„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 18. Januar 2020

Fortschritt und Beschleunigung

Im Rahmen der Fortschrittserzählung, die Habermas mit seinem Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) vorgelegt hat, gesteht er durchaus ein, daß mit diesem Fortschritt, den er mit dem Neolithikum vor 12.000 Jahren beginnen läßt, auch Kollateralschäden einhergehen. So spricht er von den „sich fortgesetzt umwälzende(n) Lebensverhältnissen“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.119), vom Klimawandel und von risikoreichen Großtechnologien, von den „Folgen des finanzgetriebenen Kapitalismus“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.124), und dann noch einmal von der „unaufhaltsame(n) Umwälzung der alltäglichen Lebensverhältnisse“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.145)

Als einen weiteren beklagenswerten Nebeneffekt des menschheitlichen Lern- und Fortschrittsprozesses nennt Habermas den „Zerfall() der Solidarität“. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.39). Zur Revitalisierung dieser verbrauchten Ressource schlägt Habermas allen Ernstes den Rückgriff auf Riten vor, wie sie dereinst in frühmenschlichen Initiations- und Opferriten präfiguriert worden waren; gewissermaßen als Therapie der durch den Fortschrittsprozeß verursachten Traumata. Thomas Mann läßt in „Doktor Faustus“ Serenus Zeitblom vor der Gefahr der „Erneuerung kultischer Musik aus profaner Zeit“ warnen. Diese Warnung hätte sich Habermas zu Herzen nehmen sollen. Kein Ritus, kein Kultus vermag die Dehumanisierung des Menschen durch sein eigenes Werk zu verhindern. Am Ende verstärkt der Ritus sogar noch die technologische Barbarei, so wie im Nationalsozialismus, den Zeitblom bei seiner Warnung vor Augen gehabt hatte.

Die Nähe von vorsprachlichem Ritus und Unvernunft liegt auf der Hand, und was die Unvernunft betrifft gesteht Habermas, daß wir es hier mit einem Desiderat zu tun haben: die bisherigen Analysen historischer Prozesse, so Habermas, haben das „Thema der Unvernunft in der Geschichte“ vernachlässigt. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.174) Statt aber nun das Verhältnis von Ritus, Vernunft und Unvernunft zu erörtern, bekennt sich Habermas bedenkenlos dazu, daß auch er selbst darauf in seinem Buch nicht weiter eingehen wolle. Letztlich ist es genau dieser blinde Fleck seines Buches, der seiner ganzen Lern- und Fortschrittsgeschichte die Plausibilität nimmt.

Sein Bedauern angesichts der fortwährenden Umwälzungen der menschlichen Lebensverhältnisse ist irgendwie nicht ganz ehrlich; denn tatsächlich kann es ihm mit diesen Umwälzungen gar nicht schnell genug gehen. So beklagt Habermas an einer Stelle ausdrücklich die Beschleunigung zunehmender Komplexitäten (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.72), aber dann an anderer Stelle beschreibt er sie als ein Merkmal der Achsenzeit, wo Habermas affirmativ von der seitdem beschleunigten „Rotation der Weltgeschichte“ spricht (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.177). Von einer Kritik ist an dieser Stelle nichts mehr zu erkennen.

Auch hier macht sich bei Habermas die fehlende Differenzierung zwischen biologischen und kulturell-gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen bemerkbar. Habermas setzt die kulturelle Evolution mit der biologischen Evolution umstandslos gleich, so daß bei ihm beide nicht etwa miteinander konfligierend nebeneinanderher verlaufen, sondern die kulturelle Ebene die biologische Ebene ablöst und außer Kraft setzt. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.227)

Besonders eindrücklich wird diese Beschleunigung am Beispiel der Reproduktionsindustrie. Goethe läßt in seinem „Faust“ den künstlich erschaffenen Homunkulus wieder ins Meer zurückkehren, weil alles Leben Zeit braucht, um sich zu entwickeln! – Und die Zeit, die alles Leben braucht, ist die biologische Zeit, die sich über Jahrhunderttausende und Jahrmillionen erstreckt. Nun will aber gerade die Reproduktionsindustrie diese biologischen Prozesse beschleunigen, also durch gesellschaftlich-technologische Zeit ersetzen. Durch Eingriffe in die Keimbahn wird die biologische Zeit außer Kraft gesetzt. Es ist dem homo sapiens wohl kaum zuzutrauen, daß er über die Weisheit der biologischen Natur verfügt, den Stoffwechselhaushalt des menschlichen Körpers auf genetischer Ebene so fein auszutarieren, daß die Schaffung neuer erwünschter Merkmale und die Ausmerzung unerwünschter Merkmale in der Produktion von Menschen nicht abermals, andernorts überall in unserer technischen Lebenswelt längst zu beobachtende irreparable Schäden hervorruft.

Habermas verhält sich, wie Walter Benjamin es in seiner Parabel vom Engel der Geschichte beschreibt: er schaut nach vorne und sieht, wie sich eine Begebenheit an die andere in die Zukunft hinein reiht, die Habermas alle als Innovationen beschreibt, während der Engel nach hinten in die Vergangenheit schaut und schon jetzt sieht, als was sich diese angeblichen Innovationen tatsächlich erweisen werden: als künftige Trümmer und Ruinen in einer verwüsteten Landschaft.

PS (14. Dezember 2020):
Daß Habermas die ‚Unvernunft‘ in seiner Fortschrittsgeschichte nicht berücksichtigen will, impliziert immerhin das Eingeständnis, daß es eine solche gibt. Dieses Eingeständnis verbirgt allerdings, daß diese Fortschrittsgeschichte selbst wesentlich etwas mit dieser Unvernunft zu tun haben könnte. In meiner aktuellen Lektüre, „Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie“ (2011) von Carola Meier-Seethaler, beschreibt die Autorin, wie der Wechsel vom Matrizentrismus zum Patriarchat zur Etablierung einer ‚Kultur‘ der fortschreitenden Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen durch eine ihr destruktives Potential fortwährend steigernde Technologie, wie wir sie heute vor Augen haben, geführt hat.
Im Titel des Buches steht „Ursprünge“ für den „Beginn unserer heutigen Kulturbasis“, also für das Patriarchat, mit dem ein „tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel“ einhergegangen ist. (Vgl. CMS 2011, S.27) Dabei ist das Patriarchat in seinen Ursprüngen motiviert durch die biologische „Outsiderposition“ des Mannes, nämlich nicht gebären zu können. Viele Jahrzehntausende, Jahrhunderttausende, je nachdem wie weit man den homo sapiens zurückdatiert, war den Menschen nicht bewußt, daß der Mann zum Zeugungsakt eines Kindes was beitrug. Die Rolle des Vaters hatte immer der Bruder der Mutter inne. Diese Unkenntnis war auch durch eine „Ovulationshemmung“, die es heute nicht mehr gibt, während der drei- bis vierjährigen Stillzeit bedingt, in der die Mutter Sex haben konnte, aber nicht ‚befruchtet‘ werden konnte. ‚Befruchtung‘ ist übrigens wieder so ein verfälschender Terminus, weil die ‚Frucht‘ ja nicht vom Mann stammt, sondern von der Frau.
Als dann über die Viehzucht im Neolithikum der Beitrag des Mannes erkannt wurde, begannen die Männer diesen ‚Zeugungsakt‘ so zu überhöhen, daß sie auf lange Sicht, also im Verlauf von mehreren Jahrtausenden, allmählich die matrizentrische Kultur verdrängten und, vor allem in den letzten drei- bis viertausend Jahren, ihre ‚Minderwertigkeit‘ hinsichtlich der Gebärfunktion mit Hilfe des Patriarchats überkompensierten. Zu diesem Patriarchat gehören notwendigerweise Kriege und die zunehmende Zerstörung der planetaren und humanitären Ressourcen. Meier-Seethaler spricht von den vier Säulen des Patriarchats: Mord, Raub, Vergewaltigung und Lüge. Mit Blick auf das aktuelle Verhalten eines scheidenden US-Präsidenten kann es da nicht verwundern, daß dessen Lügenexzesse von einem großen Teil der US-amerikanischen Wählerschaft goutiert werden. Er macht genau das, was von ihm in einer patriarchalen Gesellschaft erwartet wird.
So viel zu den ‚Ursprüngen‘. Was die „Befreiungen“ betrifft, geht es der Autorin um eine gleichzeitig gesellschaftliche wie individuelle „Befreiung zur Partnerschaft“, in der sich die „Fragen der Sexualität ebenso neu zu stellen haben, wie die Frage nach der Ehe oder anderen dauerhaften Gemeinschaften“. (Vgl. CMS 2011, S.34) Dabei ist Meier-Seethaler zwar Feministin, aber sie hält nach wie vor an der verschiedenartigen Körperlichkeit von Männern und Frauen fest. Männer können eben nicht Kinder gebären; das macht auch psychologisch einen Unterschied. Letztlich gibt es der Autorin zufolge nur eine Ebene, auf der Frauen und Männer ursprünglich gleich sind: im „Überlebenskampf in der Natur“ und in ihrer „existenziellen Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen“: „Dabei waren weder die psychischen Schöpfungen von Mythos und Kult noch die materiellen Kulturinnovationen dem männlichen Geschlecht vorbehalten, vielmehr spricht alles dafür, dass sowohl im sozialen wie im kulturellen Bereich zunächst ein Ungleichgewicht zugunsten der Frau bestanden hat, was zu vielschichtigen Kompensationen auf der Seite des Mannes führte.“ (CMS 2011, S.30f.)
Was die „Befreiungen“ betrifft, im Sinne einer Partnerschaft auf Augenhöhe, spricht Meier-Seethaler im Plural, also von einer Vielzahl individueller Befreiungen in den Paarbeziehungen, zu denen zwar ein unterstützendes, nicht mehr patriarchales gesellschaftliches Milieu gehört, das aber nicht als ein Zwangskollektivismus verstanden werden darf. Die Beziehungsarbeit ist zu einem großen Teil eine individuelle. So verstehe ich die Autorin jedenfalls.
Mich spricht Meier-Seethalers kulturtheoretische Analyse an. Sie entspricht meiner eigenen psychischen Verfassung; meinem Offline-Projekt, meinem Begehren eine andere Gestalt zu geben. Habermasens Fortschrittsgeschichte krankt daran, daß er die Unvernunft in der Vernunft nicht thematisieren will. Er bleibt weitgehend blind für das destruktive Potential einer patriarchal deformierten Wissenschaftlichkeit, die alles Subjektive und Emotionale aus ihrem Horizont ausblendet. Nur so kann sich diese Fortschrittsgeschichte als Fortschritt bis heute behaupten; eine kleine Weile noch.

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