„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 24. Januar 2020

Uneingelöste Schecks

Ich lese gerade von Denis Scheck „Schecks Kanon“ (1919), eine Liste von hundert Büchern, die man gelesen haben sollte. Denis Scheck löst alle seine Schecks ein: er rezensiert die Bücher nicht nur, er liest sie auch. Und: er liest die Bücher nicht nur, er rezensiert sie auch. Alles eingelöste Schecks. – Danke!

Doch leider passieren ihm auch Patzer. In seiner Besprechung von Voltaires „Philosophisches Wörterbuch“ schwärmt er von des Autors hellsichtiger Kritik an den Vorurteilen seiner Zeitgenossen, die sich noch heute aktuell auf Populisten und ihre blind Beifall gröhlende Anhängerschaft beziehen läßt, und von seinem unerschütterlichen Grundsatz, daß alle Menschen gleich sind. Nur am Schluß erwähnt Scheck in einem Satz, völlig isoliert vom Rest seiner Besprechung, gleich im unvermittelt folgenden Satz wieder in eine heroisierende Lobpreisung Voltaires wechselnd, daß dieser Mann ein ungebrochenes Verhältnis zum Geldverdienen gehabt habe und den Sklavenhandel nicht nur befürwortete, sondern auch davon profitierte.

Lieber Herr Scheck: ich bin der Meinung, daß der Gedanke an den Sklavenhändler Voltaire alles entwertet, was er an wie immer Bewundernswertem und Wirkmächtigem geschrieben haben mag. Für mich ist dieser Herr gestorben.

Dienstag, 21. Januar 2020

Nietzsche: korrigiert

In „Also sprach Zarathustra“ heißt es: „Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und kein Untergang ist.“

Nietzsche vermengt hier unter Weglassung der individuellen Entwicklungsebene die biologische Entwicklung mit der kulturellen Entwicklung des Menschen. Die mit dem Aphorismus verbundene, scheinbar anthropologische ‚Wahrheit‘ ist aber nur eine biologische und beruht auf Charles Darwins „Entstehung der Arten“, bekannt als Evolutionstheorie. Aus Darwins wissenschaftlicher Erkenntnis wird in Nietzsches Aphorismus ‚Liebe‘; Liebe zu etwas Künftigem, was nicht mehr menschlich ist.

Dieser Aphorismus hat viel Unheil angerichtet. Nietzsche machte es den Nationalsozialisten, an die er beim Verfassen dieses kurzen Textes noch nicht hatte denken können, leicht, ihn mißzuverstehen. Es gibt keinen Gleichschritt im biologischen und kulturellen Prozeß der Menschheitsentwicklung. Was biologisch im zeitlichen Maß von Jahrhunderttausenden und Jahrmillionen geschieht, beschleunigte sich im kulturellen Bereich seit dem Neolithikum zu heute auf in Jahresabständen einander abwechselnden Umwälzungen unserer Lebensverhältnisse.

Der Satz müßte umformuliert werden, damit er als Aussage über den Menschen ernstgenommen werden kann: „Was groß am Menschen ist, das ist, daß er eine Grenze ist: Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er weder ein biologischer noch ein kultureller Zweck ist.“

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Samstag, 18. Januar 2020

Fortschritt und Beschleunigung

Im Rahmen der Fortschrittserzählung, die Habermas mit seinem Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) vorgelegt hat, gesteht er durchaus ein, daß mit diesem Fortschritt, den er mit dem Neolithikum vor 12.000 Jahren beginnen läßt, auch Kollateralschäden einhergehen. So spricht er von den „sich fortgesetzt umwälzende(n) Lebensverhältnissen“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.119), vom Klimawandel und von risikoreichen Großtechnologien, von den „Folgen des finanzgetriebenen Kapitalismus“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.124), und dann noch einmal von der „unaufhaltsame(n) Umwälzung der alltäglichen Lebensverhältnisse“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.145)

Als einen weiteren beklagenswerten Nebeneffekt des menschheitlichen Lern- und Fortschrittsprozesses nennt Habermas den „Zerfall() der Solidarität“. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.39). Zur Revitalisierung dieser verbrauchten Ressource schlägt Habermas allen Ernstes den Rückgriff auf Riten vor, wie sie dereinst in frühmenschlichen Initiations- und Opferriten präfiguriert worden waren; gewissermaßen als Therapie der durch den Fortschrittsprozeß verursachten Traumata. Thomas Mann läßt in „Doktor Faustus“ Serenus Zeitblom vor der Gefahr der „Erneuerung kultischer Musik aus profaner Zeit“ warnen. Diese Warnung hätte sich Habermas zu Herzen nehmen sollen. Kein Ritus, kein Kultus vermag die Dehumanisierung des Menschen durch sein eigenes Werk zu verhindern. Am Ende verstärkt der Ritus sogar noch die technologische Barbarei, so wie im Nationalsozialismus, den Zeitblom bei seiner Warnung vor Augen gehabt hatte.

Die Nähe von vorsprachlichem Ritus und Unvernunft liegt auf der Hand, und was die Unvernunft betrifft gesteht Habermas, daß wir es hier mit einem Desiderat zu tun haben: die bisherigen Analysen historischer Prozesse, so Habermas, haben das „Thema der Unvernunft in der Geschichte“ vernachlässigt. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.174) Statt aber nun das Verhältnis von Ritus, Vernunft und Unvernunft zu erörtern, bekennt sich Habermas bedenkenlos dazu, daß auch er selbst darauf in seinem Buch nicht weiter eingehen wolle. Letztlich ist es genau dieser blinde Fleck seines Buches, der seiner ganzen Lern- und Fortschrittsgeschichte die Plausibilität nimmt.

Sein Bedauern angesichts der fortwährenden Umwälzungen der menschlichen Lebensverhältnisse ist irgendwie nicht ganz ehrlich; denn tatsächlich kann es ihm mit diesen Umwälzungen gar nicht schnell genug gehen. So beklagt Habermas an einer Stelle ausdrücklich die Beschleunigung zunehmender Komplexitäten (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.72), aber dann an anderer Stelle beschreibt er sie als ein Merkmal der Achsenzeit, wo Habermas affirmativ von der seitdem beschleunigten „Rotation der Weltgeschichte“ spricht (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.177). Von einer Kritik ist an dieser Stelle nichts mehr zu erkennen.

Auch hier macht sich bei Habermas die fehlende Differenzierung zwischen biologischen und kulturell-gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen bemerkbar. Habermas setzt die kulturelle Evolution mit der biologischen Evolution umstandslos gleich, so daß bei ihm beide nicht etwa miteinander konfligierend nebeneinanderher verlaufen, sondern die kulturelle Ebene die biologische Ebene ablöst und außer Kraft setzt. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.227)

Besonders eindrücklich wird diese Beschleunigung am Beispiel der Reproduktionsindustrie. Goethe läßt in seinem „Faust“ den künstlich erschaffenen Homunkulus wieder ins Meer zurückkehren, weil alles Leben Zeit braucht, um sich zu entwickeln! – Und die Zeit, die alles Leben braucht, ist die biologische Zeit, die sich über Jahrhunderttausende und Jahrmillionen erstreckt. Nun will aber gerade die Reproduktionsindustrie diese biologischen Prozesse beschleunigen, also durch gesellschaftlich-technologische Zeit ersetzen. Durch Eingriffe in die Keimbahn wird die biologische Zeit außer Kraft gesetzt. Es ist dem homo sapiens wohl kaum zuzutrauen, daß er über die Weisheit der biologischen Natur verfügt, den Stoffwechselhaushalt des menschlichen Körpers auf genetischer Ebene so fein auszutarieren, daß die Schaffung neuer erwünschter Merkmale und die Ausmerzung unerwünschter Merkmale in der Produktion von Menschen nicht abermals, andernorts überall in unserer technischen Lebenswelt längst zu beobachtende irreparable Schäden hervorruft.

Habermas verhält sich, wie Walter Benjamin es in seiner Parabel vom Engel der Geschichte beschreibt: er schaut nach vorne und sieht, wie sich eine Begebenheit an die andere in die Zukunft hinein reiht, die Habermas alle als Innovationen beschreibt, während der Engel nach hinten in die Vergangenheit schaut und schon jetzt sieht, als was sich diese angeblichen Innovationen tatsächlich erweisen werden: als künftige Trümmer und Ruinen in einer verwüsteten Landschaft.

PS (14. Dezember 2020):
Daß Habermas die ‚Unvernunft‘ in seiner Fortschrittsgeschichte nicht berücksichtigen will, impliziert immerhin das Eingeständnis, daß es eine solche gibt. Dieses Eingeständnis verbirgt allerdings, daß diese Fortschrittsgeschichte selbst wesentlich etwas mit dieser Unvernunft zu tun haben könnte. In meiner aktuellen Lektüre, „Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie“ (2011) von Carola Meier-Seethaler, beschreibt die Autorin, wie der Wechsel vom Matrizentrismus zum Patriarchat zur Etablierung einer ‚Kultur‘ der fortschreitenden Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen durch eine ihr destruktives Potential fortwährend steigernde Technologie, wie wir sie heute vor Augen haben, geführt hat.
Im Titel des Buches steht „Ursprünge“ für den „Beginn unserer heutigen Kulturbasis“, also für das Patriarchat, mit dem ein „tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel“ einhergegangen ist. (Vgl. CMS 2011, S.27) Dabei ist das Patriarchat in seinen Ursprüngen motiviert durch die biologische „Outsiderposition“ des Mannes, nämlich nicht gebären zu können. Viele Jahrzehntausende, Jahrhunderttausende, je nachdem wie weit man den homo sapiens zurückdatiert, war den Menschen nicht bewußt, daß der Mann zum Zeugungsakt eines Kindes was beitrug. Die Rolle des Vaters hatte immer der Bruder der Mutter inne. Diese Unkenntnis war auch durch eine „Ovulationshemmung“, die es heute nicht mehr gibt, während der drei- bis vierjährigen Stillzeit bedingt, in der die Mutter Sex haben konnte, aber nicht ‚befruchtet‘ werden konnte. ‚Befruchtung‘ ist übrigens wieder so ein verfälschender Terminus, weil die ‚Frucht‘ ja nicht vom Mann stammt, sondern von der Frau.
Als dann über die Viehzucht im Neolithikum der Beitrag des Mannes erkannt wurde, begannen die Männer diesen ‚Zeugungsakt‘ so zu überhöhen, daß sie auf lange Sicht, also im Verlauf von mehreren Jahrtausenden, allmählich die matrizentrische Kultur verdrängten und, vor allem in den letzten drei- bis viertausend Jahren, ihre ‚Minderwertigkeit‘ hinsichtlich der Gebärfunktion mit Hilfe des Patriarchats überkompensierten. Zu diesem Patriarchat gehören notwendigerweise Kriege und die zunehmende Zerstörung der planetaren und humanitären Ressourcen. Meier-Seethaler spricht von den vier Säulen des Patriarchats: Mord, Raub, Vergewaltigung und Lüge. Mit Blick auf das aktuelle Verhalten eines scheidenden US-Präsidenten kann es da nicht verwundern, daß dessen Lügenexzesse von einem großen Teil der US-amerikanischen Wählerschaft goutiert werden. Er macht genau das, was von ihm in einer patriarchalen Gesellschaft erwartet wird.
So viel zu den ‚Ursprüngen‘. Was die „Befreiungen“ betrifft, geht es der Autorin um eine gleichzeitig gesellschaftliche wie individuelle „Befreiung zur Partnerschaft“, in der sich die „Fragen der Sexualität ebenso neu zu stellen haben, wie die Frage nach der Ehe oder anderen dauerhaften Gemeinschaften“. (Vgl. CMS 2011, S.34) Dabei ist Meier-Seethaler zwar Feministin, aber sie hält nach wie vor an der verschiedenartigen Körperlichkeit von Männern und Frauen fest. Männer können eben nicht Kinder gebären; das macht auch psychologisch einen Unterschied. Letztlich gibt es der Autorin zufolge nur eine Ebene, auf der Frauen und Männer ursprünglich gleich sind: im „Überlebenskampf in der Natur“ und in ihrer „existenziellen Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen“: „Dabei waren weder die psychischen Schöpfungen von Mythos und Kult noch die materiellen Kulturinnovationen dem männlichen Geschlecht vorbehalten, vielmehr spricht alles dafür, dass sowohl im sozialen wie im kulturellen Bereich zunächst ein Ungleichgewicht zugunsten der Frau bestanden hat, was zu vielschichtigen Kompensationen auf der Seite des Mannes führte.“ (CMS 2011, S.30f.)
Was die „Befreiungen“ betrifft, im Sinne einer Partnerschaft auf Augenhöhe, spricht Meier-Seethaler im Plural, also von einer Vielzahl individueller Befreiungen in den Paarbeziehungen, zu denen zwar ein unterstützendes, nicht mehr patriarchales gesellschaftliches Milieu gehört, das aber nicht als ein Zwangskollektivismus verstanden werden darf. Die Beziehungsarbeit ist zu einem großen Teil eine individuelle. So verstehe ich die Autorin jedenfalls.
Mich spricht Meier-Seethalers kulturtheoretische Analyse an. Sie entspricht meiner eigenen psychischen Verfassung; meinem Offline-Projekt, meinem Begehren eine andere Gestalt zu geben. Habermasens Fortschrittsgeschichte krankt daran, daß er die Unvernunft in der Vernunft nicht thematisieren will. Er bleibt weitgehend blind für das destruktive Potential einer patriarchal deformierten Wissenschaftlichkeit, die alles Subjektive und Emotionale aus ihrem Horizont ausblendet. Nur so kann sich diese Fortschrittsgeschichte als Fortschritt bis heute behaupten; eine kleine Weile noch.

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Donnerstag, 16. Januar 2020

Vom Weblog zum Tagebuch

In Blumenbergs „Die nackte Wahrheit“ (2019) finde ich den von Lichtenberg inspirierten Gedanken:
„Dann wäre die Form, in der der Gedanke noch bei sich selbst ist, dem Verschleiß der Sprache noch nicht unterzogen, die fragmentarische Momentaufnahme des Notizbuches.“ (Blumenberg 2019, S.165)
Vorausgesetzt wird hierbei, daß wir das, was wir in unser Notizbuch schreiben, niemandem mitteilen, und daß wir alles, was wir anderen mitteilen, in Worten mitteilen müssen, die vom vielen Gebrauch schon so verschlissen sind, daß sie beim Anderen nicht so ankommen, wie wir sie gemeint haben. Unschwer ist hier Plessners Feststellung wiedererkennbar, daß es eine unüberbrückbare Differenz zwischen Sagen und Meinen gibt.

Worte, die wir niemandem mitteilen, sondern in unser Notizbuch schreiben, sind hingegen, so Blumenberg, immer so gemeint, wie wir sie schreiben – solange sie nur von niemandem als uns selbst gelesen werden. So ein Notizbuch mit seinen fragmentarischen Momentaufnahmen unseres Denkens ist aber letztlich auch jedes Tagebuch. Indem ich ein Tagebuch führe, bleiben meine Gedanken bei mir und damit bei sich selbst. Vielleicht ist es sogar so, daß nicht nur die Gedanken auf diese Weise unverbraucht und frisch bleiben, sondern auch ich selbst? Ich denke, also bin ich. Aber: ich schreibe Tagebuch, also bleibe ich (jung).

In diesem Sinne ‚jung‘ bleibt auch der Gedanke, den wir in unserem Tagebuch notieren, da er, wie Blumenberg festhält, rhetorisch nicht auf den Zweck der Mitteilung hin perfektioniert wird. Im Notizbuch verharrt er also im Entwurfsstadium. Dieses Entwurfsstadium bildet also gewissermaßen seine ‚Jugend‘, während die Mitteilung seine ‚Reife‘ wäre und sein Mißverstandenwerden, seine Verschlissenheit, wäre dann sein Alter.

Es sei denn, der Gedanke findet in der Fortführung des Tagebuches über einen längeren Zeitraum hin die Möglichkeit, sich zu entwickeln: nicht auf die Mitteilung hin, sondern aus sich selbst heraus! Und zwar ohne sich dabei zu verschleißen.

Natürlich ist Schreiben aber immer auch Mitteilung. Deshalb gibt es auch keine Gedanken ohne Mitteilung; nicht mal im Tagebuch. Denn ins Tagebuch zu schreiben ist Mitteilung an sich selbst und bedeutet die einmalige Chance, die eigenen Worte für einen Gedanken zu finden. Worte, die sich noch nicht verbraucht haben.

Deshalb bezeichne ich mein Tagebuch als Apscript, als eine geschriebene Form der Apperzeption. Letztlich ist das eine Konsequenz aus meinen Erfahrungen mit meinem Weblog. Ich hatte ursprünglich, vor etwa zehn Jahren, mit meinem Blog auf viele Kommentare und Rückmeldungen von den Besuchern meines Blogs spekuliert. Daraus ist nichts geworden. Stattdessen schrieb ich einsam vor mich hin und sah mir dabei selbst zu. Die große Überraschung war, daß das nicht etwa bloß zu einer geistigen Selbstbefriedigung führte, sondern mich geistig bereicherte und weiterbrachte.

Mit anderen Worten: der Weblog bildete eine Form der Apperzeption, die auch unabhängig von einem online-Publikum funktionierte. Es ist also nur konsequent, mich von meinem Weblog zu verabschieden und stattdessen ein richtiges analoges Tagebuch zu führen, also mich schreibend selbst zu beobachten.

Kants „Ich denke“, das alle unsere Wahrnehmungen begleiten können soll, bildet nicht nur eine Form des Festhaltens und der Inbesitznahme. Es beinhaltet zugleich auch ein Weiterdenken unserer selbst. Indem wir uns selbst denkend beobachten, werden wir nicht einfach nur unserer selbst gewiß, sondern wir beginnen einen Entwicklungsprozeß, in dem wir wir selbst werden.

Die Apperzeption ist der Weg, den wir gehen, bzw. der Weg, der wir sind. Wir sind, was wir sein werden. Apperzeption! Wir denken uns selbst auf unsere Wahrnehmungen hin und von unseren Wahrnehmungen her auf uns selbst zurück: ein auf eine offene Weite gerichteter Umlauf; nichts von heilig.

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Mittwoch, 15. Januar 2020

Seele, Rhetorik und die Begrenztheit des menschlichen Verstandes

In dem von Rüdiger Zill aus dem Nachlaß herausgegebenen Buch „Die nackte Wahrheit“ (2019) beschreibt Hans Blumenberg die Rhetorik als ein Mittel, die Wahrheit zu sagen und sie gleichzeitig zu verbergen:
„Als Lehre von der Beredsamkeit muß sie darin ehrlich sein, das Ziel der Täuschung auch dann einzugestehen, wenn sie sich dessen gewiß ist, nur der Verbreitung der Wahrheit zu dienen, weil sie sich dessen nicht gewiß ist, daß die Akzeptanz der Wahrheit ihrer Qualität entspricht. Als Ausübung jener gelehrten und erlernbaren Kunst kann die Rhetorik nicht ehrlich sein, die Täuschung als ihr Ziel anzuerkennen, weil sie, was ihr Ziel ist, durch diese Anerkennung zugleich unerreichbar machen müßte.“ (Blumenberg 2019, S.29f.)
Die Rhetorik ist eine notwendige Hülle, die gleichermaßen etwas zeigt und verbirgt. Immer wieder vergleicht Blumenberg die Wahrheit mit einer Zwiebelschale, die aus vielen ‚Hüllen‘ bzw. Schichten besteht, ohne daß es irgendwo im Innersten einen wahren Kern gäbe:
„Die Enthüllung führt nicht in die Tiefe der Dinge, sondern an eine andere Oberfläche ...“ (Vgl. Blumenberg 2019, S.17; vgl. auch S.16, 97, 102, 155)
Wir kennen diese Figur der verbergenden Enthüllung und der enthüllenden Verbergung schon von Helmuth Plessners ‚Seele‘ und ihr noli me tangere. Die Seele will Plessner zufolge zwar verstanden, aber nicht durchschaut werden und zieht sich aus allem, was sie sagt, sogleich wieder zurück, leugnend, daß sie es so gemeint habe. Auch bei Blumenberg gilt für den Menschen, was für die Wahrheit gilt:
„Der Mensch ist, so banal es klingt, ein Fall der erschreckendsten Prolongation der Nacktheitsmetaphorik zur Metapher der Zwiebelschale, der Artischocke. Nichts ist, wenn er einmal geöffnet worden ist, ein Letztes; und wo ein Letztes erreicht zu sein scheint, ist es nicht mehr das seinige.“ (Blumenberg 2019, S.102)
Was für die Zwiebel die Schalen sind für die Wahrheit die Metaphern. Keine Wahrheit ohne Rhetorik, keine Rhetorik ohne Metaphern; und schließlich: ohne Metaphern keine Sprache. Mit Bezug auf Lichtenberg und Wittgenstein hebt Blumenberg die wesentliche Verschliffenheit, die grundlegende Mehrdeutigkeit der menschlichen Sprache hervor, der keine Sprachkritik etwas anzuhaben vermag, weil sich die Sprachkritik immer der falschen Sprache bedienen muß, wo sie die richtige Sprache in Kraft zu setzen versucht:
„Dieses Paradox löst sich erst auf, wenn man bemerkt, daß die Berichtigung des Sprachgebrauchs als Inbegriff der Philosophie es zu schwer hat, sich an der gewöhnlichen Falschheit der Alltags- und Schulsprachen zu betätigen, weil diese in ihrer Verschliffenheit der Aufmerksamkeit keine ausreichenden Konturen anbieten.“ (Blumenberg 2019, S.172)
Die „Verschliffenheit“ der Alltagssprache, das Fehlen von „Konturen“ macht den durchgängigen Gebrauch einer wohldefinierten, nicht von Metaphern durchsetzten und im engeren Sinne wahrheitsfähigen Begrifflichkeit praktisch unmöglich.

Metaphern sind aber nicht nur unvermeidbare Bestandteile einer ‚verschliffenen‘ (Alltags-)Sprache. Sie sind vor allem dort unverzichtbar, wo man die Sache selbst ohne sie überhaupt nicht verstehen kann, wie etwa in der Quantenphysik und in der Relativitätstheorie. In diesen wissenschaftlichen Disziplinen versagen sogar die Begriffe, und nur die Mathematik liefert eine Formelsprache, die zwar mehr schlecht als recht funktioniert, aber noch nicht einmal von den mit ihr hantierenden Experten verstanden wird. In der Alltagssprache aber können solche Disziplinen überhaupt nicht heimisch werden, wie Blumenberg am Beispiel der kopernikanischen Wende zeigt. Die „kopernikanische Reform“ habe „nichts an dem Fortbestand der vorkopernikanisch verfahrenden Sprache zu ändern“ vermocht; nämlich daran, daß wir die Sonne immer noch auf- und untergehen sehen, anstatt von der rotierenden Erde zu sprechen:
„Der Grund ist klar: Die Wahrnehmung wird niemals kopernikanisch.“ (Blumenberg 2019, S.174)
Es ist vielmehr so, daß die natürliche Grenze der menschlichen Sprache zugleich die natürliche Grenze des menschlichen Verstandes bildet. Wo sich die Menschen von wissenschaftlichen ‚Wahrheiten‘ á la Quantenphysik und Künstliche Intelligenz abhängig machen, kann das zu einer „bedrohliche(n) Illusion“ für ihr Handeln führen (vgl. Blumenberg 2019, S.174); einer Illusion, die die Urteilsfähigkeit der Menschen auf verhängnisvolle Weise untergräbt.

Auch bei der „nackten Wahrheit“ geht es also um mehr als bloß um die Objektivität einer Sache und um mehr als bloß um das Aufweisen von Fakten und Daten. Hans Blumenberg spricht mit der Wahrheitsproblematik ein Grundproblem unserer globalisierten Gesellschaft an. In ihr stehen sich zwei Gruppen unversöhnlich gegenüber: die einen glauben nicht mehr an die eine, alle Menschen gleichermaßen verpflichtende Wahrheit. Sie basteln sich ihre eigenen, gruppenspezifischen Wahrheiten und bezeichnen alles andere, was ihren Wahrheiten widerspricht, als Lüge bzw. neudeutsch als Fake.

Die anderen halten an einem wissenschaftlich begründeten Wahrheitsanspruch fest, den sie auch denen zumuten, die sich von ihm losgesagt haben oder die einfach damit überfordert sind, immer auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes und der Fakten zu sein. Die Vertreter und Agenten dieses Wahrheitsanspruchs gestatten ihnen keinen Zweifel an ihrem Wahrheitsanspruch.

Beide Gruppierungen schaden der Wahrheit. Und zwar einer ‚Wahrheit‘, die dem menschlichen Fassungsvermögen entspricht, ohne allerdings den Menschen in die Beliebigkeit zu entlassen. Denn gerade diese ‚menschliche‘ Wahrheit ist es, die uns tiefer zu bewegen und strenger in die Pflicht zu nehmen vermag als der vermeintliche Universalismus – der eigentlich nur ein Reduktionismus ist – des wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs, der sich letztlich doch nur an einige wenige Experten richtet, den Laien aber außen vor läßt:
„Es sind die Verhüllungen, ihre lockenden Verborgenheiten und ihre prunkenden Auszeichnungen, die die menschliche Einbildungskraft in Betrieb setzen.“ (Blumenberg 2019, S.75)
Die reine Vernunft hingegen bewirkt nur „Bewegungslosigkeit“. (Vgl. Blumenberg 2019, S.75) Sie rüttelt uns nicht wach und vermittelt uns keine Motive.

In die Gegenwart übersetzt heißt das, die Bedeutung der Lebenswelt in einer durchdigitalisierten Gesellschaft, in der Quantenphysik und Künstliche Intelligenz im zunehmenden Maße unser Alltagsleben bestimmen und das Fassungsvermögen unseres Verstandes überfordern, neu hervorzuheben. Unserem Fassungsvermögen sein menschliches Maß zu lassen, in einer Lebenswelt, die uns stärkt und nicht schwächt, bildet keinen billigen Populismus; keine bequeme Rechtfertigung gruppenspezifischer Interessen. Es fordert vielmehr jedem Menschen die individuelle Anstrengung ab, sich für einen universalisierbaren Lebensstil einzusetzen, der ihn und seine Mitmenschen stärkt und künftiges Leben auf diesem Planeten nicht gefährdet, anstatt sich und die anderen zu betrügen. Das ist der heute noch aktuelle Kern des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant; eines Imperativs aber, der weniger kategorisch auf reine Vernunft als vielmehr menschlich auf die Begrenztheit des menschlichen Verstandes ausgerichtet ist.

Wir brauchen eine Alternative zu einer Wissenschaft, die sich institutionell von der Lebenswelt absondert, sich dabei aber abhängig macht von privatwirtschaftlicher Finanzierung. Eine solche Alternative sehe ich in den citizen scientists, den Bürgerwissenschaftlern, die Wegbereiter eines humaneren Wissenschaftsverständnisses sein könnten. Ein Vorbild für so eine kritische Bürgerwissenschaft bildet in meinen Augen die Umwelt- und Anti-Atomkraftbewegung der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. Doch heute werden Bürgerwissenschaftler leider von den etablierten Wissenschaftseinrichtungen für Hilfsdienste wie das Zählen von Vögeln und Insekten unter Anleitung der ‚eigentlichen‘ Wissenschaftler vereinnahmt. So sinnvoll das jeweils auch sein mag: auf so billige Weise sollte man diese Professoren nicht davonkommen lassen. Transdisziplinarität beinhaltet mehr als vornehme Belehrung ‚von oben‘.

Im Rahmen der wissenschaftlichen Institutionen sehe ich vor allem die Klimaforschung als positives Beispiel einer unabhängigen Wissenschaft. Ihr gegenüber steht diesmal leider die Begrenzung des ‚Immer so weiter‘ eines allzu bequemen Alltagsverstandes, der sich bereitwillig blind machen läßt für die offensichtlichen Anzeichen eines planetaren Kollapses. Es ist eben nicht einfach, sich in die Grenzen des menschlichen Verstandes zu bescheiden und sich zugleich der globalen Verantwortung für die Zukunft des Planeten zu stellen. Was wir brauchen ist eine zweite Naivität: eine Naivität, die um die Grenzen des Verstandes weiß und es sich dennoch nicht nehmen läßt, sich seiner zu bedienen.

Blumenberg bringt es mit Verweis auf Georg Christoph Lichtenberg in folgender Bemerkung auf den Punkt: „Es sei eben kein Betrug mehr, sobald ich es weiß.“ (Blumenberg 2019, S.174) – Dabei geht es nicht nur um diejenigen, von denen wir betrogen werden, sondern auch um uns selbst; denn es ist kein Betrug mehr, wenn wir um unseren Selbstbetrug wissen.

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Dienstag, 14. Januar 2020

Zwischeninformation zu meinen Offline-Plänen

Auf dem Weg in ein Offline-Leben hat mir Microsoft eine erste Hilfestellung gegeben: Windows 7 wird nicht mehr unterstützt. Einer meiner beiden Computer, mein Netbook, läuft auf Windows 7. Ich werde ihn jetzt vom Netz nehmen und nur noch offline benutzen. Ich brauche ihn noch zwei Jahre, weil darauf eine Anwendung läuft, die ich für meine Arbeitsstelle brauche und die auf Windows 8 nicht mehr funktioniert.

Sobald Windows 8 von Microsoft ausrangiert wird, werde ich auch meinen PC vom Netz nehmen. Ich werde dann künftig nur noch ein e-mail-Konto haben. Wie ich das mit einem offline-PC machen soll, weiß ich aber noch nicht. Zum Schreiben werde ich auf Hand und Maschine überwechseln.

Freitag, 10. Januar 2020

Entwicklung: Fortschritt oder Verfall?

Jürgen Habermas bekräftigt in „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) noch einmal seine schon in vorangegangenen Texten festgehaltene Position, daß es in der Kultur- und Denkgeschichte der Menschheit einen Lernprozeß gibt, den er zugleich als eine Fortschrittsgeschichte versteht. Diese Hauptthese wird von ihm selbst in drei Hinsichten aber gleich wieder eingeschränkt: zum einen beschränkt er sich bei seiner Darstellung auf den okzidentalen Bereich der menschlichen Kulturgeschichte, für den er sich als Experte für zuständig hält, während er die Geschichte der anderen Erdteile nicht gut genug kennt, um über deren Kulturgeschichte plausible Urteile fällen zu können.

Zugleich aber legt Habermas seine Kultur- und Denkgeschichte so tief an, daß er bis in die Altsteinzeit zurückgeht, für die er ebenfalls seinen Amateursstatus einbekennt. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S. 310 und S.351) Ich halte das deshalb für erwähnenswert, weil Habermas in den Expertendiskursen der Philosophie sonst nur „Peers“ zulassen will, jetzt aber nicht umhin kann, die Notwendigkeit zuzugeben, sich als Amateur zu wesentlichen Momenten der Menschheitsentwicklung zu äußern.

Auch zu den asiatischen Kultur- und Denkprozessen, auf die er kursorisch (in zwei Kapiteln) eingeht, um sie in ihrem Recht gelten lassen und den okzidentalen Weg genauer ausdifferenzieren zu können, nimmt Habermas als Amateur Stellung. Die wesentliche Differenz zwischen diesen globalen Teilprozessen sieht Habermas darin, daß die jüdisch-christliche Entwicklung den Willen Gottes und des Menschen ins Zentrum stellt, was zu einem Dualismus von gut und böse geführt hat, der bis heute das abendländische Denken prägt, während es Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus vor allem um die Erkenntnis des Seins und um dessen Überwindung geht, so daß die Vorstellung von einem radikal Bösen hier völlig fremd ist.

Habermas schränkt also den universellen Anspruch eines menschheitlichen Lern- und Fortschrittsprozesses hinsichtlich einer okzidental-europäischen und einer asiatischen Ausprägung des Vernunftbegriffs ein.

In einer zweiten Hinsicht verweist Habermas auf die „Kontingenzen“ in der angenommenen rationalen Kontinuität des menschheitlichen, auch die asiatischen Kulturen einbeziehenden Kultur- und Denkprozesses. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.71f.) An anderer Stelle spricht Habermas auch von der „unregelmäßige(n) Folge von kontingent ausgelösten Lernprozessen“. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.16) Es gibt also schon mal keine zwingende, stringent verlaufende Fortschrittsgeschichte. Zufälle spielen eine Rolle! Habermas spricht sogar im Rahmen dieses von Kontingenzen durchsetzten Fortschrittsprozesses von „Krisenphänomene(n) eines Zerfalls der Solidarität“! (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.39; Hervorhebung – DZ) Die angebliche Fortschrittsgeschichte wird also von einer Verfallsgeschichte begleitet.

In einer dritten Hinsicht verweist Habermas auf das mit dem Fortschritt einhergehende Komplexitätsproblem, das sich der Steuerung durch den Menschen entzieht. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.72) Längst steuert nicht mehr der Mensch den von ihm begonnenen Entwicklungsprozeß, sondern die Technik bzw. die Technologie steuert die Entwicklung des Menschen, der die von ihm hervorgebrachte Komplexität nicht mehr durchschaut. Die Naturwüchsigkeit ist auf die Seite der Technik gewechselt, von der wir längst genauso abhängig geworden sind wie ehedem von der Natur.

Deshalb spricht Habermas in seinem neuen Buch auch nicht mehr pauschal von Lern- und Fortschrittsprozessen schlechthin, sondern von „intrinsisch“, „intern“ bzw. „immanent“ als Fortschritt wahrgenommenen Lern- und Fortschrittsprozessen. Es hängt also von der subjektiven Perspektive der Beteiligten und Betroffenen ab, ob von ‚Fortschritt‘ oder von ‚Verfall‘ gesprochen wird. So kritisiert Habermas auch die Kritiker der technischen Zivilisation, daß sie die „Sicht der Selbstbeschreibung der Moderne“, die die Resultate der technischen Revolution als „Errungenschaften“ wahrnimmt, nicht berücksichtigen. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.64)

Letztlich gesteht Habermas also implizit ein, daß es keine objektiven Gründe gibt, die technische Zivilisation als Fortschritt zu begreifen. Die Gründe für die Ablösung einer geschichtlichen Epoche durch eine andere gelten nur intern, also perspektivisch, für die, die diese Ablösung bzw. „Revision“ (der bisherigen Kulturgeschichte als Irrtumsgeschichte), wie Habermas schreibt, herbeiführen: die „Revision von Irrtümern“ bedürfe – so Habermas – „keiner anderen Begründung ... als der Gründe, die zu dieser Revision selbst geführt haben“. (Vgl. Habermas 2020, 1.Bd., S.67) – Damit haben wir es aber mit einer völligen Entkopplung des Zusammenhangs von Epochen zu tun: jede neue Epoche kann sich selbst neu begründen, ohne sich um die bisher geltenden Gründe kümmern zu müssen. Wie kann man da noch von einer Lern- und Fortschrittsgeschichte des kulturellen Denkens sprechen?

Meiner Ansicht nach verbietet es sich nach dem Holocaust überhaupt, von einer menschheitlichen und erst recht von einer okzidental-europäischen Fortschrittsgeschichte zu sprechen. Es bedarf allererst einer anthropologischen Reflexion, die einen realistischen Blick auf die Natur des Menschen wirft; und zwar ohne auf die Differenz von gut und böse zurückzugreifen, wie ich hervorheben möchte! Dazu gehört immer die Berücksichtigung dreier Entwicklungsprozesse, die nicht miteinander harmonieren, sondern antagonistisch zueinander verlaufen: die Biologie, die Kultur und das Individuum, das sich auf der Grenze zwischen den ersten beiden bewegt. Wenn sich hier etwas bildet – Habermas spricht auch von kulturellen Bildungsprozessen –, dann das Individuum, das im Laufe seines Lebens etwas aus sich macht.

Nun ist aber das Individuum sterblich, und es werden ständig neue Individuen geboren. Der Tod bricht also individuelle Entwicklungsprozesse abrupt ab, die dann mit den neu geborenen Individuen wieder von vorne, bei Null, anfangen. Auf dieser Basis kann von nachhaltigen Lern- und Forschrittsprozessen im kulturellen Denken – trotz aller kultursichernden Maßnahmen auf gesellschaftlicher (Institutionen) und individueller (Erziehung) Ebene – keine Rede sein. Die historische Erfahrung lehrt: Kulturen sind äußerst fragil und in ihrem Bestand befristet. Und das umso mehr je elaborierter sie in ihren Sitten und Technologien sind.

Tatsächlich spricht auch Habermas von der Notwendigkeit einer anthropologischen Differenzierung von Entwicklungsprozessen. Dabei spricht er aber vor allem von der biologischen und der sozialen Evolution, die er nicht in ihrer Gleichzeitigkeit aufeinander bezieht, sondern hintereinander ordnet, in dem Sinne, daß die biologische Evolution von der sozialen Evolution abgelöst wird, also ihre Relevanz für die Menschheitsentwicklung verliert:
„Die Hominisation lässt sich so beschreiben, dass mit zunehmender Größe des Gehirns kulturelle Lernprozesse die erheblich langsameren biologischen Entwicklungen zunächst ergänzt und dann abgelöst haben.“ (Habermas 2019, 1.Bd., S.227)
Die biologische Evolution spielt also keine Rolle mehr und die zwischen Geburt und Tod verlaufende, auf der Grenze zwischen Biologie und Kultur sich bewegende individuelle Entwicklungsebene nur eine dem gesellschaftlichen Kollektiv untergeordnete Rolle, so daß wir es bei Habermas letztlich nur noch mit der kulturell-gesellschaftlichen Entwicklungsebene zu tun haben:
„Jedes vergesellschaftete Individuum erfährt im Vollzug der Initiation immer wieder, dass es seine Identität als einzelner nur in und zusammen mit dem sozialen Netzwerk der reziproken Anerkennungsbeziehungen eines Kollektivs erhalten kann.“ (Habermas 2019, 1.Bd., S.220)
Mit dem Bezug auf die enorme Relevanz von Initiationsriten für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bringt Habermas das ‚Kunststück‘ zustande, gleichzeitig auf die enorme Bedeutung des Generationenwechsels für die Gesellschaft zu verweisen und die Bedeutung der individuellen Entwicklungsebene im Gesamtzusammenhang der kulturell-menschheitlichen Lern- und Fortschrittsgeschichte zwar nicht direkt zu leugnen, aber doch im wesentlichen zu entwichten.

Habermasens Mißachtung individueller Bildungsprozesse hat viel mit seiner Sprachphilosophie zu tun. Kommunikation ist seiner Ansicht nach nur möglich auf der Basis des gemeinsamen Verstehens von bedeutungsidentischen Symbolen. Ich will jetzt nicht im Detail auf Habermasens Verständnis von narrativ verfaßten Mythen und dogmatisch verfaßten Religionsgemeinschaften eingehen, das sich diametral von Hans Blumenberg unterscheidet. Das Dogmatische wertet Habermas als Fortschritt gegenüber dem Narrativen. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.193, 220 u.ö.) Ich will nur kurz die Bedeutung dieser Auffassung von Kommunikation auf der Basis von bedeutungsidentischen Symbolen für die Mißachtung der individuellen Entwicklungsebene erläutern.

Habermas hat kein Gespür für die Funktion von Metaphern für das menschliche Denken und Sprechen, wie sie Hans Blumenberg beschrieben hat. Metapher und Mythos bilden bei Blumenberg einen engen Zusammenhang. Der Mythos steht am Anfang der Menschheitsentwicklung. Er funktioniert im Wesentlichen metonymisch und metaphorisch, und aus dieser Funktionsweise gehen Denken und Sprechen hervor. Oder anders: mit dieser Funktionsweise gehen Denken und Sprechen einher, ohne daß diese sie jemals überwinden könnten. Denken und Sprechen sind nach wie vor, auch heute noch, notwendigerweise in die Lebenswelt eingebettet, und die Lebenswelt ist der fortexistierende Mythos.

Deshalb gibt es auch keine Bedeutungsidentität in der menschlichen Sprache. Mit der Bedeutungsspannbreite von Wörtern, Sätzen und Texten hängt ja auch das Übersetzungsproblem in der Literatur zusammen. Bedeutungsidentität gibt es nur in der Mathematik und, zumindestens dem Anspruch nach – man denke an die Differenz zwischen ‚junge Frau‘ und ‚Jungfrau‘ –, im Dogma. Das Dogma bildet keinen Fortschritt gegenüber dem Mythos, sondern es ist eine spezielle und sehr begrenzte Denkweise. Bei Mythos und Metapher haben wir es mit einer anthropologischen Struktur zu tun. Es gibt keine Entwicklung auf dieser Ebene!

Aber es gibt eine individuelle und gesellschaftliche Ausdifferenzierung des Umgangs mit dieser Ebene, wie sie Blumenberg in „Arbeit am Mythos“ (1979) beschrieben hat. Und nur der individuelle Bildungsprozeß im Umgang mit dieser anthropologischen Ebene beinhaltet einen Lernprozeß, der sich zwischen Geburt und Tod erstreckt. Der gesellschaftliche Umgang ist je nach kultureller Epoche kontingent unterschiedlich. Hier kann von einer kontinuierlichen, also bildenden Entwicklung keine Rede sein.

Unter der Vorgabe eines bedeutungsidentischen, Individuen von vornherein, bevor sie als Individuen in Erscheinung treten, vergesellschaftenden Symbolismusses, kann es aber keine eigenständige individuelle Entwicklungsebene geben. An diesem blinden Fleck krankt Habermasens Rekonstruktion einer das ganze menschheitliche Denken umfassenden Lern- und Fortschrittsgeschichte.

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Mittwoch, 1. Januar 2020

Parabel

Ein Bogenschütze schießt niemals direkt auf sein Ziel. Er zielt immer etwas höher und ein bißchen daneben. Den Rest erledigen die Schwerkraft und der Wind.