„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 13. Januar 2019

Aufgeklärter Humanismus

Vorblick auf meine Rezension zu Markus Gabriel: „Der Sinn des Denkens“ (2018)


Ich lese gerade „Der Sinn des Denkens“ (2018) von Markus Gabriel, ein Buch, dessen Besprechung ich in meinem Erkenntnisethik-Blog für Anfang Juli vorgesehen habe. Markus Gabriel ist einer der wenigen zeitgenössischen Denker, die für einen „zeitgemäßen, aufgeklärten Humanismus“ eintreten. Gabriel bezeichnet den grassierenden Naturalismus in allen Wissenschaftsbereichen, bis hinein in weite Teile der Geisteswissenschaften, als eine „gefährliche Verblendung“, die verantwortlich ist für die „Lüge vom postfaktischen Zeitalter“ und dafür, daß wir „uns eher früher als später selber zerstören (werden)“. (Vgl. Gabriel 2018, S.14 und S.316)

Mit vielen, sogar den meisten Behauptungen von Gabriel, insbesondere zum Humanismus und zur Kritik des Post- und Transhumanismusses, aber auch zum Neurozentrismus, zur KI-Forschung und nicht zuletzt mit seiner Distanzierung Martin Heidegger gegenüber, stimme ich überein. Ich bin überaus dankbar für Gabriels klare Positionierung, für seine deutlichen Worte, denn ich fühlte mich allmählich mit meiner eigenen technologiekritischen Quertreiberei schon so ziemlich neben der Spur.

Aber mit fast ebenso vielen von Gabriels Argumenten stimme ich nicht überein. Das liegt zum großen Teil daran, daß das ‚Denken‘ im kartesianischen „cogito“ eine große Spannweite an Bedeutungen hat. Mathematik und Gefühle gehören gleichermaßen zum „cogito“. Vgl. Gabriel 2018, S.261) Trotzdem ist Descartes Dualist und wertet den Körper gegenüber dem Geist ab. Gabriel übernimmt die Spannweite des kartesianischen „cogito“, setzt aber dann seinen Begriff des Gedankens mit dem Begriff der Information gleich (vgl. Gabriel 2018, S.35, S.84 und S.270f.) und setzt damit, gegen seinen Willen!, die kartesianische Abwertung des Körperlichen fort.

Es gibt einen fundamentalen, sich wechselseitig ausschließenden Unterschied zwischen Informationen und Gefühlen: Informationen sind mathematische Konstrukte und basieren auf präzisen, gleichbleibend gültigen Definitionen, während Gefühle immer mehrdeutig und wechselhaft sind. Gefühle sind keine Informationen! Das ist der Grund, warum Maschinen Informationen verarbeiten können. Mit Gefühlen könnten sie einfach nichts anfangen. Wenn Gedanken also Informationen sind, können sie keine Gefühle sein. Letztlich gehören also die Gefühle zu den „Nichtgedanken“, über die man Gabriel zufolge als Philosoph nicht nachdenken sollte. (Vgl. Gabriel 2018, S.306)

Gabriel versäumt es, den Zusammenhang von Gedanken und Gefühlen, von Gedanken und Nicht-Gedanken zu klären. So kommt es zu solch seltsamen, dezisionistisch anmutenden Festlegungen, daß es die Welt nicht gibt, daß es aber die Wahrheit gibt. (Vgl. Gabriel 2018, S.12 und S.15) Wer nur ein wenig über Gefühle und ihre Funktion für das menschliche Bewußtsein nachgedacht hat, wird sich, was die Wahrheit betrifft, kaum zu einer so starken Behauptung versteigen. Es mag wahre Sachverhalte geben; aber das heißt noch lange nicht, daß es die Wahrheit ‚gibt‘. Schon gar nicht, wenn es angeblich keine Welt ‚geben‘ soll; eine Vorstellung, von derem Gegenteil ich übrigens überzeugt bin, nämlich daß es sie gibt, die Welt, und zwar als ein Ganzes aus Horizonten, als Verweisungszusammenhang. Und sie ist der Ort all dessen, was irgendwie wirklich und insofern ‚wahr‘ ist. An dieser Stelle möchte ich vor allem eins festhalten: Was immer die Welt ist oder auch nicht ist – sie ist jedenfalls nicht der Ort der Wahrheit; so wenig wie die Wahrheit die Summe alles dessen ist, was wahr ist.

Am Ende versteht auch Gabriel, trotz seines Neuen Realismusses, das Denken als künstliche Intelligenz. (Vgl. Gabriel 2018, S.19 und S.309ff.) Was zunächst ein bedauerlicher Selbstwiderspruch zu sein scheint; denn eigentlich hatte Gabriel zeigen wollen, daß „unser Denken“ eben kein „Vorgang der Informationsverarbeitung“ sei. (Vgl. Gabriel 2018, S.19) An anderer Stelle wird diese Stellungnahme schon etwas eingeschränkt, insofern Gabriel festhält, daß das Denken (bzw. unsere Gedanken) keine „Form der Informationsverarbeitung“ sei, „die man physikalisch messen könnte“. (Vgl. Gabriel 2018, S.31) – Also bildet es durchaus eine Form der Informationsverarbeitung, nur eben keine physikalisch meßbare.

Aufgrund der Spannweite des kartesianischen „cogito“ ist Gabriels aufgeklärter Humanismus nicht zuendegedacht. Auch Gabriel unterliegt noch einem unaufgeklärten informationstechnologischen Konstruktivismus, einem Konstruktivismus also, den Gabriel mit seinem Neuen Realismus überwunden zu haben glaubt: „Erlauben Sie mir kurz, mein Mantra des Neuen Realismus hier zu wiederholen: Der Konstruktivismus ist falsch.()“ (Gabriel 2018, S.64)

Wenn Gedanken Informationen sind, dann ist Denken natürlich Informationsverarbeitung und deshalb, darin zumindest liegt eine gewisse Folgerichtigkeit, eine Form künstlicher Intelligenz. So bleibt es nicht aus, daß Gabriel seinen vermeintlichen Selbstwiderspruch auflöst, indem er die ursprünglich als „erste Hauptthese“ eingeführte Behauptung (vgl. Gabriel 2018, S.19) wieder zurücknimmt und Gottlob Frege, Bertrand Russel und Alfred North Whitehead als Denker würdigt, die den Weg dafür bereitet haben, daß das „Denken als die Verarbeitung von wirklich existierenden Informationen begriffen“ werden könne. (Vgl. Gabriel 2018, S.84)

Letztlich aber erweist sich sogar die gegen das Modell der Informationsverarbeitung gerichtete Hauptthese selbst schon als eingeschränkt; denn auch dort hatte Gabriel nur von einer Informationsverarbeitung gesprochen, die „sich im Wesentlichen in Silizium oder irgendeiner anderen nicht lebendigen Materie nachbauen lässt“. (Vgl. Gabriel 2018, S.19)

Im Namen meiner menschlichen Intelligenz erlaube ich mir deshalb an dieser Stelle eine direkt an Markus Gabriel gerichtete Bemerkung:
Lieber Herr Gabriel,
ich mache mein Denken nicht. Es geschieht einfach.
M.I.
(Menschliche Intelligenz)
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Samstag, 5. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

In diesem Blog vertrete ich seit dem ersten Blogpost vom 01.04.2010 die Auffassung, daß man den Menschen niemals nur aus einer Perspektive heraus verstehen kann und daß weder starre Formeln noch Wesensdefinitionen gehaltvolle Aussagen über unsere Menschlichkeit beinhalten können. Stattdessen müssen wir den Menschen als einen Anachronismus aus drei verschiedenen Entwicklungsprozessen begreifen: biologisch, kulturell und individuell. In diesem Sinne argumentiert auch Siri Husvedt, wenn sie festhält, daß Entwicklungspsychologen immer nur „Umwelt“ und „Vererbung“ fokussieren:
„Die individuelle Entwicklung wird meistens ausgespart.“ (Hustvedt 2018, S.346)
Hustvedt bezeichnet dieses Vorgehen als „binäre(s) Programm“, weil es verhindert, „dass all die Veränderungen, die zwischen Geburt und dem Moment, in dem ein Mensch als Zahl in einer Statistik auftaucht, in den Blick rücken“:
„Statistisch ist das zweckmäßig. Eine Ziffer am einen oder anderen Ende der Skala ersetzt eine ganze Entwicklungsgeschichte.“ (Hustvedt 2018, S.347)
Auch Fabrizio Benedetti, der zu Placebo-Effeken geforscht hat und auf das Zusammenwirken von individuellen, biologischen und sozialen Faktoren hingewiesen hat, bringt uns hier Hustvedt zufolge mit seiner „‚biopsychosoziale(n)‘ Herangehensweise“ nicht weiter:
„Wenn das Biologische dem Wesen nach tatsächlich sozial und das ‚Psyche‘ Genannte ein dynamisches biologisches Phänomen ist, das sich im Zusammenleben mit anderen herausbildet und durch den Gebrauch der Sprache immer vielschichtiger wird, dann erhält auch dieser Begriff womöglich eine Trennung aufrecht, die kontraproduktiv ist.“ (Hustvedt 2018, S.371)
Siri Hustvedt verweist auf den Umstand, daß im Begriff des ‚Biopsychosozialen“ der genaue Zusammenhang zwischen den drei Ebenen ungeklärt bleiben. Die verschiedenen Ebenen „schweben“ vielmehr „unverbunden übereinander“ (vgl. Hustvedt 2018, S.371):
„Die Frage bleibt, wann und wie aus Kultur Biologie wird. Radikal zugespitzt lautet sie: Inwiefern können biologische Tatsachen kulturell bedingt sein? Oder vielleicht besser: Wie verkörpern sich Vorstellungen?“ (Hustvedt 2018, S.137)
Mit der letzten Frage nach der „Verkörperung“ von Vorstellungen richtet sich der Fokus auf den individuellen, spätestens mit der Geburt beginnenden Entwicklungsprozeß und auf seine Funktion im anachronistischen Dreiklang aus Biologie, Sozialität und Individualität. Hustvedt nennt das wesentliche Moment, das den Zusammenhang zwischen den drei Entwicklungsprozessen ermöglicht, Narrativität. Es geht darum, daß Individuen eine Lebens-Geschichte haben, d.h. daß sie auf je verschiedene Weise den Zusammenhang zwischen den drei Entwicklungsprozessen narrativ organisieren, und das als zentrale Funktion der sinnsuchenden und sinnstiftenden Individuen selbst. Es geht darum sich die eigene Geschichte „als eine Geschichte zu erzählen“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.346)

Diese Geschichte und das Erzählsubjekt bilden aber keine isolierten Monaden. Denn dann könnten sie ihre Funktion, die unverbunden ‚übereinander schwebenden‘ Entwicklungsprozesse aus Biologie, Sozialität und Individualität miteinander zu ‚vernähen‘, nicht erfüllen. Das Erzählsubjekt ist intersubjektiv, was die subjektive Perspektive nicht verschleiert, sondern allererst ermöglicht:
„Auch mein Geschlecht, meine Rasse, mein Alter, mein sexuelles Begehren und meine individuellen Gewohnheiten, die Sprache, die ich spreche, und meine früheren Erfahrungen, das alles beeinflusst meine Sicht der Dinge. Die Welt zeigt sich mir von meiner Warte aus, aber diese Perspektive wurde nicht allein von mir geformt. Sie ist abhängig von anderen Menschen und tief mit ihnen verwoben. Sie ist nicht bloß subjektiv, sie ist intersubjektiv.“ (Hustvedt 2018, S.327)
Die individuelle Erzählperspektive ist gleichermaßen persönlich, bewußt und unbewußt, „ein Narrativ, das bei den vorsprachlichen Rhythmen und Mustern aus frühesten Tagen einsetzt, welche untrennbar mit anderen Menschen verknüpft sind, mit jenen ersten Bindungsfiguren, die die Ausformung unserer sinnlichen, muskulären und emotionalen Rhythmen damals prägten, auf denen wiederum die später ausformulierten Erzählstränge beruhen, die den Bogen unserer je einzigartigen Existenz symbolisch aufspannen – weil das so ist, sind wir alle immer schon eng mit der Welt der anderen verwoben“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.376)

Damit ist auch Hustvedts Frage nach der „Grenze des Individuums zu dem, was außerhalb von ihm oder ihr liegt“, beantwortet: sie verläuft durch das Individuum hindurch, und sie ist so beweglich und wandelbar wie dessen individuelle Lebensgeschichte. Diese Beweglichkeit der Grenze zwischen Innen und Außen findet ihren je individuellen Ausdruck in der Kinästhetik des Mensch-Weltverhältnisses und in den physiologischen „Anpassungsleistungen des Organismus“ (Hustvedt 2018, S.309), die alle unsere Sinneswahrnehmungen und inneren Empfindungen ununterbrochen begleiten und unterstützen und nicht auf einzelne Aktivitäten des Gehirns begrenzbar sind.

Plessner bezeichnet das als Körperleib. Wenn ich dieses ‚Zusammenspiel‘ aus Biologie, Sozialität und Individualität als anachronistisch bezeichne, versuche ich damit den Umstand zu berücksichtigen, daß dem individuellen Zentrum dieses dreifachen Prozesses weder eine formalisierbare Struktur noch ein Wesen zugrundeliegt. ‚Anachronistisch‘ meint hier Plessners ‚exzentrisch positioniert‘, nämlich auf der Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Biologie, Sozialität und Individualität.

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Freitag, 4. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

Um ‚Sprachen‘ zu entwickeln, die auch Maschinen ‚verstehen‘, müssen die Symbole von allen Nebenbedeutungen gereinigt werden. In der Logik hat das eine lange Tradition:
„Seit der Antike versuchten Logiker, symbolische Zeichen von ihrem Bedeutungsgehalt zu lösen, um die grundlegenden Muster oder Gesetze des menschlichen Verstands zu erkennen.“ (Hustvedt 2018, S.187)
Der Logiker unterstellt also, daß der „Bedeutungsgehalt“ der Sprache etwas ist, das nicht zur eigentlichen Struktur des menschlichen Verstandes gehört. Dabei wird aber schon das Wort ‚Symbol‘ sinnwidrig verwendet. Etymologisch bedeutet Symbol, daß verschiedene Bedeutungen in einem Zeichen ‚zusammengeworfen‘ werden. Wer also Symbole von ihren Nebenbedeutungen reinigen und sie auf eine feststehende, wohldefinierte Bedeutung festlegen will, hat es am Ende nicht mehr mit Symbolen zu tun, mit denen Menschen kommunizieren können, sondern mit mathematischen Zeichen, mit denen Algorithmen entwickelt werden können, mit deren Hilfe Maschinen kommunizieren können. An die Stelle des Begriffs der Bedeutung tritt der Begriff der Information. Hustvedt zitiert die us-amerikanische Literaturkritikerin N. Katherine Hayles:
„Shannon und Wiener definierten Information dergestalt, dass sie stets als gleichbleibender Wert auftrat, unabhängig von den Kontexten, in die sie eingebettet war, d.h. sie wurde von ihrem Bedeutungsgehalt losgelöst.“ (Zitiert nach Hustvedt 2018, S.186)
Obwohl wir es hier also nicht mehr mit Semantik zu tun haben, sprechen Kybernetiker und Künstliche-Intelligenzforscher weiterhin gerne von ‚Semantik‘ und bereiten so den Weg dafür, Maschinenintelligenz mit menschlichem Bewußtsein gleichzusetzen. Zugleich handeln sie sich damit aber das „Problem des Alltagswissens“ ein. Maschinensprachen, die auf der Basis von Algorithmen funktionieren, sind prinzipiell unfähig, menschliches Alltagswissen symbolisch zu repräsentieren. (Vgl. Hustvedt 2018, S.240) Zeichen, die keinerlei Nebenbedeutungen enthalten dürfen, weil sie von Maschinen sonst nicht mehr verstanden werden, können ein Alltagswissen, das wiederum prinzipiell mehrdeutig ist, symbolisch nicht erfassen. Das ist eine phänomenologische Grundeinsicht. Husserl bezeichnete es als „Lebenswelt“ bzw. als „Intersubjektivität“ und Merleau-Ponty als „Zwischenleiblichkeit“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.201ff.) In den Kognitionswissenschaften spricht man auch vom „Know-how“, also von einem „Erfahrungswissen“, weil es aus einem „unartikulierten, vorbegrifflichen Hintergrundwissen“ besteht, „das sich nicht digitalisieren lässt, weil es eine implizite körperliche Beziehung zu unserer Umwelt einschließt“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.240f.)

Die sprachlichen Symbole der menschlichen Kommunikation bilden also keine abstrakten mathematischen Symbole, wie sie in der Booleschen Algebra verwendet werden (vgl. Hustvedt 2018, S.187), sondern Metaphern, und zwar, wie Hustvedt festhält, sowohl auf mentaler wie auf körperlicher Ebene. Tatsächlich gibt es im Übergangsbereich zwischen Körper und Geist, nämlich in der sinnlichen Wahrnehmung, physiologische Prozesse, die an die Funktion von Metaphern erinnern. Hustvedt verweist auf die Synästhesie, wo verschiedene Sinnesbereiche miteinander verschmelzen, so daß Synästhetiker beispielsweise Musik gleichzeitig sehen und hören. (Vgl. Hustvedt 2018, S.208) In der Alltagssprache geht es ähnlich ‚bunt‘ zu:
„Metaphorische Wendungen überspringen ständig die Grenzen unserer Sinne. Ich ärgere mich schwarz. Hör doch diesen feinen, süßen Laut. Was für eine traurige Farbe, oder einige Zeilen der unnachahmlichen Emily Dickinson: ‚An solchem klaren steifen Abend‘, ‚ein grünes Frösteln überzog / Die Hitze schauerlich‘ und ‚Einen zarten Dufthauch haben sie / Der mir Metrum ist – nein – Melodie‘.()“ (Hustvedt 2018, S.208)
Ähnlich wie Plessner in seinem Buch „Lachen und Weinen“ (1941) beschreibt Hustwedt, wie belastende Situationen zu körperlichen Symptomen führen, die man als Metaphern für das Erlebte deuten kann:
„Es scheint zudem, dass manche Menschen, die unter großer emotionaler Anspannung stehen, ihren Körper unbewusst zum Vehikel einer Metapher werden lassen: Ich kann mit dem, was ich gesehen habe, nicht weiterleben. Nun bin ich blind.“ (Hustvedt 2018, S.367)
Metaphern gehören zu der Kategorie von Symbolen, die Maschinen niemals verstehen werden. Hinzu kommt, daß Hustvedt das Verstehen von Metaphern an der Bewegung im Raum festmacht. Entsprechend Simone de Beauvoirs von Merleau-Ponty beeinflußten Deutung des „Körpers als Situation“ (Hustvedt 2018, S.167) und mit Bezug auf Simone Weils Erläuterungen zu Stühlen, die zum Sitzen einladen, spricht Hustvedt davon, daß Wahrnehmung, Bewegung und Bedeutung einen engen, unauflösbaren Zusammenhang bilden:
„Dieser Gedanke (des einladenden Stuhls – DZ) ist dem, was J.J.Gibson, der nach Weil, aber zur selben Zeit wie Merleau-Ponty wirkte, als ‚Affordanz‘() oder Angebotscharakter bezeichnet, erstaunlich ähnlich.“ (Hustvedt 2018, S.305)
Am eigenen Beispiel hebt Hustvedt hervor, wie Bewegung das Denken unterstützen kann, wie ja auch das Umherschweifen in Wandelhallen ganzen Philosophierichtungen ihren Namen gegeben hat (Peripatetik, Stoa). So etwa wenn sie beschreibt, wie sie in einem Satz ‚steckengeblieben‘ ist und nicht mehr weiter weiß:
„Ich bewege mich, um Bewegung in den Satz zu bringen.“ (Hustvedt 2018, S.302)
Die Kinästhetik ist seit Husserl ein wichtiges Thema der Phänomenologie, und Hustvedt greift es auf, um es zu einem konstitutiven Moment der menschlichen Sprache zu erheben. Insofern stellt auch die Differenz zwischen Innen und Außen nicht einfach nur einen weiteren Dualismus dar, sondern eine Doppelaspektivität (Plessner), nämlich eine dynamische, also bewegliche Grenze, die die menschlichen Kinästhesen beim Denken und Sprechen ermöglicht:
„Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, insbesondere wenn ich ihn oder sie gerne mag, dann wirken Mimik und Gestik der anderen Person wie ein Spiegel, gleichzeitig beeinflussen sie aber meinen eigenen Gesichtsausdruck und die Gesten meiner Hände. Ohne nachzudenken stelle ich mich ein auf die Blicke und den Mund der Freundin, auf ihre Stimme und Modulation, und auf die Bedeutung der Wörter, die zwischen uns hin- und herwechseln. Ich weiß genau, dass ich nicht meine Freundin bin, aber der Blick von außen auf mich verliert sich. Ich beobachte mich beim Sprechen oder Gestikulieren nicht selbst, es sei denn, der Gesprächsfluss wird unterbrochen – zum Beispiel, weil mich die Freundin darauf aufmerksam macht, dass mir ein Fitzelchen Thunfisch zwischen den Zähnen hängt – und ich zum Spiegel muss, um das anstößige Teilchen zu entfernen.“ (Hustvedt 2018, S.329)
Diese Textstelle erinnert sehr an Plessners Anthropologien der „Nachahmung“ (1948) und des „Schauspielers“ (1948). Hustvedt zeichnet hier die subtile Wechselwirkung zwischen dem Äußeren der Freundin und dem eigenen Äußeren und den damit verbundenen Effekten auf die jeweilige innere Befindlichkeit nach. Es müßte eigentlich selbst für einen eingefleischten Computationalisten nachvollziebar sein, wie unendlich weit diese Art von Kommunikation von Maschinenkommunikation entfernt ist.

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Donnerstag, 3. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

Eine Frage wird in Siri Hustvedts Buch immer wieder hartnäckig wiederholt: Wie genau beeinflußt der ‚Geist‘, die ‚Kultur‘, die ‚Information‘ die Neuronen im Gehirn? Dabei deckt sie auf, daß die Terminologie, deren sich die Künstliche-Intelligenzforscher und die Neurowissenschaftler bedienen, einen erstaunlichen Mangel an präzisen Definitionen aufweist und von alltagssprachlichen Wendungen durchsetzt ist. Wenn etwa bei dissoziativen Persönlichkeitsstörungen von „physiologische(n) Unterschiede(n) zwischen der einen und der anderen Persönlichkeit“ die Rede ist, fragt Hustvedt nach, wie das „einzuordnen (ist) im Hinblick auf Körper und Geist – oder in diesem Fall mehrere Geister in einem Körper?“ (Vgl. Hustvedt 2018, S.135) – Oder wenn in der kognitiven Verhaltenstherapie positive Gedanken dazu beitragen sollen, den körperlichen Zustand von Patienten zu verbessern, weist Hustvedt darauf hin, daß hier implizit davon ausgegangen wird, daß Gedanken „etwas vom Körper Verschiedenes“ sind. (Vgl. Hustvedt 2018, S.36)

Selbst wenn Neurowissenschaftler den „psychosozialen Kontext“ in ihrem Forschungsdesign berücksichtigen und explizit von der „Körper-Geist-Einheit“ sprechen, bleibt die Frage nach dem genauen Verhältnis von Körper und Geist ungeklärt, und der Verdacht, daß auch hier von einem impliziten Dualismus ausgegangen werden muß, ist noch nicht ausgeräumt:
„Bestärkt oder unterläuft diese Wortbildung die Trennung von Körper und Geist? ... Lässt sich der geistige Stoff vom Körper-Stoff trennen, und wenn ja, wie können sie denn zusammenspielen?“ (Hustvedt 2018, S.124f.)
Drei Begriffe spielen hier auf problematische Weise ineinander und beeinflussen sich gegenseitig: der Begriff der Differenz, der binäre Code und der platonisch-cartesianische Dualismus von Körper und Geist. Der Begriff der Differenz spielt in der vom jungen Wittgenstein begründeten sprachanalytischen Tradition der angelsächsischen Philosophie eine zentrale Rolle. Inzwischen ist er zum postmodernen Dekonstruktivismus und zur feministischen Genderdebatte weitergewandert. Diese beiden Varianten des Dekonstruktivismusses diskutiert Hustvedt anhand des Buchs „Becoming Undone“ (2011) von Elisabeth Grosz, Professorin für Frauenstudien an der Duke University. (Vgl. Hustvedt 2018, S.175ff.) Auch hier beklagt Hustvedt das Fehlen von Definitionen:
„Bis zum Ende des Buchs erschließt sich mir nicht, was Grosz unter Natur und Biologie, diesen unendlich wandelbaren Begriffen, versteht, vielleicht, weil sie festlegende Definitionen bewusst vermeidet.“ (Hustvedt 2018, S.180)
Hustvedt verweist auf die prekäre Bedeutung von zwar undefinierten, aber dennoch starren, unbeweglichen Differenzen im Umkreis der Körper-Geist-Problematik. Solche Differenzen beinhalten immer eine dualistische Abwertung des einen Aspekts gegenüber dem anderen:
„Der Refrain Nur weil die Geschlechter grundsätzlich unterschiedlich sind, bedeutet das nicht, dass ein Geschlecht dem anderen überlegen wäre, ist heutzutage zwar in aller Munde, doch wir tun gut daran, diesem Refrain zu misstrauen.“ (Hustvedt 2018, S.177)
Das wäre der eigentliche Inhalt bzw. Zweck jeden Dualismusses: Abwertung bzw. Aufwertung eines Aspekts gegenüber dem anderen. Somit bestünde das eigentliche Dilemma „von Monismus und Dualismus“ (vgl. Hustvedt 2018, S.44) auch nicht darin, sich für das eine gegen das andere entscheiden zu müssen, sondern darin, daß Monismus und Dualismus dasselbe sind! Denn überall dort, wo Künstliche-Intelligenzforscher und Neurowissenschaftler behaupten, keine Dualisten zu sein, haben sie sich für eine Seite des Zusammenhangs von Körper und Geist, nämlich für die Information –, einer Variante des platonischen Geistes – entschieden und blenden die andere Seite, nämlich den Körper, aus. Dabei verwenden sie die beiden Begriffe weiter, denn in der grammatischen Struktur ihrer Forschungsdesigns müssen sie weiterhin Körper und Geist einander gegenüberstellen und syntaktisch miteinander verbinden: das Eine wirkt immer irgendwie auf das Andere ein! – Ihr scheinbarer naturalistischer Monismus bildet also tatsächlich einen verschleierten cartesianisch-platonischen Dualismus.

Zu diesem verschleierten Dualismus trägt auch der digitale Code des Computationalismusses bei. Seine binäre Struktur unterstützt das Differenzdenken, das nur noch schwarz/weiß aber keine Grautöne mehr kennt. Claude Levi-Strauss hatte schon auf die binäre Struktur des wilden Denkens der sogenannten Primitiven und deren Ähnlichkeit mit der heutigen Wissenschaft hingewiesen. Levi-Strauss war davon überzeugt gewesen, daß jede sprachliche Bedeutung aus der Setzung von Gegensätzen hervorgeht.

Hustvedt führt den Begriff des Binären auf die Macy-Konferenzen zwischen 1946 und 1953 unter der Schirmherrschaft von Josiah Macy zurück. (Vgl. Hustvedt 2018, S.231ff.) Auf diesen Macy-Konferenzen haben sich Kybernetiker um eine Definition des Begriffs ‚digital‘ und ‚analog‘ bemüht. Diese beiden Begriffe sollten den Unterschied zwischen ‚diskret‘ und ‚analog‘ bezeichnen. (Vgl. Hustvedt 2018, S.232) Der Begriff der Diskretion entspricht dem der Differenz und bezeichnet eine starre Lücke zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zuständen. Der Begriff des Analogen bezeichnet einen kontinuierlichen Prozeß, etwa das Fließen von Wasser.

Die Teilnehmer der Konferenzen waren sich Hustvedt zufolge alles andere als einig darüber, „was dieser Unterschied bedeutete“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.232) John von Neumann hielt fest:
„Der Gebrauch der Begriffe analogisch und digital ist in der Wissenschaft derzeit uneinheitlich. ... In fast allen Bereichen der Physik funktioniert die Wirklichkeit, auf die man sich bezieht, analog. Die digitale Methode ist ein menschliches Artefakt um der Beschreibung willen.“ (Zitiert nach Hustvedt 2018, S.233)
Man war sich damals also durchaus bewußt, daß man hier mit problematischen Begriffen hantierte, die die Wirklichkeit nicht abbildeten. Inzwischen aber ist der binäre Code, also das digitale Prinzip, zum Mainstream-Dogma erhoben worden:
„Die Form des Geistes wird auf die propositionale Logik (wahr/falsch – DZ) verkürzt. ... Der Grundgedanke ist, dass jeweils dasselbe Gesetz am Werk ist, dass die Physiologie und Psychologie des Menschen von einer universellen binären Wirklichkeit regiert werden.“ (Hustvedt 2018, S.223)
Der menschliche Organismus ist eine informationsverarbeitende Maschine und Nervenzellen funktionieren digital. – Basta!

Das Denken in binären Strukturen unterstützt also die Neigung des Menschen, in Gegensätzen zu denken und dabei immer eine Seite abzuwerten, was evolutionsgeschichtlich im Sinne einer Entscheidungshilfe möglicherweise durchaus nützlich gewesen sein mag. In der Wissenschaft sollte man sich aber dessen bewußt sein, daß die Wirklichkeit immer komplexer und auch fließender ist als ein Forschungsdesign. So viel Reflexionsbereitschaft sollte schon möglich sein.

Zum Schluß nochmal zum Dualismus von Außen und Innen, den Hustvedt ebenfalls zu den verschiedenen Varianten von Körper und Geist zählt. (Vgl. Hustvedt 2018, S.44) Wir kennen ihn in diesem Blog schon von Helmuth Plessner, der den Menschen exzentrisch zwischen Innen und Außen positioniert. Also auch hier ein weiterer Dualismus? – Eben nicht. Der Dualismus besteht in der Abwertung einer Seite. Plessner spricht aber lediglich von einer Änderung des Blickwinkels, der gegenüber der exzentrisch positionierte Mensch ‚neutral‘ ist. Der exzentrisch positionierte Mensch kann sich auf der Grenze zwischen Innen und Außen bewegen und muß deshalb keine propositionslogischen Wertungen vollziehen.

Ganz ähnlich definiert Hustvedt die kinästhetische Struktur des menschlichen Weltverhältnisses, also des menschlichen Verhältnisses zum Außen:
„Das menschliche Gehirn ist ein dynamisches Organ im Körper eines Individuums, der sich in ständiger Wechselwirkung befindet mit allem, was außerhalb dieses Körpers liegt.“ (Hustvedt 2018, S.79)
Darauf werde ich im folgenden Blogpost noch einmal näher eingehen.

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Mittwoch, 2. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

Zu Hustvedts Auseinandersetzung mit dem versteckten platonischen Dualismus der technologieorientierten Leitdisziplinen, der Evolutionspsychologie (vgl. Hustvedt 2018, S.44, 47, 86, 159, 163, 194u.ö.), der Künstlichen Intelligenzforschung (vgl. Hustvedt 2018, S.44, 186ff., 227, 232ff., 290ff.u.ö.) und der Neurowissenschaften (vgl. Hustvedt 2018, S.74ff., 198, 221ff., 334f., 358, 371u.ö) gehören über das ganze Buch verteilte, zum jeweiligen Anlaß passende Methodendiskussionen. Dabei legt Hustvedt ihre eigenen, aus der Literaturwissenschaft und ihrer schriftstellerischen Praxis herrührenden Präferenzen für die Phänomenologie und für die Psychoanalyse offen, „weil sich beide mit gelebter Erfahrung befassen“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.375)

Im Unterschied zu der im Mainstream der Lebens- und Menschenwissenschaften populären Beschränkung auf biologische und kulturelle bzw. soziale Entwicklungsprozesse, die darüber hinaus noch entweder einander binär entgegengesetzt werden – nature contra nurture, Anlage contra Umwelt – oder aber auf ein gemeinsames, aus den Informationswissenschaften stammendes computationalistisches Paradigma zurückgeführt werden, das einen neuen Dualismus der Loslösung des ‚Geistes‘ von seinem Substrat beinhaltet, hebt Hustvedt die Bedeutung eines weiteren Entwicklungsprozesses hervor, den der individuellen Person:
„Die individuelle Entwicklung wird meistens ausgespart. ‚Umwelt‘ und genetische ‚Vererbung‘ sind die beiden Kategorien, unter denen Entwicklung subsumiert wird. Dieses rein binäre Programm verhindert, dass all die Veränderungen, die zwischen Geburt und dem Moment, in dem ein Mensch als Zahl in einer Statistik auftaucht, in den Blick rücken.“ (Hustvedt 2018, S.346)
Damit setzt sich Hustvedt von den Mainstreammethodiken der Statistik, der analytischen Philosophie und der Kybernetik (Informationsverarbeitungstheorien) ab. Hustvedt verweist auf das Problem, daß in den Lebens- und Menschenwissenschaften die „Einzelfallforschung“ keine Rolle mehr spielt. (Vgl. Hustvedt 2018, S.112f.) Es werden nur noch statistische ‚Daten‘ gesammelt, wobei in Vergessenheit gerät, daß Daten zum einen keine Fakten sind und zweitens interpretiert werden müssen, was wiederum die Subjektivität des Wissenschaftlers in den Fokus rückt:
„Daten müssen interpretiert werden. In der Wissenschaft müssen Schlüsse gezogen werden, und manche Interpretationen und Schlussfolgerungen sind eben subtiler und klüger als andere, wie jeder Mensch weiß, der viel Zeit mit dem Lesen von Fachartikeln verbringt. Wie subtil die Deutung ausfällt, hängt zudem von vielen Faktoren ab, unter anderem von der Bildung der interpretierenden Person, ihren Vorlieben und Gefühlen.“ (Vgl. Hustvedt 2018, S.149)
Gerade die scheinbar so objektive Erhebung statistischer Daten bleibt also ohne die Berücksichtigung lebensweltlicher Faktoren, also ohne Phänomenologie, problematisch.

Was die analytische Philosophie betrifft, hat sie immerhin den Vorteil, daß wir es hier zumeist mit ernstzunehmenden, bedeutenden Philosophen zu tun haben. Hustvedt zitiert zustimmend John Searles Kritik an der Künstlichen Intelligenzforschung (vgl. Hustvedt 2018, S.239), und sie bezieht sich auf Texte von Thomas Nagel, von denen ich in meinem Blog ebenfalls einen rezensiert habe: „Geist und Kosmos“ (2013) und „Wie ist es eine Fledermaus zu sein?“ (1974) (Vgl. Hustvedt 2018, S.200) – Schon mit der Titel-Frage nach dem subjektiven Erleben einer Fledermaus stellt sich Thomas Nagel in die Tradition der Phänomenologie. Allerdings kann er den analytischen Background nicht wirklich überwinden. Er glaubt an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer ‚objektiven‘, von „Einfühlung und Phantasie“ unabhängigen Phänomenologie. Hustvedt widerspricht zurecht:
„Ich glaube, das ist unmöglich; Einfühlung und Phantasie lassen sich nicht von der Phänomenologie trennen ...“ (Hustvedt 2018, S.202)
Am Informationsverarbeitungsmodell kritisiert Hustvedt vor allem die Vorstellung von einer objektiven Kommunikation, in der sich wie in der Boolschen Algebra abstrakte Symbole von ihrer subjektiven Bedeutung trennen lassen. Hustvedt zitiert George Boole:
„All jene, die mit dem aktuellen Stand der Theorie der Symbolischen Mathematik vertraut sind, mögen wissen, dass die Gültigkeit der Analyseprozesse ganz unabhängig von den verwendeten Ausdrücken ist und allein auf den Gesetzen ihrer Kombinatorik beruht.“ (Zitiert nach Hustvedt 2018, S.187)
Diese Trennung von Symbol und Bedeutung bildet das Grundprinzip des Computationalismus: das menschliche Bewußtsein wird als Rechenmaschine modelliert, aber die Modellierungsarbeit wird als solche unkenntlich gemacht. Der Vergleich wird zur Identität: Geist als Maschine. (Vgl. Hustvedt 2018, S.162f. und S.193) Allerdings ist Hustvedt überzeugt, daß sich dieser Computationalismus inzwischen als falsch erwiesen hat und daß die Künstliche Intelligenzforschung seit vielen Jahren in einer Sackgasse steckt, aus der sie nur herausfindet, wenn sie ihre zentrale Prämisse, daß das menschliche Bewußtsein substratunabhängig sei, aufgibt:
„Die Computertechnik wird immer raffinierter und komplexer, dennoch glaube ich, dass der Computationalismus in seiner ursprünglichen, kognitionswissenschaftlichen Variante in den letzten Zügen liegt und als der falsche Weg in die Wissenschaftsgeschichte eingehen wird, der allerdings zeitweilig sehr dogmatische Züge annahm.“ (Hustvedt 2018, S.381)
Ich bin mir da nicht so sicher. Auch wenn der Computationalismus aus wissenschaftlicher Sicht eine Fehlentwicklung darstellt, so ist er doch sehr wirkmächtig. Eine technologieorientierte Gesellschaft neigt dazu, alles nach technologischen Kriterien zu beurteilen, auch sich selbst und auch die Menschen in ihr, die sich selbst wiederum entsprechend beurteilen und nach diesen Kriterien handeln. Wer glaubt, daß Menschen Maschinen sind und daß Maschinen denken können, wird seine eigenen Potenziale nicht mehr erkennen und verwirklichen können. Wer so denkt, wird nicht mehr wissen, was Denken ist. Diese Art der Posthumanität liegt meiner Ansicht nach noch lange nicht „in den letzten Zügen“, sondern beginnt gerade erst.

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Dienstag, 1. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

Als zentrales Thema ihres Buchs „Die Illusion der Gewissheit“ (2018) bezeichnet Siri Hustvedt, us-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, die Bereitschaft, zu zweifeln, und sie plädiert für eine Ambiguitätstoleranz, die es ermöglicht, eigene Überzeugungen zu hinterfragen und daraufhin zu prüfen, woher sie kommen. (Vgl. Hustvedt 2018, S.30) Kritischer Bezugspunkt ist René Descartes’ „cogito ergo sum“, dessen Gewißheitsanspruch zwar ebenfalls einen Primat des Zweifels kennt, aber dieser Zweifel wird getragen von einer abstrakt mathematischen Rationalität und richtet sich ausschließlich auf die körperleiblichen Empfindungen und Wahrnehmungen. Siri Hustwedt hingegen hebt die intuitiv-körperliche Herkunft des Zweifels hervor:
„Der Zweifel, den ich meine, setzt lange bevor er sich zu einem klaren Gedanken formen kann, ein. Er beginnt als leises Gefühl der Unzufriedenheit, ein Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, eine noch gestaltlose Ahnung, die, schwebend und gespannt zugleich, nach Ausdruck strebt, um sich schließlich als Frage in einer Sprache zu artikulieren, die ihr Raum bietet.“ (Hustvedt 2018, S.384)
René Descartes (1596-1650) steht mit seinem körperfeindlichen Rationalismus in der altehrwürdigen Tradition eines platonischen Dualismusses, der Körper und Geist einander entgegensetzt und dabei gleichzeitig den Körper im Vergleich zum Geist als bloßen Behälter abwertet und alle mit ihm verbundenen Affekte, die gesamte körperliche Physiologie, als eine Behinderung für die angestrebte rationale Erkenntnissicherheit denunziert. Hustvedt zeichnet in ihrem Buch detailliert den Weg dieses Dualismusses von der Antike bis hin zu den heutigen Künstliche-Intelligenzforschern und Neurophysiologen nach, die so stolz darauf sind, den Dualismus hinter sich gelassen zu haben, tatsächlich aber die alten dualistischen Muster reproduzieren. Dabei werden sie nach Kräften von der Politik und den Medien unterstützt, denn die gesellschaftliche Relevanz zeigt sich gerade in einer besonderen Variante dieses Dualismusses: in der Entgegensetzung von Frau und Mann, in der die Frau den Part des Körpers und der Mann den Part des Geistes einnehmen müssen, verbunden mit einer entsprechenden Abwertung der Frau:
„Der Refrain Nur weil die Geschlechter grundsätzlich unterschiedlich sind, bedeutet das nicht, dass ein Geschlecht dem anderen überlegen wäre, ist heutzutage zwar in aller Munde, doch wir tun gut daran, diesem Refrain zu misstrauen.“ (Hustvedt 2018, S.177)
Bei ihrer gleichermaßen historischen wie den aktuellen Stand der Forschung berücksichtigenden kritischen Reflexion des in verschiedenen Vatianten auftretenden Dualismusses von Körper/Geist, Materie/Information, Materie/Form, Frau/Mann und nicht zuletzt auch Außen/Innen, bezieht sich Hustvedt neben dem schon erwähnten Descartes u.a. auf Forscherinnen und Forscher wie Thomas Hobbes (1588-1679), Margaret Cavendish (1623-1673), Giambattista Vico (1666-1744), Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), Charles Darwin (1809-1882), Sigmund Freud (1856-1939), Norbert Wiener (1894-1964), Alan Turing (1912-1954), Thomas Nagel (*1937), Richard Dawkins (*1941) und Steven Pinker (*1954).

Mit Margaret Cavendish stellt Hustvedt eine zeitgenössische Antagonistin von Descartes vor, die an der Einheit von Körper und Geist festhielt und diese Position mit zahlreichen Panpsychisten in der Wissenschaft bis in die Gegenwart hinein teilt. (Vgl. Hustvedt 2018, S.21f. u.ö. und S.385, Anm.11) Interessant ist auch Hustvedts Hinweis auf die enge Verbundenheit Darwins mit Goethe. (Vgl. Hustvedt 2018, S.166ff.) Darwin würdigte an Goethe, daß er viele Aspekte seiner Theorie vorweggenommen hatte. (Vgl. Hustvedt 2018, S.166) Darwin selbst habe in seinem umfangreichen Werk biologische Organismen nie mit Maschinen verglichen (vgl. Husvedt 2018, S.169f.), und er unterscheidet sich darin Hustvedt zufolge von Richard Dawkins, der das „egoistische Gen“ als „atomartige(n) Kodierungsmechanismus“ beschreibt. (Vgl. Husvedt 2018, S.169)

Richard Dawkins und Steven Pinker bilden in Hustvedts Buch die modernen Antagonisten zu Darwin und Goethe und repräsentieren den engen rationalistischen Zugriff auf Biologie und menschliches Bewußtsein im von Wirtschaft, Politik und Medien hochgeputschten naturalistischen Mainstream der Wissenschaft. Angesichts dessen, wie in der Wissenschaftsgeschichte gute Ideen von schlechten Ideen abgelöst wurden und noch in der Gegenwart die Forschung dominieren, bekennt sich Siri Hustvedt zu einer gewissen ‚zynischen‘ Abgeklärtheit:
„Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass die neuesten Ideen immer die besten sind. Ganz im Gegenteil, meine Lektüren der Wissenschaftsgeschichte haben mich bisweilen eher zynisch auf das blicken lassen, was sich als Fortschritt ausgibt.“ (Hustvedt 2018, S.212)
Siri Hustvedt legt ihre eigene Position zwischen Computationalismus, also der Auffassung vom menschlichen Geist/Gehirn als Rechenmaschine, und Panpsychismus, der Vorstellung, daß organische und anorganische Materie beseelt bzw. begeistet sind, offen. Sie verweist auf ihren eigenen Werdegang, wie sie überhaupt dem biographischen Moment im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß eine hohe Bedeutung zumißt und zeigt, wie bestimmte wissenschaftliche Positionen mit individuellen Persönlichkeitsstrukturen und mit gesellschaftlichen Vorurteilsstrukturen korrespondieren:
„Es wäre aber Unsinn, zu leugnen, dass emotional prägende Ereignisse im Leben keinen Einfluss darauf hätten, in welchem Gebiet man sich spezialisiert und wie man an seine Arbeit herangeht. Die Gründe, warum uns manche Ideen fesseln und andere abstoßen, müssen uns dabei keineswegs bewusst sein.“ (Hustvedt 2018, 372; vgl. auch S.42, 49, 149)
Ihre eigene Präferenz für den intuitiven, vorreflexiven Anteil am wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß und ihre Skepsis gegenüber einem abstrakten Rationalismus begründet Hustvedt mit ihrer Arbeit als Schriftstellerin:
„Ich selbst bin der Kunst des Romans tief verbunden, dem Zauber seiner biegsamen Form. Ich glaube fest an den Roman, und im Unterschied zu vielen anderen glaube ich, dass das Lesen von Romanen unseren Wissenshorizont erweitert und sie ein wunderbares Vehikel für neue Ideen sind. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Romanen. Dass mich die Phänomenologie und Psychoanalyse besonders anziehen, weil sich beide mit gelebter Erfahrung befassen, passt gut zu meinen literarischen Interessen.“ (Hustvedt 2018, S.375)
Es sind deshalb auch bestimmte Randgebiete der wissenschaftlichen Forschung, die Hustvedts besonderes Interesse wecken, weil sie besonderen Aufschluß über das menschliche Bewußtsein geben, und das vor allem insofern als sie bestimmte Fragen aufwerfen; denn Hustvedt interessiert sich weniger für Antworten als für Fragen. Auch das ist ein Merkmal der Mainstream-Wissenschaft: sie ist so sehr auf mögliche Anwendungen und die Entwicklung von Technologien fixiert, daß schnelle Antworten bevorzugt und kaum noch Fragen gestellt werden. Im Zweifel glaubt man lieber, was als gesichert gilt, als sich der Gefahr auszusetzen, auf zeitraubende wissenschaftliche Abwege zu geraten.

Hustvedts besonderes Interesse richtet sich vor allem auf Placeboeffekte, auf Hysterien, auf Konversionsstörungen und Scheinschwangerschaften. (Vgl. Hustvedt 2018, S.44) Diese Phänomene werfen Fragen zum Mensch-Weltverhältnis auf, die den cartesianischen Dualismus und dessen verschiedenen materialistischen Varianten im Physikalismus der Natur- und der Informationswissenschaften in Erklärungsnöte bringen. Was weder in der Kybernetik noch in der Hirnforschung und anderen Bereichen, in denen der Computationalismus besonders ausgeprägt ist, geklärt ist, ist die Frage, wie der ‚Geist‘ bzw. das ‚Bewußtsein‘ oder einfach die ‚Information‘ – ein Begriff der inzwischen weitgehend synonym für Geist oder Bewußtsein steht – mit dem Körper, also dem ‚Substrat‘, wechselwirkt.

Die Frage der Wechselwirkung von Körper und Geist bzw. Information bildet den blinden Fleck in der Aufmerksamkeit der Computationalisten. Ohne die Begriffe und Korrelationen zu definieren, wird einfach wild drauflosgeforscht. Hustvedt faßt den aktuellen Stand dieser Art Forschung nüchtern zusammen:
„Wir wissen nicht, wie psychologische Faktoren mit neurobiologischen Faktoren zusammenhängen. Dieses fehlende Bindeglied hat enorme Ausmaße. Jeder Verweis auf die ‚neuronalen Korrelate, Substrate oder Grundlagen‘ von Angst, Liebe, Erinnerung, Bewusstsein oder eines beliebigen anderen psychischen Zustands schließt dieses aufklaffende Wissensloch bei den Vorgängen zwischen Geist und Gehirn ein.“ (Hustvedt 2018, S.125)
Selten habe ich eine so klare, deutliche, erkenntnistheoretisch und wissenschaftshistorisch gut begründete Kritik der aktuellen Forschung im Bereich der Lebens- und Bewußtseinswissenschaften, also dem interdisziplinären Problembereich von Geistes- und Naturwissenschaften, gelesen. Vor dem Hintergrund meines ganzen bisherigen Blogs empfinde ich Siri Hustvedt als eine Schwester im Geiste und empfehle die Lektüre aufs Wärmste.

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