenen, die ihnen schon Antworten geben, noch bevor sie Gelegenheit gefunden haben, auch nur eine Frage zu stellen. Dinge geben den Kindern Lehren, Erwachsene Belehrungen.

Die Dinge sind schweigsame Lehrmeister. Das ist im Grunde ihr Wesen. Denn ‚Ding‘ kommt von ‚Thing‘, und im Englischen heißt es ja auch genau so. Das ‚Ding‘ ist eine Versammlung, ein Ratgeber, aber eben kein geschwätziger. Es ist ein Gericht, das sein Urteil spricht und die angeknackste Welt wieder in Ordnung bringt. Patrick Rothfuss findet ein Wort für dieses Gericht: er nennt es „Unterding“. Das Unterding ist eine Versammlung von Dingen in den Fundamenten der Welt. Es ist ein Gegenbegriff zum Internet der Dinge, der maximalen Geschwätzigkeit der Dinge für sich selbst, die uns Menschen nichts mehr zu sagen haben, weil wir es verlernt haben, ihnen zuzuhören.

Das Unterding ist voller Dinge, die uns etwas zu sagen haben, von Dingen, die voller Antworten sind und voller Liebe, weil es dort einen Menschen gibt, der ihnen zuhört und der sich ihnen zuwendet, um für sie einen Ort zu finden, im Unterding, wo sie hingehören und ihre Antworten vernehmbar werden. Auri, das schmale Mädchen in den Katakomben unterhalb der Universität, lebt ein Leben fern von den Menschen, in ihrer eigenen Welt, der Welt der Dinge, dem Unterding.

Sie ist eine Jägerin und Sammlerin, ein Wildbeuter, wie es unsere Vorfahren zweieinhalb Millionen Jahre lang gewesen sind. Wie unsere Vorfahren ist sie „in der Lage, die Dinge zu nutzen, die die Welt ihr an die Hand gegeben hatte.“ (Vgl. Rothfuss 2015, S.114) In „Die Musik der Stille“ (2015) erzählt Patrick Rothfuss sieben Tage aus ihrem Leben, und gleich der erste Tag, von dem er berichtet, ist so ein Sammel- und Findetag, an dem sie sich zum tiefsten Grund der Dinge hinab begibt, um dort neue Antworten zu finden. Schon die Katakomben unterhalb der Universität sind menschenleer und einsam. Aber tiefer noch, auf dem Grund eines überschwemmten Gewölbes, zu dem sie hinabtaucht, gelangt sie zu einem schweren, suppentellergroßen Ding: „Es war voller Liebe und Antworten, so voll, dass sie spürte, wie all das schon bei der zartesten Berührung daraus hervorquoll.“ (Rothfuss 2015, S.24) – Sie schafft es nur mit großer Mühe, es an die Oberfläche zu bringen und ertrinkt fast dabei.

Wie sich herausstellt, handelt es sich um ein Zahnrad aus Messing, dem ein Zacken fehlt: „Das arme Ding. So liebenswert und so verloren zu sein. So voller Antworten zu stecken und so viel verborgenes Wissen zu enthalten. So schön und zugleich kaputt zu sein. Auri nickte und legte dem Zahnrad tröstend eine Hand aufs Gesicht.“ (Rothfuss 2015, 72) – Es ist beschädigt, angeknackst, so wie Auri selbst: „Man tat, was man konnte. Man kümmerte sich um die Welt, um der Welt willen. Und man hoffte, in Sicherheit zu sein. Dennoch war ihr klar: alles konnte zusammenbrechen, und es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Und ja, sie wusste, dass sie nicht ganz richtig war. Sie wusste, dass alles in ihr schräg stand. Sie wusste, dass ihr Kopf vollkommen in Unordnung war. Sie wusste, dass sie einen Knacks hatte. Sie wusste es.“ (Rothfuss 2015, S.127)

Auri versucht also, den Dingen in ihrer Unterwelt zu helfen, ihnen einen Ort zuzuweisen, an den sie hinpassen. Sie wandert auch mit dem beschädigten Messingrad umher durch unterirdische Gänge und Zimmer, aber so sehr sie sich bemüht, sie findet keinen Ort für es. Wie sie dabei ihre Sammlungen begutachtet und Dinge zurechtrückt, weil sie nicht richtig liegen, wird deutlich, daß sie so ihr eigenes Inneres zurechtrückt und ordnet. Sie arbeitet an einer Collage, einem Stilleben. Diese Collage, dieses Stilleben ist das Unterding und zugleich sie selbst. Levi-Strauss würde von einer „Bricolage“ sprechen, von einer Grundform des menschlichen Denkens. (Vgl. meinen Post vom 18.05.2013) Claparéde, Piaget und Wygotski wollen dieses Denken auf die Kindheit beschränken und bezeichnen es als „Synkretismus“.

Schließlich entdeckt sie, warum das Messingrad nirgendwo hinzugehören scheint. Als sie es auf einem Bord, wo sie es abgestellt hatte, zur Seite dreht, von einem Messingzahn zum nächsten, wird ihr klar, daß es nicht das Messingrad ist, daß sich dreht: „Es kippte von einem Zahn zum nächsten. Und erst als Auri das Messingrad drehte, verstand sie, weshalb es so schrecklich schwer war. Es war ein Drehpunkt. Ein Angelpunkt. Ein Dreh- und Angelpunkt. Es bewegte sich, drehte sich, doch in Wirklichkeit schien es sich nur zu drehen. In Wirklichkeit stand es still. In Wirklichkeit drehte sich stattdessen die ganze Welt.“ (Rothfuss 2015, S.129)

Das Messingrad ist also kein einzelnes Ding in der Unterwelt. Vielmehr ist es das Zentrum von Unterding und alles dreht sich um dieses Messingrad, während es selbst verharrt, so wie sich die Erde um die Sonne dreht, aber die Sonne dreht sich nicht.

Aber es ist ein angeknackstes Zentrum. Ihm fehlt eine Zacke. Von ursprünglich zehn Zacken sind nur neun übriggeblieben. Aber auch hier macht Auri schließlich eine Entdeckung: als ihr das Messingrad beim Herumtragen aus der Hand und eine Treppe hinunterfällt, bricht es in drei Teile auseinander. Und alle drei Bruchstücke haben jeweils drei Zacken: „Der Dreh- und Angelpunkt war zerbrochen, aber das war nicht falsch. Eier brachen. Sogar Wellen brachen. ... Drei schartige Stücke mit je drei Zähnen. Er war kein Bolzen mehr, ins Herz der Dinge gerammt. Er war nun drei Dreien.“ (Rothfuss 2015, S.146)

Das angeknackste Messingrad ist kein angeknackstes Messingrad mehr. Es ist etwas Neues geworden, das eine neue Vollkommenheit offenbart, eine Antwort für Auri, die die ganze Zeit auf der Suche nach etwas anderem gewesen war und es nicht hatte finden können, etwas für den siebten Tag, an dem sie sich mit dem einzigen Menschen treffen würde, der ihr etwas bedeutet. Und dem sie nun etwas schenken würde: „Drei vollkommene Dreien würden ihr Geschenk für ihn sein.“ (Rothfuss 2015, S.146)

So findet Auri durch das innerste Herz der Dinge im Unterding hindurch ihren Weg zu einem anderen Menschen. Und jetzt, am Ende der Geschichte, erweist sie sich als eine Meisterin; sie, die bisher den Dingen gedient hatte und die ihren eigenen Willen im Zaum gehalten hatte, weil es, wie sie sich immer wieder ermahnt, es wert sei, „die Dinge so zu tun, wie es sich gehörte“ (Rothfuss 2015, S.30 u.ö.), erweist sich jetzt als ihre Meisterin, als eine Kennerin des Geheimnisses „tief im verborgenen Herzen der Dinge“: „Auri stand da, lächelte im Zirkel ihres goldenen Haars und ließ die ganze Wucht ihres Begehrens auf die Welt niederfahren. Und alle Dinge erbebten. Und alle Dinge erkannten ihren Willen, Und alle Dinge beugten sich, ihr zu gefallen.“ (Rothfuss 2015, S.157)

Auri ist letztlich nicht nur eine Collagistin, ein Arrangeur von Stilleben; sie ist auch eine Alchimistin, denn sie kennt den Stein der Weisen. Das ist eine erstaunliche Entdeckung, die der Leser am Ende des Buches macht. Aber dann so erstaunlich wohl doch wieder nicht. Schließlich kennt sich niemand besser mit den Dingen aus als die Alchimisten, und auch sie versuchen, ähnlich wie Auri mit ihren Arrangements, über die Veredlung von Stoffen sich selbst zu veredeln. Auris alchimistische Meisterschaft zeigt sich zweimal, am fünften Tag, als sie Seife siedet, und am siebten Tag, als sie eine Kerze zieht. (Vgl. Rothfuss 2015, S.113ff. u. 152ff.)

Aber nein! Auri ist wohl doch keine Alchimistin. Denn meistens läßt sie die Dinge sein, was sie sind, und verändert nur den Ort, wo sie sind. Weil sie deren Antworten dort besser hören kann. Ihre Dinge sind keine Reagenzien, sondern Katalysatoren. Sie ist die einzige, die sich verändert, jeden der sieben Tage anders ist und immer wieder aufs Neue ihren Zustand an der Ordnung prüft, die sie den Dingen um sich herum gegeben hat. – Was ihr nur am dritten Tag nicht gelingt. Es ist der einzige Tag ohne Dinge. Der Tag, an dem sie weint.

Wirklich erstaunlich ist aber eine Bemerkung des Autors am Schluß seines Nachworts, und der Rezensent gesteht, daß es an dieser Stelle er selbst war, der in Tränen ausbrach, als er las: „Diese Geschichte ist für all die leicht angeknacksten Leute da draußen. Ich bin einer von euch. Ihr seid nicht allein. Und in meinen Augen seid ihr alle schön.“ (Rothfuss 2015, S.173)

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