(Neofelis Verlag, 26.00 €, Softcover, 276 S.)
(Adam Czirak / Gerko Egert, Dramaturgien des Anfangens. Einleitung, S.7-22; Gerald Raunig, Aller Anfang ist dividuell, S.23; Jörn Etzold, Rousseau und der Anfang des Theaters, S.35-58; Karin Harrasser, Fall in den Zeitkristall. Choreographien des Anfangens und Weitermachens, S.59; Julia Bee, Dramatisierungen des Anfangens. Die Intros von Homeland, True Blood und True Detective, S.75; Christoph Brunner, Relationaler Realismus? Zur politischen Ästhetik der Dramatisierung, S.107; Heike Winkel Jenseits von Tragödie und Farce. Neues politisches Kino in Russland und seine Popularisierung: Chto delat und Svetlana Baskova, S.131; Leena Crasemann, Leere Leinwand, weißes Blatt. Der Anfangsmoment künstlerischen Schaffens als topisches Bildmotiv, S.161; Matthias Warstat, Wie man Revolutionen anfängt. Lenin und das Agitproptheater, S.185; Krassimira Kruschkova Performance für Anfänger. Nicht(s)tun, S.203; José Gil Tanz – Prolog, S.219; Erin Manning, Den nächsten Schritt beginnen, S.235; Sibylle Peters, Starting over. Der Unwahrscheinlichkeitsdrive. Ein Forschungsbericht, S.253)
Jörn Etzolds Beitrag „Rousseau und der Anfang des Theaters“ (Etzold 2016, S.35-58) ist in allem das genaue Gegenteil zum im vorangegangenen Post besprochenen Beitrag von Gerald Raunig. Während Gerald Raunig den Menschen digitalisiert und in seine Teile zerlegt und auf diese Weise vollständig dehumanisiert, geht es Jörn Etzold ums Ganze des Menschseins. Obwohl Etzold ihn nicht erwähnt, erschlossen sich mir bei der Lektüre seines Essays einige Aspekte der Anthropologie von Helmuth Plessner auf eine neue Weise. Sowohl Etzold wie auch Plessner widmen sich der Frage, inwiefern das Theater eine Antwort auf die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen bildet. Plessner hat dazu zwei Essays verfaßt, in denen es um die „Nachahmung“ und um den „Schauspieler“ geht. (Vgl. meine Posts vom 29.05. und vom 01.06.2013)
In Etzolds Beitrag stehen die das Theater betreffenden Theorien von Jean-Jacques Rousseau im Zentrum. Rousseau und Plessner vertreten dabei einen ähnlichen und doch wieder unterschiedlichen Ansatz: beide setzen den Beginn des Menschseins bei einer „Spaltung“ bzw. in einem „Hiatus“ an. (Vgl. Etzold 2016, S.45; vgl. zu Plessner u.a. meinen Post vom 24.10.2010) Der Unterschied besteht darin, daß Rousseau diese Spaltung sozial begründet, als Austritt des Individuums aus dem Naturzustand, an dessen Stelle ein gesellschaftlicher Zustand tritt, der vor allem durch wechselseitige Täuschung und Übervorteilung gekennzeichnet ist, wie beim „Reichen“, der sich exzentrisch zur Gemeinschaft positioniert, um von ihr zu profitieren. (Vgl. Etzold 2016, S.45f. und S.49) Plessner hingegen begründet die Spaltung körperleiblich, also biologisch und individuell, und die Täuschung bildet nicht etwa ein primär soziales Phänomen, sondern ein unvermeidbares Moment des individuellen Selbstverhältnisses: der Mensch kann sich niemals sicher sein, ob er es ist, „der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt“ oder jemand anderes (vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.298f.). Im Zuge meiner Besprechung von Etzolds Beitrag werde ich nochmal darauf zurückkommen.
Etzold setzt in seinem Beitrag die Positionen von Aristoteles und Rousseau gegeneinander. Beide, Rousseau und Aristoteles, scheinen auf seltsame Weise konträr und zugleich doch von einem ähnlichen Impuls getragen zu sein. Konträr sind sie hinsichtlich des sozialen Nutzens der Tragödie, der von Aristoteles sehr hoch eingeschätzt wird, und hinsichtlich der Bewertung ihres humanen Effekts: der Katharsis, die Rousseau für eine Illusion hält. Dennoch finden sich bei Rousseau Stellen, die wie bei Aristoteles eine mögliche Versöhnung von Individuum und Gemeinschaft zwar nicht am Ende, aber doch im Vorfeld des Schauspiels antizipieren (vgl. Etzold 2016, S.54f.), und die darüber hinaus an Passagen in Plessners Essay zur „Anthropologie des Schauspielers“ erinnern.
Das Aristotelische Konzept des Schauspiels bzw. der Tragödie beruht, wie bei Plessner, auf der Nachahmung (Mimesis). Die ganze Wirkung (Katharsis) des Schauspiels kommt nur durch Nachahmung zustande. Ein einfacher Bericht eines Ereignisses kann niemals dieselben Effekte hervorrufen, wie dessen Inszenierung, die die Zuschauer dazu veranlaßt, sich mit den Handelnden zu identifizieren. (Vgl. Etzold 2016, S.36) Die wechselseitigen Spiegelungsprozesse, die dabei ablaufen, hat Plessner in seinen beiden bereits erwähnten Essays minutiös beschrieben.
Die Mimesis ist dabei zunächst keine intellektuelle bzw. verstandesmäßige, sondern hauptsächlich emotional. Die vornehmste Aufgabe der Tragödie ist Aristoteles zufolge, bei den Zuschauern Leidenschaften zu wecken, um sie dann von ihnen zu reinigen bzw. zu läutern (Katharsis). (Vgl. Etzold 2016, S.36) Dabei kommt es vor allem auf den Anfang an, der so inszeniert werden muß, daß er beim Zuschauer die beabsichtigten Leidenschaften wecken kann. Es muß ein spezifischer Anfang sein, der sich nicht einfach als Folge von schon vorausgegangen Ereignissen ergibt. Er muß das „Gesetz der Kausalität“ außer Kraft setzen, aber alles was ihm folgt, muß von ihm her als notwendig erscheinen. (Vgl. Etzold 2016, S.36f.)
Aristoteles bezeichnet den Anfang als ‚Mythos‘ (heute ‚Fabel‘ oder ‚Plot‘), aber tatsächlich unterscheidet er sich von den Mythen gerade in seiner Spezifität: „Ein solcher Anfang aber ist für Aristoteles etwas, was der Tragödiendichter erst produzieren muss; den Anfang zu finden, gehört zu seinen wesentlichen dramaturgischen Fähigkeiten. Denn die Mythen, aus denen die griechische Tragödie ihre Stoffe nimmt, kennen keinen klaren Anfang.“ (Etzold 2016, S.37) – Schon Hans Blumenberg sah die eigentliche Leistung von Mythen darin, den Zuhörern vorzugaukeln, daß alle weiteren (und beängstigenden) Fragen nach einem ersten Anfang überflüssig seien. Eine Katharsis ist bei ihnen nicht vorgesehen, eher Einschläferung.
Das Zweite, was eine gute Tragödie braucht, ist ein Ende: „Die Tragödie muss irgendwann vorbei sein – sonst ist die karthasis unmöglich.“ (Etzold 2016, S.40)
Rousseau widerspricht diesem Aristotelischen Konzept des Schauspiels heftig. Leidenschaften sind für ihn zutiefst suspekt, wie aus einem Brief an Abbé d’Aubignac hervorgeht: „Ich weiß, dass die Poetik des Theaters behauptet (...), die Leidenschaften zu reinigen, indem sie sie hervorruft; aber ich habe Mühe, diese Regel zu verstehen. Muss man also, um gemäßigt und weise zu werden, damit anfangen, wütend und verrückt zu sein?“ (Etzold 2016, S.40, Anm.16)
Dabei greift Rousseau auf eine einfache, für jeden nachvollziehbare Erfahrung zurück. Das Wecken von Leidenschaften, so Rousseau, kann schon deshalb nicht zu einer Reinigung führen, weil Leidenschaften immer nur neue Leidenschaften wecken. Das liegt gewissermaßen in ihrer ‚Natur‘: „Der Wahnsinn“, bringt Etzold Rousseau auf den Punkt, „der einmal begonnen hat, endet nicht ...“ (Etzold 2016, S.41)
Dazu muß man aber auch wissen, daß Rousseau zwischen natürlichen und unnatürlichen, gesellschaftlich induzierten Bedürfnissen unterscheidet. Das ganze Erziehungskonzept in seinem Emile (1762) beruht auf dieser Differenzierung. Die natürlichen Bedürfnisse zu kennen und zu befriedigen, macht den Menschen stark. Die gesellschaftlich induzierten Bedürfnisse hingegen sind prinzipiell unersättlich, und der Versuch, sie zu befriedigen macht den Menschen schwach. Bei den Leidenschaften, gegen die sich Rousseau richtet und mit denen er seine Ablehnung der Katharsisthese begründet, handelt es sich also vor allem um diese gesellschaftlich induzierten, falschen Bedürfnisse, wie auch aus folgendem Zitat aus dem zweiten Diskurs hervorgeht: „(A)m sonderbarsten aber ist folgendes: Je weniger natürlich und dringend die Bedürfnisse sind, umso mehr steigern sich die Leidenschaften und, schlimmer noch, die Mittel, sie zu befriedigen ...“ (Zitiert nach Etzold 2016, S.50)
Es mag also zwar einen Anfang des Schauspiels geben, aber sobald die Leidenschaften geweckt sind – so Rousseau –, wird es kein Ende mehr finden. Und da wir es hier mit einem gesellschaftlichen Phänomen zu tun haben, gilt dies auch für die ganze menschliche Gesellschaft: „Am Beginn wird der Mensch zum Schauspieler – und am Ende hat er alle anderen umgebracht, die Erde leer gegessen – und ist allein. ‚Alles todt‘(): So könnte man mit Georg Büchner die Idee des Endes bezeichnen, die Rousseau hier skizziert.“ (Etzold 2016, S.51)
Ein düsteres, aber heute weniger denn je unrealistisches Szenario.
Aber Rousseau hat noch einen weiteren Grund, das Schauspiel für ein Übel zu halten. Seiner Ansicht nach bedarf es vor allem einer Fähigkeit, um schauspielern zu können: der Täuschung! Ich bin schon zu Beginn dieser Besprechung darauf zu sprechen gekommen. Rousseau zufolge steht die Täuschung sogar am Anfang der Menschwerdung: „Denn was macht den Menschen aus, sobald er aus dem Naturzustand herausgetreten ist? Er kann täuschen; seine Affekte sind also nicht mehr natürlich und offenbar.“ (Etzolde 2016, S.48)
An dieser Stelle finde ich es bemerkenswert, daß Rousseau im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Schauspiel das Menschliche so negativ bewertet. Im Emile ist es immer der Bürger, der einer negativen Bewertung unterliegt, niemals der Mensch. Im Emile verliert der Mensch seine Menschlichkeit, wenn er vom Naturzustand in den gesellschaftlichen Zustand überwechselt und Bürger wird. In seinen Schriften zum Theater hingegen wird der Mensch erst in diesem Augenblick zum Menschen! Aber hier gilt wohl, worauf Etzold schon hinsichtlich des Rousseauschen Naturbegriffs hinweist: „Weit davon entfernt, ein gegebenes und unveränderliches Faktum zu bezeichnen, ist ‚Natur‘ bei Rousseau vor allem ein strategisch verwendetes Konzept, um gegen die Naturalisierung dessen vorzugehen, was eigentlich sozial ist. Denn wenn Rousseau argumentiert, dass der Mensch von Natur frei geboren sei, dann um die Annahme zu widerlegen, dass Sklaverei je ‚natürlich‘ sein könnte.“ (Etzold 2016, S.44)
Auch hinsichtlich seiner Überlegungen zur Schauspielerei argumentiert Rousseau strategisch, und da geht es eben vor allem darum, auf die Gefahren der Menschwerdung hinzuweisen, während es im Emile vor allem um die Gefahren der Vergesellschaftung geht.
Was Rousseau ‚Täuschung‘ nennt, ist tatsächlich Teil eines komplexen Mensch-Welt-Verhältnisses, das Plessner als „Körperleib“ beschrieben hat. Wir haben nicht nur unseren Körper, sondern er hat auch uns, und wir befinden uns in beständigem Widerstreit mit uns selbst. Dieses Selbstverhältnis überträgt sich auch auf unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen. Niemals können wir uns sicher sein, welche Affekte und Absichten mit Gesten und Mimik verbunden sind. Oft genug kommt es auch ohne bewußten Täuschungsakt zu Mißverständnissen. Wo jemand zu lachen scheint, kann er tatsächlich weinen. Wo jemand zu weinen scheint, kann er tatsächlich lachen. Diese Zweideutigkeit des körperlichen Ausdrucks bildet sogar eine Voraussetzung dafür, andere bewußt zu täuschen.
Aber gerade das Geschehen auf der Bühne täuscht niemanden. Der Schauspieler lügt nicht, weil der Zuschauer weiß, daß er getäuscht wird und somit es selbst ist, der sich täuscht. Und er genießt diese Täuschung um so mehr, je besser sie gelingt. Was Rousseau als Täuschen bezeichnet, ist nur eine Form der Kommunikation, nämlich eine Kommunion, wo „jeder sich im anderen sieht und liebt, auf dass alle besser vereint seien“, wie Etzold Phillippe Lacoue-Labarthe zitiert. (Vgl. Etzold 2016, S.54) Diese Kommunikation ist zwar wesentlich emotional mimetisch, aber sie erstreckt sich darüber hinaus auch auf unseren Intellekt und ermöglicht eine Selbstreflexion. Das könnte man dann auch eine Katharsis nennen.
Tatsächlich ist es möglich, die Rousseausche Anthropologie mit dem Aristotelischen Konzept des Schauspiels zu versöhnen. Etzold verweist mit Lacoue-Labarthe auf tiefer liegende Emotionen, die Rousseau zufolge zum natürlichen emotionalen Grundbestand jedes Menschen gehören: Furcht und Mitleid. (Vgl. Etzold 2016, S.47) Diese tiefen Emotionen bedürfen eines mimetischen Ausdrucks, um sie bewältigen zu können und mit ihnen umgehen zu lernen. Die durch die Tragödie ermöglichte Katharsis könnte dazu einen Beitrag leisten. Etzold geht es dabei noch einmal insbesondere um das Mitleid als einer Form des „Mit-Seins“. (Vgl. Etzold 2016, S.57) So stellt er fest, daß Rousseau zwar rigoros gegen die Schauspielerei argumentiert, aber eine bestimmte Vorform des Schauspiels, nämlich das „Fest“, gewissermaßen ein Schauspiel ohne Schauspieler, befürwortet: „... im Fest wird eine Bedingung der Existenz aktualisiert, ein Mit-Sein vor jeder Gründung, vor jedem Vertrag; ein Mit-Sein, dessen Anfang sich ebenso im Unvordenklichen verliert wie die Mythen, aus denen der Tragödiendichter seine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende formt.“ (Etzold 2016, S.57)
Etzolds Bemerkungen erinnern mich wiederum an Blumenbergs Lagerfeuer, an denen Rhapsoden vor einer andächtig lauschenden Zuhörerschaft ihre Lieder vortrugen. Was waren diese Rhapsoden anderes als eine archaische Verbindung aus „Priester“ und „gelehrte(m) Bürger“, die Rousseau zufolge ihre Mitbürger über die „Geschichte des Landes“ belehren? (Vgl. Etzold 2016, S.53) Bei den Lagerfeuern hatten wir es noch mit einer ursprünglichen Form der Gemeinschaft zu tun gehabt, aus der der Mensch noch nicht als Individuum herausgetreten gewesen war. In der Tragödie wurde diese Form der Gemeinschaft durch den Chor repräsentiert, und Etzold bezeichnet diesen Chor als den Raum, aus „dem die maskierten Schauspieler“ hervortreten. (Etzold 2016, S.55) Der Chor bildet also gewissermaßen einen Anfang vor dem Anfang: „ein Theater vor dem Theater, ein anfängliches Theater, das erst zu dem Theater wurde“. (Vgl. Etzold 2016, S.54)
Und an dieser Stelle läßt sich wieder eine Linie zu Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) ziehen: Plessner zufolge verlassen die Individuen, um ihrer Individuierung willen, die Gemeinschaft, um auf der gesellschaftlichen ‚Bühne‘ Masken aufzusetzen und Rollen zu spielen. Und genau deshalb, weil jeder Mensch als gesellschaftliches Individuum – und nur als gesellschaftliches kann es Individuum sein – Rollen spielt, bietet das Theater eine Reflexion und eine Einübung gesellschaftlicher Notwendigkeiten. Der maskierte Schauspieler verläßt den Chor im Auftrag der Zuschauer, die ihm folgen, indem sie sich mit ihm identifizieren: Mimesis.
Das Rousseausche Fest erinnert daran, daß das Theater aus dem einen, der Gemeinschaft, hervorgegangen ist, um das andere, die Gesellschaft, zu ermöglichen. Etzolds Ausführungen legen nahe, daß das Theater eine Vermittlungsform sowohl zwischen Individuen und Gesellschaft wie auch zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft bilden kann. In Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ sind Gemeinschaft und Gesellschaft einander ähnlich schroff entgegengesetzt wie bei Rousseau Individuum und Gesellschaft. Ihnen fehlt die Vermittlung. Möglicherweise hatte Plessner deshalb auch seine Anthropologien zur Nachahmung und zum Schauspieler geschrieben. Etzold jedenfalls sieht den Chor im Theater immer noch gegenwärtig, sogar auch dort, wo er fehlt.
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