„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 4. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

Um ‚Sprachen‘ zu entwickeln, die auch Maschinen ‚verstehen‘, müssen die Symbole von allen Nebenbedeutungen gereinigt werden. In der Logik hat das eine lange Tradition:
„Seit der Antike versuchten Logiker, symbolische Zeichen von ihrem Bedeutungsgehalt zu lösen, um die grundlegenden Muster oder Gesetze des menschlichen Verstands zu erkennen.“ (Hustvedt 2018, S.187)
Der Logiker unterstellt also, daß der „Bedeutungsgehalt“ der Sprache etwas ist, das nicht zur eigentlichen Struktur des menschlichen Verstandes gehört. Dabei wird aber schon das Wort ‚Symbol‘ sinnwidrig verwendet. Etymologisch bedeutet Symbol, daß verschiedene Bedeutungen in einem Zeichen ‚zusammengeworfen‘ werden. Wer also Symbole von ihren Nebenbedeutungen reinigen und sie auf eine feststehende, wohldefinierte Bedeutung festlegen will, hat es am Ende nicht mehr mit Symbolen zu tun, mit denen Menschen kommunizieren können, sondern mit mathematischen Zeichen, mit denen Algorithmen entwickelt werden können, mit deren Hilfe Maschinen kommunizieren können. An die Stelle des Begriffs der Bedeutung tritt der Begriff der Information. Hustvedt zitiert die us-amerikanische Literaturkritikerin N. Katherine Hayles:
„Shannon und Wiener definierten Information dergestalt, dass sie stets als gleichbleibender Wert auftrat, unabhängig von den Kontexten, in die sie eingebettet war, d.h. sie wurde von ihrem Bedeutungsgehalt losgelöst.“ (Zitiert nach Hustvedt 2018, S.186)
Obwohl wir es hier also nicht mehr mit Semantik zu tun haben, sprechen Kybernetiker und Künstliche-Intelligenzforscher weiterhin gerne von ‚Semantik‘ und bereiten so den Weg dafür, Maschinenintelligenz mit menschlichem Bewußtsein gleichzusetzen. Zugleich handeln sie sich damit aber das „Problem des Alltagswissens“ ein. Maschinensprachen, die auf der Basis von Algorithmen funktionieren, sind prinzipiell unfähig, menschliches Alltagswissen symbolisch zu repräsentieren. (Vgl. Hustvedt 2018, S.240) Zeichen, die keinerlei Nebenbedeutungen enthalten dürfen, weil sie von Maschinen sonst nicht mehr verstanden werden, können ein Alltagswissen, das wiederum prinzipiell mehrdeutig ist, symbolisch nicht erfassen. Das ist eine phänomenologische Grundeinsicht. Husserl bezeichnete es als „Lebenswelt“ bzw. als „Intersubjektivität“ und Merleau-Ponty als „Zwischenleiblichkeit“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.201ff.) In den Kognitionswissenschaften spricht man auch vom „Know-how“, also von einem „Erfahrungswissen“, weil es aus einem „unartikulierten, vorbegrifflichen Hintergrundwissen“ besteht, „das sich nicht digitalisieren lässt, weil es eine implizite körperliche Beziehung zu unserer Umwelt einschließt“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.240f.)

Die sprachlichen Symbole der menschlichen Kommunikation bilden also keine abstrakten mathematischen Symbole, wie sie in der Booleschen Algebra verwendet werden (vgl. Hustvedt 2018, S.187), sondern Metaphern, und zwar, wie Hustvedt festhält, sowohl auf mentaler wie auf körperlicher Ebene. Tatsächlich gibt es im Übergangsbereich zwischen Körper und Geist, nämlich in der sinnlichen Wahrnehmung, physiologische Prozesse, die an die Funktion von Metaphern erinnern. Hustvedt verweist auf die Synästhesie, wo verschiedene Sinnesbereiche miteinander verschmelzen, so daß Synästhetiker beispielsweise Musik gleichzeitig sehen und hören. (Vgl. Hustvedt 2018, S.208) In der Alltagssprache geht es ähnlich ‚bunt‘ zu:
„Metaphorische Wendungen überspringen ständig die Grenzen unserer Sinne. Ich ärgere mich schwarz. Hör doch diesen feinen, süßen Laut. Was für eine traurige Farbe, oder einige Zeilen der unnachahmlichen Emily Dickinson: ‚An solchem klaren steifen Abend‘, ‚ein grünes Frösteln überzog / Die Hitze schauerlich‘ und ‚Einen zarten Dufthauch haben sie / Der mir Metrum ist – nein – Melodie‘.()“ (Hustvedt 2018, S.208)
Ähnlich wie Plessner in seinem Buch „Lachen und Weinen“ (1941) beschreibt Hustwedt, wie belastende Situationen zu körperlichen Symptomen führen, die man als Metaphern für das Erlebte deuten kann:
„Es scheint zudem, dass manche Menschen, die unter großer emotionaler Anspannung stehen, ihren Körper unbewusst zum Vehikel einer Metapher werden lassen: Ich kann mit dem, was ich gesehen habe, nicht weiterleben. Nun bin ich blind.“ (Hustvedt 2018, S.367)
Metaphern gehören zu der Kategorie von Symbolen, die Maschinen niemals verstehen werden. Hinzu kommt, daß Hustvedt das Verstehen von Metaphern an der Bewegung im Raum festmacht. Entsprechend Simone de Beauvoirs von Merleau-Ponty beeinflußten Deutung des „Körpers als Situation“ (Hustvedt 2018, S.167) und mit Bezug auf Simone Weils Erläuterungen zu Stühlen, die zum Sitzen einladen, spricht Hustvedt davon, daß Wahrnehmung, Bewegung und Bedeutung einen engen, unauflösbaren Zusammenhang bilden:
„Dieser Gedanke (des einladenden Stuhls – DZ) ist dem, was J.J.Gibson, der nach Weil, aber zur selben Zeit wie Merleau-Ponty wirkte, als ‚Affordanz‘() oder Angebotscharakter bezeichnet, erstaunlich ähnlich.“ (Hustvedt 2018, S.305)
Am eigenen Beispiel hebt Hustvedt hervor, wie Bewegung das Denken unterstützen kann, wie ja auch das Umherschweifen in Wandelhallen ganzen Philosophierichtungen ihren Namen gegeben hat (Peripatetik, Stoa). So etwa wenn sie beschreibt, wie sie in einem Satz ‚steckengeblieben‘ ist und nicht mehr weiter weiß:
„Ich bewege mich, um Bewegung in den Satz zu bringen.“ (Hustvedt 2018, S.302)
Die Kinästhetik ist seit Husserl ein wichtiges Thema der Phänomenologie, und Hustvedt greift es auf, um es zu einem konstitutiven Moment der menschlichen Sprache zu erheben. Insofern stellt auch die Differenz zwischen Innen und Außen nicht einfach nur einen weiteren Dualismus dar, sondern eine Doppelaspektivität (Plessner), nämlich eine dynamische, also bewegliche Grenze, die die menschlichen Kinästhesen beim Denken und Sprechen ermöglicht:
„Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, insbesondere wenn ich ihn oder sie gerne mag, dann wirken Mimik und Gestik der anderen Person wie ein Spiegel, gleichzeitig beeinflussen sie aber meinen eigenen Gesichtsausdruck und die Gesten meiner Hände. Ohne nachzudenken stelle ich mich ein auf die Blicke und den Mund der Freundin, auf ihre Stimme und Modulation, und auf die Bedeutung der Wörter, die zwischen uns hin- und herwechseln. Ich weiß genau, dass ich nicht meine Freundin bin, aber der Blick von außen auf mich verliert sich. Ich beobachte mich beim Sprechen oder Gestikulieren nicht selbst, es sei denn, der Gesprächsfluss wird unterbrochen – zum Beispiel, weil mich die Freundin darauf aufmerksam macht, dass mir ein Fitzelchen Thunfisch zwischen den Zähnen hängt – und ich zum Spiegel muss, um das anstößige Teilchen zu entfernen.“ (Hustvedt 2018, S.329)
Diese Textstelle erinnert sehr an Plessners Anthropologien der „Nachahmung“ (1948) und des „Schauspielers“ (1948). Hustvedt zeichnet hier die subtile Wechselwirkung zwischen dem Äußeren der Freundin und dem eigenen Äußeren und den damit verbundenen Effekten auf die jeweilige innere Befindlichkeit nach. Es müßte eigentlich selbst für einen eingefleischten Computationalisten nachvollziebar sein, wie unendlich weit diese Art von Kommunikation von Maschinenkommunikation entfernt ist.

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