„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)
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Mittwoch, 19. Februar 2025

Entsehnt

Die Wunde ist geschlossen,
die die Liebe schlug.
Gelitten wars, doch auch genossen,
niemals wahr und immer Trug.

Was bleibt sind schlichte Narben,
deren Blüte mich nicht grämt.
Zu grau bis blaß verglühn die Farben;
eine Sucht einst, jetzt entsehnt.

Montag, 19. Februar 2024

Gebetsfahnen


Flatternde Bänder greifen ins Leere,
als wäre das Flattern selbst schon ihr Sinn.
Immer schon fehlt mir, was ich begehre;
unerfüllt bleibt so das, was ich bin.

Samstag, 19. Februar 2022

Mut und Demut

Kant fordert zum autonomen Verstandesgebrauch auf, und dazu gehört Mut. Kant geht also davon aus, daß Denken Mut erfordert. Man könnte vermuten, es ginge vor allem darum, sich im Denken gegen äußere Autoritäten durchzusetzen, in welcher Gestalt auch immer, deren einziges Interesse darin besteht, uns daran zu hindern, uns für unsere eigenen Interessen einzusetzen.

Aber der vielleicht noch größere Mut besteht darin, uns gegenüber unseren eigenen, inneren Autoritäten zu behaupten; gegenüber all den Konventionen und scheinbaren Bedürfnissen, die uns daran hindern, zu erkennen, was wir wirklich wollen. Denn wir wollen immer vieles und vielerlei und durchschauen dabei nur selten, was davon wirklich wichtig ist; was das tiefste Begehren ist, das aus uns selbst emporsteigt. Und vor dem wir uns fürchten, weil es den Einsatz unseres Lebens wert ist; unsere ganze Hingabe; uns selbst.

Denn was ist ‚Mut‘? Er ist ein Begehren, ein Streben, das an einem Ziel festhält, ohne sich von Launen und Stimmungen irritieren zu lassen. Er hält an seinem Willen fest, ohne sich den schwankenden, wechselnden und immer auch bedrohlichen Umständen auszuliefern.

Aber Mut ist nicht zu verwechseln mit Gedankenlosigkeit, Unerbittlichkeit und Maßlosigkeit. Ohne Denken gibt es keinen Mut, so wie es ohne Mut kein Denken gibt. Ohne diese beiden verliert unser Wollen sein Maß und wird zur Gier. Gier ist geil. Gier ist maßlos.

Mut aber ist nicht geil. Er setzt unserem Wollen ein Maß; ein Maß, das der Wille in seinem Gegenstand findet, auf den er sich richtet. Um dieses Maßes willen, müssen wir mutig bedenken, was wir wollen. Denn es erfordert Mut, sich selbst Grenzen zu ziehen, das Maß zu erkennen und unseren Willen sich bescheiden zu lassen, so daß wir dem, was wir wollen, sein eigenes Recht lassen können. Es ist der Mut zu denken, der uns dazu verhilft, das, was wir wollen, loszulassen; darauf zu verzichten, es zu besitzen.

Das ist Demut.

Mittwoch, 19. Februar 2020

Wiedergewinnung des Ausdrucks

Das zentrale Thema des „Doktor Faustus“ (1947/1974), einer fiktiven Biographie des Komponisten Adrian Leverkühn, geschrieben von seinem Kindheitsfreund Serenus Zeitblom, ist die „Wiedergewinnung“ bzw. „Rekonstruktion des Ausdrucks“ mithilfe der Musik. (Vgl. Mann 1947/1974, S.643) Adrian Leverkühns Persönlichkeit wurde von Thomas Mann nach dem Vorbild von Friedrich Nietzsche gestaltet, bis in die Details einer Syphiliserkrankung und einer Adrian Leverkühns Karriere als Komponist beendenden Demenz hinein, die zu einer Rückkehr in die Obhut seiner Mutter führt.

‚Ausdruck‘ und ‚Form‘ stehen in einem spannungsvollen, antagonistischen Verhältnis zueinander: je künstlicher, je konstruierter die Form, um so ausdrucksloser erscheint sie uns. Der Ausdruck wiederum ist vor allem Ausdruck von Gefühl, von Lebensintensität; er ist expressiv. Und Thomas Mann verbindet diese Expressivität insbesondere mit der Expression von Schmerz und Leid, als den ursprünglichsten Zuständen der Kreatur. Insofern ist Ausdruck vor allem Klage, und ihr Gegenteil, das Lachen, zeugt nicht wie bei Plessner, von unserer Menschlichkeit, sondern deutet auf Gefühlskälte. So stellt Serenus Zeitblom fest:
„... die Klage ist der Ausdruck selbst, man kann sagen, daß aller Ausdruck Klage ist, wie denn die Musik, sobald sie sich als Ausdruck begreift, am Beginn ihrer modernen Geschichte, zur Klage wird und zum ‚Lasciatemi morire‘, zur Klage der Ariadne, zum leis widerhallenden Klagegesang von Nymphen.“ (Mann 1947/1974, S.644)
Deshalb ist es auch kein gutes Zeichen, daß Adrian Leverkühn zum Lachen neigt, insbesondere wenn er mit intensiven Gefühlen konfrontiert wird. Es ist ein leicht spöttisches, sich distanzierendes Lachen; da will und kann sich einer nicht gemein machen mit den Niederungen und Peinlichkeiten unserer Menschlichkeit.

Es ist also kein Wunder, daß Leverkühn für das Versprechen, Großes in der Musik schaffen zu können, seine Seele dem Teufel verkauft. Von Anfang an stellt der biedere Humanist Serenus Zeitblom die Musik, in Verbindung mit der Theologie, in der Leverkühn einen Doktortitel erwirbt, also insbesondere die sakrale Musik unter den Verdacht einer unkontrollierbaren Irrationalität, einer Nähe zum Teufel. Kein anderes Medium vermag den dämonischen Bodensatz im Menschen so sehr aufzuwühlen und ihm zum Durchbruch zu verhelfen wie die Musik.

Auf der anderen Seite steht die Künstlichkeit der Musik, ihre mathematische Konstruierbarkeit. Und im Dienste dieser ‚kalten‘ Konstruierbarkeit steht der Komponist Leverkühn. Gerade ihm aber soll es gelingen, in der perfekt konstruierten „Weheklag“ des „Dr. Fausti“ – dieses den Jubel von Beethovens neunter Symphonie zurücknehmenden Faust-Oratoriums, dieser Anti-Symphonie, in der Gott selbst die Welt nicht mehr erschaffen haben will, von ihr nichts mehr wissen will (vgl. Mann 1947/1974, S.643) – den verlorengegangenen Ausdruck wiederzugewinnen: im letzten „nachschwingend(en), im Schweigen hängende(n) Ton“ nämlich, „der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht“. (Vgl. Mann 1947/1974, S.651)

Mit einem Hinweis auf Adorno, der ihn beim Schreiben des Romans beraten hatte (vgl. „Die Entstehung des Doktor Faustus“ (1949/1974)), hebt Thomas Mann die enorme Bedeutung des Expressiven nicht nur für Adorno, sondern auch für den „Doktor Faustus“ hervor:
„Dieser merkwürdige Kopf hat die berufliche Entscheidung zwischen Philosophie und Musik sein Leben lang abgelehnt. Zu gewiß war es ihm, daß er in beiden divergenten Bereichen eigentlich das Gleiche verfolge.“ (Vgl. Mann 1949/1974, S.709)
Das „Gleiche“ in den beiden „divergenten Bereichen“ war für Adorno aber immer das Nicht-Identische, also das, was nicht in begrifflichen (oder musikalischen) Konstruktionen aufging: der Schmerz und das Leid der Kreatur.

Immer wieder kommt Serenus Zeitblom in seiner Biographie auf die verschiedenen Phasen in Leverkühns Leben zu sprechen, in denen die Grenze zwischen anorganischer und organischer Materie, zwischen dem Toten und dem Lebendigen verschwimmt und wo schon der toten Materie eine vergebliche Sehnsucht nach Leben innezuwohnen scheint. Dabei handelt es sich um chemisch-physikalische Experimente von Leverkühns Vater und um Adrians eigene Person, in der die Krankheit, kleinste das Gehirn bewohnende und zersetzende Erreger, geistige und kompositorische Höchstleistungen zu provozieren vermag.

Die unbelebte Materie tut so, als wäre sie belebt, indem sie organische Formen hervorbringt, wie etwa die Eisblumen auf Fensterscheiben im Winter, oder in einer Wasserlösung, die Leverkühns Vater angesetzt hat, in der aus einem anorganischen Bodensatz belebte Pflanzen, Organismen, hervorzuwachsen scheinen, die aber dennoch nichts als tote Materie sind. Serenus Zeitblom ist Augenzeuge und schreibt:
„... das Merkwürdigste, was mir je vor Augen gekommen: merkwürdig nicht so sehr um seines (des Experiments – DZ) allerdings sehr wunderlichen und verwirrenden Ansehens willen, als wegen seiner tief melancholischen Natur. Denn wenn Vater Leverkühn uns fragte, was wir davon hielten, und wir ihm zaghaft antworteten es möchten Pflanzen sein, – ‚nein‘, erwiderte er, ‚es sind keine, sie tun nur so. Aber achtet sie darum nicht geringer! Eben daß sie so tun und sich aufs beste darum bemühen, ist jeglicher Achtung würdig.‘“ (Vgl. Mann 1947/1974, S.65)
Wo Zeitblom selbst ein Unbehagen, aber auch ein vages Mitleid mit der toten Materie empfindet, entlockt das Experiment des Vaters bei Adrian nur ein Lachen.

So wie im chemisch-physikalischen Experiment tote Materie das Leben nachahmt, ahmt das Echo die menschliche Stimme nach. Der klagende Widerhall des Echos wird zur bestimmenden Struktur von „Dr. Fausti Weheklag“. Das Echo scheint Menschenlaute nachzuäffen, die aber nichts anderes sind als tote Naturlaute. So beginnt die Klage als Ausdruck schon in der toten Materie, aus deren Klage der Mensch als derjenige hervorgeht, dem die Stimme gegeben ist, der Klage Ausdruck zu geben. Wir haben es bei „Dr. Fausti Weheklag“ mit der kunstvollen Rekonstruktion eines Echos zu tun, das durch die Jahrtausende hallt. Hier beginnt die kulturelle Evolution des Menschen: mit der Expression, und nicht mit der Proposition, dem Aussagesatz der Linguisten, in dem es um die Mitteilung von Informationen geht.

In der Klage wird die Seele expressiv, die wiederum nichts anderes ist, als die Klage ihres Nicht-Seins, ihres sein Wollens, aber nicht sein Könnens. Und „Dr. Fausti Weheklag“ ist wiederum nichts anderes als die musikalische Rekonstruktion dieser Klage, auf höchstem künstlerischen, rational durchkalkuliertem Niveau, die am Ende umschlägt in Hoffnung, in die Wiedergewinnung dessen, was fehlt, als letzter verklungener, im Schweigen hängender Ton.

Aber letztlich: was unterscheidet diese Hoffnung von der Auskristallisation von Eisblumen auf Fensterscheiben? Thomas Manns Antwort: die Transzendenz der Verzweiflung. Ich nenne das die zweite Naivität, eine begriffliche Prägung, bei der sich Plessner übrigens auf Nietzsche beruft! (Vgl. „Die verspätete Nation“, 6/1998 (1935/59), S.174)

PS: Thomas Manns „Zauberberg“ (1924) und sein „Doktor Faustus“ (1947) haben die gleiche Thematik. In beiden Romanen spielen Epochenumbrüche eine zentrale Rolle: die Zeit vor dem ersten Weltkrieg und die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. In beiden Romanen geht es um das Verhältnis von Zeit und Musik, wobei die Musik eine beiden Romanen ähnliche ambivalente Bedeutung hat, als mal dämonisches, mal harmlos unterhaltendes und mal als geistig und seelisch erhebendes Medium. So auch die Krankheit. Der „Zauberberg“ spielt ja in einem Sanatorium; Hans Castorp, der Protagonist, und der Humanist Settenbrini streiten sich darüber, ob die Krankheit den Menschen ‚veredelt‘ bzw. ‚vertieft‘ oder ihn zum Tier erniedrigt. Die Parallele zum „Doktor Faustus“ geht bis hin zum bloß graduellen Hervorgang des organischen Lebens aus der anorganischen Materie, so daß in der Krankheit sich das Anorganische noch auf den Geist auszuwirken und ihn zu beflügeln vermag. Settembrini steht entschieden auf der Seite der Gesundheit. Darin – und auch in seinem Humanismus – gleicht Settembrini dem Biographen Zeitblom. Settembrini bezeichnet sich selbst auch als ‚Pädagogen‘; eine weitere Parallele zum Gymnasiallehrer Zeitblom. In Settembrinis Gegenspieler, Naphta, lassen sich unschwer die verschiedenen Verkörperungen des Mephisto aus „Doktor Faustus“ wiedererkennen.

Hans Castorp wiederum wird von Thomas Mann als jemand beschrieben, der nicht mehr in die schnellebige, sich rasch verändernde Zeit um 1900 paßt. Er ist gleichsam aus der Zeit herausgefallen, so wie ja auch das ganze Sanatorium ein Ort außerhalb der Zeit ist. Das paßt zu Adrian Leverkühn, der ebenfalls kein Zeitgenosse ist und sich auf einen Bauernhof am Rande der gesellschaftlichen Welt zurückgezogen hat. Es gibt also nicht nur thematische, sondern auch personelle Parallelen zwischen den beiden Romanen, bis in das Schicksal der beiden Protagonisten hinein: beide gehen am Ende zugrunde.

„Doktor Faustus“ scheint mir aber literarisch oder auch philosophisch bedeutsamer zu sein als der „Zauberberg“.

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Dienstag, 19. Februar 2019

Karl May: Christlicher Humanismus, Patriotismus und Völkerkunde

Ich hatte unlängst das Bedürfnis, mal wieder ein Karl-May-Buch zu lesen. Aus gegebenem Anlaß – europaweit laufen die Menschen Populisten hinterher, die die nationale Karte spielen und mit der Angst vor Überfremdung Wählerstimmen einsammeln – hatte ich daran denken müssen, wie Karl May in seinen Reiseromanen immer alles ‚Deutsche‘ im besten Licht erscheinen ließ und alle schlechten oder wenigstens fragwürdigen Charakterzüge gerne bestimmten Völkern bzw. Ethnien zuordnete, den Armeniern und Levantinern beispielsweise:
„Ich habe es schon gesagt und sage es hier wieder, natürlich im allgemeinen gesprochen und den Durchschnitt gemeint, daß mir ein Kurde zehnmal lieber ist als ein Armenier, obgleich der letztere ein Christ ist. Wenn und wo auch im Oriente irgend eine Niederträchtigkeit geschieht, da hat gewiß ein Levantiner, ein Grieche oder, was noch viel leichter denkbar ist, ein habichtsnäsiger Armenier die Hand im Spiele.“ (Karl Mays Werke: Im Reiche des silbernen Löwen II. KMW-IV.23, S.476 (Greno Verlag))
In US-Amerika sind es meistens die Yankees, die die Rolle des Bösewichts übernehmen müssen; oder auch die Mormonen. Aber fast nie sind es die Deutschen, obwohl es schon damals nicht wenige davon in dieser Weltregion gab.

„... diese Halbblutleute ...“

Noch schlimmer ist es in Karl Mays Augen allerdings, wenn jemand ein ‚Mischling‘ ist und keiner Ethnie zugeordnet werden kann, weil er seiner ‚Erkenntnis‘ zufolge immer nur die schlechten Eigenschaften der beiden Elternteile erbt. Sogar in seinem letzten, zum Spätwerk zählenden Buch „Winnetous Erben“ (1910) läßt sich der unter dem Pseudonym „Mr. Burton“ reisende May von seiner Frau darauf ansprechen:
„‚Ein Mischling!‘ sagte sie. ‚Du bist doch immer der Meinung, daß diese Halbblutleute meist nur die schlimmen Eigenschaften ihrer Eltern erben?‘“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.306 (Greno Verlag))
Kein Wunder, daß Old Shatterhand Nscho tschi nicht heiraten wollte!

Einer dieser „Halbblutleute“, auf die sich Mrs. Burton, alias Frau May, bezieht, ist Mr. Paper, der Sekretär des Denkmalskomitees, ein unangenehmer Mensch und insgesamt ein Schurke. Allerdings geht es noch schlimmer. Antonius Paper ist immerhin ein ‚halber‘ Weißer. Aber mehr als ein Schurke, geradezu ein Unmensch, ist der Kantinenwirt, der ein ‚halber‘ Afroamerikaner ist, „mit indianischen Gesichtszügen, aber aufgestülpter Negernase und echter Mohrenhaut. Einen treffenderen Typ der Brutalität als ihn konnte man sich wohl kaum denken“. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV; KMW-V.7, S.560 (Greno Verlag))

In dem kurzen Wortwechsel zwischen Mrs. Burton/May und Mr. Burton/May wird mit keinem Wort erwähnt, daß auch Old Surehand und Apanatschka und deren Söhne, weitere wichtige Akteure in „Winnetous Erben“, ebenfalls ‚Mischlinge‘ sind, aber keineswegs Schurken oder Unmenschen wie Mr. Paper und der Kantinenwirt. Wie so viele andere inhaltliche Inkonsistenzen wird das einfach so hintereinander wegerzählt und weder explizit noch implizit im Handlungskontext reflektiert; wenn man mal davon absieht, daß Mr. Burton/May seiner Frau mit einem knappen „Ja, meist.“ antwortet. (Vgl. Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.306 (Greno Verlag)) Also nicht alle Mischlinge sind erblich belastet, sondern nur die meisten.

Allerdings bleibt auch Old Surehand, was seine Herkunft betrifft, zwar an anderer Stelle, aber eben doch, nicht verschont. In „Old Surehand III“ wird er von einem Utah-Häuptling darüber belehrt, daß die „Bleichgesichter“, die „rotes Blut in den Adern haben“, die „Schlimmsten“ seien, „die es giebt“. Immerhin beeilt sich der diese Szene belauschende Shatterhand/May, dem Leser zu versichern, daß Old Surehand weder das Äußere „und noch viel weniger den Charakter eines Mestizen“ habe. (Vgl. Karl Mays Werke: Old Surehand III. KMW-IV.20, S.388 (Greno Verlag))

Gegen Indianer hatte Karl May ansonsten nichts. Zwar gibt es auch hier die ewigen Bösewichter in Gestalt der Sioux, der Komantschen und Kiowas, aber an deren Bosheit sind nicht sie selbst schuld, sondern die Weißen. Die Apatschen sind aber immer gut.

Angesichts des obigen Zitats zum halbindianischen afroamerikanischen Kantinenwirt fällt es mir schwer, etwas zu Mays Ausführungen zu dunkelhäutigen Menschen zu schreiben. Einerseits tritt er, immer wieder mit Verweis auf seinen christlichen Hintergrund, als entschiedener Gegner der Sklaverei auf, aber seine Beschreibungen dunkelhäutiger Menschen sind gespickt mit geradezu peinlichen Stereotypien. Und in einem von May als Redakteur verantworteten Buch mit dem biblischen Titel „Das Buch der Liebe“ (1876?) ist sogar von den „affenartigen Negerstämme(n) vom obern Nile“ die Rede und davon, daß der „Papua dem Thiere näher steht, als den geistig hochentwickelten Bewohnern unserer Culturländer“. (Vgl. Karl Mays Werke: Geographische Predigten. Aufsätze, Gedichte und Rätsel, S.406-407 (Greno Verlag)) Allerdings ist zweifelhaft, ob es sich dabei um direkt aus Mays Feder stammende Textstellen handelt.

In „Die Sklavenkarawane“ (1889/1890) finden sich widersprüchliche Stellen: Im Gespräch mit einem arabischen Emir bestätigt Schwarz, der deutsche Protagonist, dem Emir, daß dessen in früher Kindheit entführter Sohn, ein „guter Mensch“ sei und „überhaupt nicht so tief (steht) wie ein gewöhnlicher Neger“. (Vgl. Karl Mays Werke: Die Sklavenkarawane. KMW-III.3, S.266 (Greno Verlag)) – „Er weiß“, so Schwarz, „daß er den Schwarzen überlegen ist; dieses Bewußtsein spricht sich in seinem Wesen, in seiner Erscheinung aus ...“ (Vgl. ebenda)

An anderer Stelle aber dominiert dann wieder Mays christlicher Humanismus, in dem alle Menschen vor Gott gleichgestellt sind. Dort heißt es bezüglich zweier Afrikaner, die sich in Lebensgefahr begeben, um ihre in Gefangenschaft geratenen Verwandten und Freunde zu befreien:
„‚Das sind nun zwei lebende Beispiele von den verachteten Menschen, denen man in Europa nachsagt, daß sie fast auf der Stufe der Tiere stehen‘, sagte Schwarz. ‚Unter tausend Weißen würde sich wohl kaum einer finden, der für seine Landsleute das wagte, was diese beiden wackern Kerls riskieren.‘“ (Karl Mays Werke: Die Sklavenkarawane. KMW-III.3, S.584 (Greno Verlag))
Solche Stellen finden sich auch in anderen Karl-May-Büchern immer wieder, etwa in „Old Surehand“ (1894/95), wo Shatterhand/May zunächst im besten christlich-humanistischen Eifer dem unverbesserlichen Rassisten Old Wabble eine Predigt über die Gleichheit der Menschen hält:
„Ich beabsichtigte, aufrichtig, aber nicht höflich zu sein. Ich bin nicht höflich gegen Leute, welche ihre Nebenmenschen verachten. Wenn man Euch einmal in die Erde scharrt, wird aus Eurem weißhäutigen Leibe grad und genau so ein stinkiger Kadaver wie aus einer Negerleiche. Das werdet Ihr wohl zugeben, und nun habt die Güte und zählt mir einmal Eure sonstigen Vorzüge auf! Es sind alle, alle Menschen Gottes Geschöpfe und Gottes Kinder, und wenn Ihr Euch einbildet, daß er Euch aus einem ganz besonders kostbaren Stoffe geschaffen habe und daß Ihr sein ganz besonderer Liebling seiet, so befindet Ihr Euch in einem Irrtum, den man eigentlich gar nicht begreifen kann.“ (Karl Mays Werke: Old Surehand I. KMW-IV.18, S.241-242)
An späterer Stelle im selben Buch bescheinigt Old Shatterhand dem „Neger Bob“, um den es in dieser Auseinandersetzung mit Old Wabble ging, nicht etwa nur ihm selbst, sondern auch seiner „Rasse“ wegen, beschränkte geistige Fähigkeiten, auf die er sich bei der Suche nach einer Oase im Liano Estacado nicht verlassen kann, obwohl er, also Bob, dort zuhause ist:
„Zwar war der Neger bei mir, aber, die geistigen Schwächen seiner Rasse überhaupt nicht gerechnet, war er stets nur mit Bloody-Fox durch die Wüste geritten, hatte sich auf diesen verlassen und konnte mir also nicht die geringste Auskunft geben.“ (Karl Mays Werke: Old Surehand I. KMW-IV.18, S.317-318)
Predigten zur Gleichheit aller Menschen wechseln sich immer wieder mit platten Rassismen ab. Man hat den Eindruck, hier weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut, als wären Mays Gehirnhälften lobotomisiert. Zwei Autoren statt einem. Könnte man meinen. Letztlich also nur eine weitere inhaltliche Inkonsistenz.

Andererseits aber sind Afroamerikaner in Mays Reiseromanen immer durch eine überbordende kindliche Emotionalität gekennzeichnet, und sie sprechen ihre eigene Sprache, also englisch, so unbeholfen, als müßten sie sie erst noch lernen. Kinder haben ja bekanntlich im Christentum vor Gott einen besonderen Status und ganz ähnlich eben auch Völker oder ‚Rassen‘ im Kindheitsmodus (die ‚Erwachsenen‘ sind natürlich immer die christlichen Nationen). Auch die Indianer vergleicht Mr. Burton/May in „Winnetous Erben“ mit Kindern, die endlich erwachsen werden müssen, damit sie kulturell mit den Europäern auf Augenhöhe sind:
„Habt ihr begriffen, daß es keinem Volk erlaubt ist, Kind zu bleiben? – Daß ihr einst Kinder waret und nur darum dem Untergange zugetrieben wurdet, weil ihr nicht aufhören wolltet, Kinder zu sein? Habt ihr begriffen, daß ihr als Kinder eingeschlafen seid, um nun nach schweren Niagaraträumen als Männer zu erwachen?“ (Karl Mays Werke: Winnetou IV. KMW-V.7, S.286 (Greno-Verlag))
In „Old Surehand III“ rechtfertigt Shatterhand-May die Bestrafung einiger Übeltäter pädagogisch. Kinder bedürfen einer besonderen pädagogischen Aufmerksamkeit:
„Wie denke ich überhaupt über die Prügelstrafe? Sie ist für jeden Menschen, der noch einen moralischen Halt besitzt, fürchterlich; sie kann sogar diesen letzten Fall vollends zerstören. Aber der Vater straft sein Kind, der Lehrer seinen Schüler mit der Rute, um ihm grad diesen moralischen Halt beizubringen!“ (Karl Mays Werke: Old Surehand III. KMW-IV.20, S.307 (Greno Verlag))
Genauso erklärt Karl May dem jungen Adler die mißliche Lage der Indianer als eine Form göttlicher Pädagogik. Und genau in dieser Tradition steht auch der Kolonialismus. Der angebliche Kindheitsstatus der indigenen Völker galt als päpstlicherseits hochoffiziell beglaubigte Rechtfertigung für die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft im Dienste der Plünderung der Ressourcen ihrer Länder, was man auch einfach ‚Kolonialismus‘ nennt. Diese ‚Christianisierung‘ (via Kolonialisierung) der indigenen Bevölkerung, also die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zum Zwecke ihrer kulturellen Weiterentwicklung, erwies sich für die spanischen Konquistadoren als wesentlich kostengünstiger als die Sklavenhaltung. Insofern verträgt sich Mays christlicher Humanismus mit gelegentlichem Rassismus eigentlich ganz gut. Auch wenn die weiter oben erwähnte Stelle aus dem „Buch der Liebe“ nicht aus Mays eigener Feder stammt: sie paßt zu seiner christlichen Evolutionserzählung.

Um May eine Ehre zu erweisen, muß ich hier festhalten, daß er zumindestens kein ausgeprägtes Judenfeindbild propagiert. Zwar müssen Juden in Mays Heimat- und Fortsetzungsromanen immer wieder als geldgierige Kulisse für das Elend und die Armut der notleidenden Bevölkerung herhalten; aber abgesehen von diesen damals üblichen Antisemitismen kommen Juden bei ihm durchaus auch als Opfer vor, und nicht selten setzen sich dann Mays Protagonisten für sie ein. Es gibt auch eine beachtliche Antwort Mays auf den Leserbrief eines jungen Juden, der sich von seinen Romanen zum Christentum bekehrt fühlte und konvertieren wollte. May riet ihm davon ab, da die jüdische Religion nicht weniger wertvoll sei als das Christentum und zudem die Religion seiner Väter sei.

Von Stinktöpfen und andren üblen Gasen

Wie mir das so durch den Kopf ging, fiel mir eins seiner Bücher ein, in dem die deutschen Protagonisten zunächst nicht als moralisch überlegene Athleten und Alleskönner in Erscheinung treten, sondern eher als Karikaturen aus der deutschen Provinz, die niemals die Grenzen ihrer Heimat verlassen hatten, dann aber plötzlich den wunderlichen Entschluß fassen, eine Reise nach China zu machen. Bei diesem Buch handelt es sich um „Kong-Kheou“ (1888/89) bzw. „Der blaurote Methusalem“.

Ich hatte plötzlich Lust dieses Buch, das ich zuletzt als kleiner Junge gelesen hatte, erneut zu lesen, weil ich dachte, daß es vielleicht ganz unterhaltsam wäre, mit meinem heutigen multikulturellen Horizont, Karl May dabei zuzusehen, wie er die deutsche Provinz vor dem Hintergrund einer Reise durch China karikiert. Denn um Karikaturen handelt es sich bei den Figuren um den „Methusalem“ herum, dem Diener Gottfried mit Wasserpfeife und Oboe, dem Kapitän Turnerstick, der allen Worten ein ‚-ing‘ oder ‚-ang‘ anhängt, in der Meinung, er spräche so chinesisch, und dem dicken Holländer Aardappelenbosch, dessen größte Sorge es ist, er könne seinen Appetit verlieren, dabei aber Mahlzeiten verschlingt, die für ganze Hochzeitsgesellschaften ausgereicht hätten. Der „Methusalem“, ein ewiger Student, der alles studiert, aber niemals ein Examen absolviert hat und eben deshalb von seinen Kommilitonen Methusalem genannt wird, wird von Karl May mit folgenden Worten beschrieben:
„Er trug einen blausamtenen Schnürenrock, eine rote Weste, weiße Lederhosen und hohe, lacklederne Stulpenstiefel, an denen ungeheure Sporen klirrten, welche mexikanischen Ursprunges waren und deren Räder einen Durchmesser von drittehalb Zoll besaßen. Auf den lang herabwallenden, dichten Locken saß ein rotgoldenes Cerevis. Die Hände trug er weltverächtlich in den Hosentaschen. Zwischen den Zähnen hielt er das Mundstück einer persischen Wasserpfeife, deren Rauch er in dicken Schwaden von sich stieß.“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.11 (Greno Verlag))
Die beschriebene Bekleidung gehört Karl May zufolge zum damaligen Studentenoutfit. Sein Diener Gottfried – Methusalem ist sehr wohlhabend und kann sich nicht nur ein ausgiebiges Studium, sondern auch einen Diener leisten – ist mit derselben Bekleidung ausgestattet. Er trägt auch würdevoll die erwähnte Wasserpfeife hinter ihm her. Voran schreitet Methusalems Hund, ein Neufundländer, und dieser trägt ein leeres Bierglas im Maul. Dieses Bierglases wegen und aufgrund seiner Vorliebe für das dazugehörige Getränk kam der Methusalem mit seiner blaurot verfärbten Akoholikernase übrigens zu seinem Beinamen.

Als sich der ‚blaurote‘ Methusalem auf den Weg nach China macht, weigert er sich, auf seine Studentenkleidung zu verzichten. Auch sein Auftreten mit Diener, Wasserpfeife und Hund bleibt in der Fremde ganz dasselbe. Als ihm der bereits erwähnte Kapitän, der sich als ein chinesischer Mandarin verkleidet, vorschlägt, sich etwas Passenderes, vielleicht sogar etwas Chinesisches anzuziehen, man könne ihn sonst vielleicht auslachen, verweist Methusalem stolz auf seine deutsche Gesinnung:
„Ich habe wenig Lust, aus reiner Angst meine deutsche Abstammung zu verleugnen.“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.37 (Greno Verlag))
Es sind also eigentlich alle Zutaten für eine Groteske über den Patriotismus vorhanden, aber ich hatte vergessen, vor welchem Hintergrund sie sich abspielt. Bei der erneuten Lektüre wurde mir klar, daß mir mein Gedächtnis einen Streich gespielt hatte. Die eigentliche Groteske stammt nicht vom Autor, sondern richtet sich, von ihm unbeabsichtigt, gegen ihn selbst. Denn alles, was die seltsame Truppe auf ihrer Reise durch China erlebt, spielt sich vor dem Hintergrund einer beständigen Abwertung der chinesischen Kultur und Geschichte ab. Trotz aller satirischen Überzeichnung erweist sich die deutsche Kultur und Gesinnung der chinesischen als himmelhoch überlegen. Tatsächlich macht die lächerliche Erscheinungsweise der Reisegruppe die Herabsetzung der Chinesen nur noch schlimmer, denn sie können selbst solchen Witzfiguren nicht das Wasser reichen. Letztlich entpuppt sich der bierselige deutsche Student doch noch als ein weiterer Superheld, dem alles gelingt und dem nichts und niemand, schon gar kein Chinese, etwas anhaben kann.

‚Der‘ Chinese schlechthin wird immer wieder als feige und als grausam beschrieben, demgegenüber die Taten des Methusalem und seiner Truppe um so leuchtender erstrahlen. Die vieltausendjährige Kultur ist für Karl May nur der Beleg für deren Greisenhaftigkeit. Selbst Kinder sind schon Greise und spielen keine unschuldigen Kinderspiele, sondern lassen lieber ihrer Grausamkeit freien Lauf, wenn sie Grillen gegeneinander kämpfen lassen:
„Er (der „chinesische Knabe“ – DZ) ist ein Erwachsener in verkleinertem Maßstabe. Sein gelbes Gesicht rötet sich höchstens dann ein wenig, wenn er ein Heimchen erblickt. Er fängt es, sucht noch eins dazu und setzt sich nieder, um die beiden Tiere gegeneinander kämpfen zu lassen. Mit Behagen sieht er, wie sie sich die Glieder abbeißen, sich gräßlich verstümmeln und selbst dann noch kämpfen, wenn sie nur noch aus dem gliederlosen Rumpfe bestehen. Ist es da ein Wunder, daß die Grausam- und Gefühllosigkeit des Chinesen als eine seiner hervorragendsten Eigenschaften bezeichnet werden muß?“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.223 (Greno Verlag))
Ich will die Reihe solcher ethnologischen ‚Einsichten‘ nicht unnötig verlängern. Allerdings kann ich mich nicht enthalten, abschließend noch eine interessante ‚Studie‘ zu den chinesischen „Stinktöpfen“ zu erwähnen. Der Methusalem befindet sich mit seinen Leuten auf einer Piratendschunke. Es ist ihnen gelungen, sich aus der Kajüte, in der sie eingeschlossen gewesen waren, zu befreien und nun wiederum die Piraten unter Deck einzuschließen. Um die Piraten endgültig zu entwaffnen und zu fesseln, entscheiden sie sich, die an Bord vorhandenen Stinktöpfe einzusetzen. Darauf folgt eine ethnologische Erörterung des Autors:
„Nur der Chinese kann auf eine solche Erfindung verfallen. Der Räuber eines jeden andern Landes wagt sein Leben. Der chinesische Pirat besiegt seine Gegner mit Gestank!“ (Karl Mays Werke: Kong-Kheou, das Ehrenwort; vgl. KMW-III.2, S.204 (Greno Verlag))
Sogar unter Räubern gibt es also kulturelle Rangunterschiede, und die niedrigste Stufe nimmt dabei der chinesische Pirat ein. Was Karl May damals selbstverständlich nicht wissen konnte: Nur ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen seines Buches, im ersten Weltkrieg, werden die den Chinesen kulturell angeblich so überlegenen Deutschen etwas erfinden und zur Anwendung bringen, das die chinesischen Stinktöpfe an perverser Grausamkeit bei weitem übertrifft: das Senfgas. Weitere Hinweise auf die üblen Praktiken im ‚Umgang‘ mit Gas gerade in Deutschland erspare ich mir an dieser Stelle.

„Jeder Mensch, zu dem wir kommen, gehört uns ...“

Obwohl Karl May das mit dem Senfgas also nicht hatte wissen können, ändern sich seine ‚Reisebeschreibungen‘ in seinem Alterswerk gegen Ende des 19. Jhdts. Zu Beginn des 20. Jhdts. erscheint sogar mit „Und Friede auf Erden“ (1901/1904) ein Buch, in dem er mit solcherart kulturellem Überlegenheitswahn, wie er in „Der blaurote Methusalem“ zum Ausdruck kommt, abrechnet. In „Und Friede auf Erden“ schildert Karl May in fünf Kapiteln eine Reise nach China, die in Kairo beginnt und irgendwo an der chinesischen Küste endet. Auf dieser Reise begegnen sich verschiedene Nationalitäten: Araber, Chinesen, US-Amerikaner, Engländer, Deutsche, Malaien etc. Eigentlich erinnert dieses Buch nicht so sehr an einen Reiseroman als an ein Theaterstück in fünf Akten. Es passiert sehr wenig, aber es wird sehr viel geredet oder besser: gepredigt. Tatsächlich erinnern die Auftritte der verschiedenen Repräsentanten der Völkerfamilie an die „Geographischen Predigten“ (1875), die nach Aussage Karl Mays die Grundlage seiner Reiseerzählungen bildeten.

Allerdings kann sich Karl May auch hier nicht der für ihn anscheinend unvermeidlichen Verallgemeinerungen beim Beschreiben von Menschen enthalten. So heißt es z.B. von Sejjid Omar, der später sein Diener wird – Karl May tritt im Buch als Ich-Erzähler auf – :
„Sein Gesicht zeigte zwar auch den Zug von Verschlagenheit, der allen Eseltreibern eigen ist, aber er war nicht aufdringlich und lag seinem Geschäfte in einer Weise ob, als werde Jedem, der sich seines Esels bediente, eine ganz besondere Gunst erwiesen.“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; (vgl. KMW-V.2, S.2 (Greno Verlag))
Man erfährt also, daß es geraten ist, sich vor Eselstreibern in Acht zu nehmen, denn sie sind alle ‚verschlagen‘, also hinterhältig. Aber immerhin: Sejjid Omar ist zwar zunächst ein Eselstreiber, doch ist er, wie sich dann herausstellt, bildungsfähig und letztlich das Musterbeispiel eines edlen und stolzen Arabers.

Trotz des das ganze Buch durchziehenden humanitären Anliegens einer übergreifenden Völkerfreundschaft unterläuft May aber bei der Beschreibung zweier Protagonisten seines Buches, Fu und Tsi, der Lapsus, Persönlichkeitsmerkmale gegen Rassemerkmale auszuspielen, nämlich in dem Sinne, daß sich ‚Geist‘ und asiatische Gesichtszüge gegenseitig ausschließen:
„Was ihre Gesichter betrifft, so trat der mongolische Schnitt derselben nur wenig hervor. Bei dem Sohne mochte diese Milderung eine Folge der Jugend sein; bei dem Vater aber war es ganz entschieden der Wirkung geistiger Tätigkeit zuzuschreiben, daß ihn fast nur der echt chinesisch gepflegte Bart als einen ‚Sohn der Mitte‘ verriet.“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.4 (Greno Verlag))
Karl May arbeitet also weiterhin mit solchen Stereotypen, auf die er anscheinend einfach nicht verzichten kann. Trotzdem gibt er sich große Mühe, immer wieder klarzustellen, daß alle Völker und Nationalitäten einander gleichgestellt sind und keines als geringer gewertet werden darf als ein anderes: „Kein Mensch, kein Stand, kein Volk“ dürfe „sich rühmen, von Gott mit irgend einer speziellen Auszeichnung begnadet worden zu sein“. (Vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.24 (Greno Verlag))

Wenn doch mal was Negatives über eine spezielle Kultur gesagt werden muß, dann sind es nicht mehr die Chinesen, sondern es ist das kalte, selbstsüchtige Abendland, gegen das sich Karl Mays Verdikt richtet (vgl. Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.9 (Greno Verlag)); oder es sind die ‚Kaukasier‘ als Rassebegriff, unter den Karl May alle Kolonisatoren faßt, die meinen, den Rest der Welt nicht nur beherrschen, sondern auch missionieren zu müssen, weil sie sich ihm kulturell so außerordentlich überlegen fühlen:
„Man beobachte den Europäer, wie er aus hochmütigen Augen im fremden Lande um sich schaut! Der Schiffsjunge, welcher jetzt wegen unheilbarer Dummheit vom Maate mit dem Tau verhauen wird, geht eine Viertelstunde später mit dem erhebenden Bewußtsein an das Land, daß alle Malaien und Chinesen Penangs nicht wert seien, ihm die ochsenledernen Stiefel zu schmieren, und zwar nur deshalb, weil er ein Kaukasier aus Dorf Klapperschnalle ist!“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.203 (Greno Verlag))
Einem chinesischen Wissenschaftler gegenüber leistet Karl May als Autor gewissermaßen Abbitte für alle in seinen früheren Büchern verbrochenen Verbalinjurien gegenüber den eingangs erwähnten Armeniern und Levantinern, oder jener Entgleisung, als die man den „blauroten Methusalem“ bezeichnen muß:
„Ich liebe Ihre Nation. Ich liebe sie nicht weniger als jede andere Rasse. Auch mein Beruf ist, Bücher zu schreiben, ganz so, wie der Ihrige. Und ich versichere Ihnen, daß ich niemals imstande sein werde, ohne vorherige, genaue Prüfung mein eigenes Volk auf Kosten anderer Völker herauszustreichen!“ (Karl Mays Werke: Und Friede auf Erden!; vgl. KMW-V.2, S.170 (Greno Verlag))
May spricht hier von der Zukunft, in der er nicht mehr imstande sein wird, solche Bücher zu schreiben; was immerhin offen läßt, daß er früher schon solche Bücher geschrieben hat. So kann diese Textstelle immerhin als eine Entschuldigung für vergangene Sünden gelten.

Um noch einmal auf den ersten Weltkrieg zu sprechen zu kommen: Tatsächlich war es u.a. Karl Mays Absicht gewesen, mit „Und Friede auf Erden“ auch auf den deutschen Kaiser einzuwirken, von dem er wußte, daß er seine Bücher las. Er hoffte, ihn dahingehend beeinflussen zu können, nicht für den Krieg zu rüsten, sondern sich für den Frieden einzusetzen, was natürlich ziemlich naiv gewesen ist. Von dieser Naivität zeugt auch der durchgehende Predigtton der endlosen Monologe, aus denen die ‚Gespräche‘ bestehen und die die nacheinander auftretenden Repräsentanten der verschiedenen Völker halten, sich gegenseitig ihres Respekts und ihrer Liebe zueinander versichernd, alles getragen von einer frommen Gottgläubigkeit, die ich mir damals als kleiner Junge sehr zueigen gemacht hatte und auf die ich heute als ‚gereifter‘ Erwachsener mit Befremden zurückblicke.

Zu Beginn hatte ich bei meiner erneuten Karl-May-Lektüre nur nach ein wenig Leseunterhaltung gesucht. Nach „Kong-Kheou“ und „Und Friede auf Erden“ aber regt sich in mir mehr als die zunächst erwarteten multikulturellen Reminiszenzen, mit denen ich gerechnet hatte. Vor dem Hintergrund der spezifisch deutschen Geschichte des 20. Jhdts. erscheinen mir Karl Mays Reiseabenteuer, sowohl die ethnischen Stereotypen der Klassiker wie auch die symbolisch überhöhten und religiös überladenen ‚Märchen‘ seines Spätwerkes als seltsam unangemessen. Gerade auch weil Karl May selbst seine klassischen Reiseerzählungen im Nachhinein symbolisch verstanden wissen wollte, als Vorarbeiten zu seinem eigentlichen Spätwerk, wirken sie verniedlichend und verharmlosend und halten dem tatsächlichen historischen Drama des beginnenden 20. Jhdts. nicht stand.

Dennoch liefert Karl May mit seinem Spätwerk, zu dem auch „Und Friede auf Erden“ gehört, eine bemerkenswerte Perspektive auf das, was wir seit Darwin ‚Evolution‘ nennen, obwohl dieser Begriff selbst gar nicht von Darwin stammt. May hatte immer wieder behauptet, seine Reiseromane seien gar keine Abenteuergeschichten, sondern symbolisch verklausulierte Erzählungen über die Entwicklung des Menschengeschlechts, nämlich im Sinne einer christlich-mystisch gefärbten Evolutionserzählung. Wir hätten es also bei seinen Reiseromanen nicht mit einzelnen Werken, sondern vielmehr mit einem Gesamtwerk zu tun, das von den Niederungen der afrikanischen Wüste bzw. amerikanischen Savanne hinaufsteigt in die wahlweise vorderasiatischen Gebirgsregionen oder Rocky Mountains seines Spätwerkes. Spätestens seit der Wiederentdeckung der „Geographischen Predigten“ (1875) muß man May zugestehen, daß er mit seinen Büchern tatsächlich einen solchen Plan verfolgt hatte, unabhängig davon wie man die literarische Qualität seiner Umsetzung in den Reiseromanen beurteilen mag.

Aber was sein Spätwerk betrifft, hatte schon Arno Schmidt konzediert, daß May mit ihm symbolische Meisterwerke geschaffen habe. Ich möchte hier zum Schluß nur eine kleine, aber wirklich köstliche Szene aus „Ardistan und Dschinnistan“ (1909) wiedergeben, in der May den abendländischen Imperialismus aufs Korn nimmt. Im Sumpfland von Ardistan begegnet der Ich-Erzähler dem Häuptling eines Stammes, einem urweltlichen Riesen, etwa so wie man sich zu Beginn des 20. Jhdts. den Neanderthaler vorgestellt haben mag. Kaum sieht dieser Riese den Fremden, erklärt er ihn zu seinem Eigentum und untersucht sein Gepäck, um sich diverse nützliche Gegenstände einzustecken. Als May, also der Ich-Erzähler, ihn fragt, mit welchem Recht er das mache, erklärt dieser ihm, daß das hier so Gesetz sei. Jeder Fremder, der in sein Land komme, werde automatisch zu seinem Eigentum. Der Häuptling und sein Stamm betreiben also eine Art invertierten Kolonialismus. Sie verlassen zwar nicht ihr Land, um andere Länder und Völker zu unterwerfen. Aber sie warten, bis die anderen Völker in Form von einzelnen Fremden zu ihnen kommen, und diese unterwerfen sie dann. Letztlich also dasselbe mit umgekehrtem Vorzeichen.

Im weiteren Verlauf der Episode gelingt es May, den Häuptling mit Hilfe seines Lassos und einer List gefangen zu nehmen. Als der Häuptling protestiert, entgegnet May, daß er sich nur an die Gesetze seines eigenen Landes halte, so wie auch der Häuptling. Und nach den Gesetzen seines eigenen Landes gehören alle Fremden, in deren Länder er seinen Fuß setze, ihm:
„So paß auf: Jeder Mensch, zu dem wir kommen, gehört uns, und zwar mit Allem, was er besitzt.“
„Wirklich?“ fragte er erstaunt.
„Ja,“ antwortete ich mit besonderer Betonung.
„Da seid ihr schöne Kerle! Pfui Teufel!“
(Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan; vgl. KMW-V.5, S.88 (Greno Verlag))
Sogar das Christentum wird nicht verschont: „Wir sind Christen.“ gesteht May dem Häuptling gegenüber ein.
„Das will ich glauben! Denn wohin die Christen nur kommen, da stehlen sie Alles, Alles weg, was sie nur finden.“
„Woher weißt du das?“
„Das weiß doch die ganze Welt! Erst sind die Christen Bettler gewesen, blutarme Leute, haben gar nichts gehabt und ihren Hunger von den Aehren des Getreides gestillt. Isa Ben Marryam, der Stifter ihrer Religion, hat nicht einmal gehabt, wohin er sein Haupt legte. Und heute gehören ihnen die meisten Länder und die meisten Völker der Erde. Das Alles haben sie sich zusammengeraubt und zusammengestohlen, teils mit List und teils mit Gewalt. Und sie sind hiermit nicht etwa zufrieden, sondern sie rauben und stehlen weiter, und sie werden mit ihren Listen und Gewalttaten nicht eher aufhören, als bis sie Alles besitzen, was es auf Erden gibt! Und zu diesen Räubern, Mördern und Gaunern gehörst auch du?“
„Ja.“
„Pfui Teufel!“
(Karl Mays Werke: Ardistan und Dschinnistan I; vgl. KMW-V.5, S.89 (Greno Verlag))
Letztlich muß der Häuptling zugeben, daß seine eigenen Gesetze auch nicht besser sind als die Gesetze in Mays Heimat, also in Europa. Die beiden werden Freunde, und Mays damalige Leser im Kaiser-Wilhelm-Land, das selbst gerade erst in den Kreis der Kolonialmächte aufgestiegen war (inklusive dem Genozid an den Herrero und Nama), hatten hier eine Lektüre zu verdauen, die ihnen sicher noch eine Weile schwer im Magen gelegen haben dürfte.

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Montag, 19. Februar 2018

Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr. Ein somnambules Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen von Walter Moers und illustriert von Lydia Rode, München 2/2017

Heute möchte ich das neue Buch meines Lieblingsautors besprechen: „Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr“ (2/2017). Allerdings weiß ich nicht so recht, wie ich ihn nennen soll: Walter Moers oder Hildegunst von Mythenmetz? Denn tatsächlich ist Walter Moers nur der kongeniale Übersetzer der Schriften des Hildegunst von Mythenmetz. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Walter Moers noch keinen großen Literaturpreis erhalten hat, denn meiner Ansicht nach hätte er schon längst mindestens den Literaturnobelpreis für „Rumo“ verdient, meinem besonderen Liebling unter den Zamonienromanen. Allerdings lese ich keine Literaturpreisbücher. Autoren, die Literaturpreisbücher schreiben, schreiben sie nicht für Leser, jedenfalls nicht für Leser wie mich, sondern für Juroren. Und je unlesbarer so ein Buch ist, um so eher kommt es auf die Shortlist.

Was diesen Mythenmetz betrifft, bin ich etwas eingeschüchtert, wie ich gestehen muß. Schließlich haßt Mythenmetz nichts mehr als Rezensenten. Das kann man in „Ensel und Krete“ nachlesen. Es fällt mir schwer, das einzugestehen, schließlich bin ich, wie meine Schwester meint, ein Snob. Sie schenkte mir kürzlich „Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt“ von Bodo Kirchhoff. Als ich sie nach dem Grund fragte, meinte sie, sie habe gelesen, daß der Kirchhoff ein Snob sei und daß das Buch deshalb zu mir passe.

Ich bin also ein Snob und will es deshalb diesem Mythenmetz mal so richtig zeigen: Ihr Buch, lieber Herr Mythenmetz, wimmelt von Drucksatzfehlern! Hier meine Liste:
Auf Seite 67, Zeile 10, fehlt ein ‚n‘ in „I()somnia“!
Auf Seite 84, Zeile 25, ist in „als(o)“ ein ‚o‘ zu viel!
Auf Seite 126, Zeile 18, fehlt in „Unbenn()bares“ eine ganze Silbe!
Auf Seite 327, Zeile 22, fehlt das Endzeichen!
Nachdem ich hiermit klargestellt habe, daß ich ein Rezensent bin, der sich von einem Mythenmetz nicht einschüchtern läßt, möchte ich jetzt gerne zu der wunderbaren Übersetzung seines Buches von Walter Moers zurückkehren. Im Nachwort offenbart Moers den Lesern seines Buches, daß der Anlaß seiner ‚Übersetzung‘ der Brief einer Leserin gewesen sei, die am chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS) erkrankt sei. In ihrem Brief schreibt die Leserin, daß sie ihre schlaflosen Nächte mit dem Lesen seiner Zamonienromane verbringe, die sie von ihrer Krankheit ablenken. (Vgl. Moers 2/2017, S.337f.)

Der neue Roman von Moers ist eine Antwort auf diesen Leserbrief, und er ist zugleich eine Liebesromanerklärung eines Autors an seine Leserin. Was mich auf den Gedanken bringt, daß Havarius Opal, der Nachtmahr, eine Verkörperung des Autors sein könnte, denn auch er verliebt sich in Dylia (Prinzessin Insomnia), die ebenfalls unter der Krankheit leidet, nicht einschlafen zu können. Insbesondere die Eigenschaft seiner Schuppenhaut, ständig die Farben zu wechseln, und zwar jede einzelne Schuppe für sich, könnte ein Hinweis auf Moers’ Schreibstil sein, bei dem es auf verbaler Ebene ähnlich ‚bunt‘ zugeht wie auf Havarius Opals Schuppenhaut.

Der Name des Nachtmahrs ist übrigens schon ein Hinweis auf das Ende des Romans. Dies nur als Andeutung, denn viele Leser hassen es, wenn gespoilert wird, was ich überhaupt nicht verstehen kann, denn ich persönlich weiß immer gerne vorher, wie es ausgeht, und ich bevorzuge Happy Ends, darin ganz einig mit Bilbo Beutlin, der sich immer schon gerne zu Beginn einer Geschichte so ein Happy End zurechtlegt. So ermahnt er seinen Neffen Frodo vor seiner Reise nach Mordor: „Books ought to have good endings!“ – Mit dem beruhigenden Gefühl, daß sich alles in Wohlgefallen auflösen wird, kann ich einen Roman viel besser genießen. Sogar „Rumo“ hat ein Happy End.

Viele Motive aus früheren Büchern tauchen in Moers’ neuem Roman wieder auf. Zum Beispiel die Reise durch Dylias Gehirn: schon in „Käpt’n Blaubär“ gibt es eine Reise durch ein Bolloggehirn. Allerdings sieht es in Dylias Gehirn ganz anders aus, was nur noch einmal bestätigt, worauf auch Havarius Opal gerne immer wieder hinweist: Jedes Gehirn ist anders! – Das sollten diese Neurophysiologen bitteschön beherzigen, wenn sie uns das nächste Mal wieder das Blaue vom Himmel runterreden, was sie wieder Neues übers Gehirn rausgefunden haben. Niemand weiß besser, wie es in meinem Gehirn aussieht, als ich selbst! Warum? Weil ich denken kann. Überhaupt bin ich Rezensent! Und ich laß mir von niemandem vorschreiben, wie ich zu denken habe.

Dylias beste Freunde sind ihre Gedanken: denn mit ihnen ist sie nachts, wenn alle schlafen, ganz allein. Ihre Gedanken bewahren sie vor den schlimmsten Auswirkungen der Schlaflosigkeit. Und manchmal ermöglichen sie ihr sogar eine Art „schlafloses Träumen“ (Moers 2/2017, S.67), die an einen „saloppe(n) Rausch“ (Moers 2/2017, S.25) erinnert. Erfahrene Zamonienromanleser erinnern sich vielleicht an die „saloppe Katatonie“, die beim Sturz in ein Dimensionsloch eintritt. Aber das ist was anderes. Dylia jedenfalls hört in diesem Zustand „Gehirnmusik“, die „unverkennbaren Harmonien ihrer Ideen und Phantasmen“. (Vgl. Moers 2/2017, S.67)

Die Beziehung zwischen Havarius Opal und Dylia alias Prinzessin Insomnia erinnert auch aus einem weiteren Grund an die Beziehung zwischen dem Autor und seiner Leserin. Denn die Leserbriefschreiberin lieferte die Illustrationen zu Moers’ neuem Buch. Das Buch ist ein gemeinsames Projekt des Autors und seiner Leserin! Und die Leserin ist wiederum das Herz – bzw. das ‚Gehirn‘? – der Geschichte. Ich muß wieder ein Geständnis machen: die Stelle im Buch, an der das ganz explizit zum Ausdruck gebracht wird, hatte ich zunächst überhaupt nicht verstanden!

Jetzt muß ich leider etwas spoilern. Aber nur weil ich so eine lange Leitung habe und etwas schwer von Begriff bin und weil ich befürchte, daß es vielen Leserinnen und Lesern ähnlich ergeht wie mir!

Auf ihrer Reise durch Dylias Gehirn kommen die beiden ins Gedächtniszentrum, das aus einem riesigen Spinnennetz und seiner Hüterin, einer Spinne natürlich, besteht. Die Spinne schläft gerade. Der Raum, in dem sich das Spinnennetz befindet, ist voller Erinnerungsschätze, vor allem Wörter, denn Dylia denkt sich gerne Wörter aus und sie sammelt auch viele Wörter, vor allem solche, die sich schwer aussprechen lassen. Ich liebe es immer, den Schülern in meiner Bibliotheksgilde aus „Rumo“ vorzulesen. Es macht einen Riesenspaß, all die schwierigen Wörter auszusprechen, von denen es in allen Zamonienromanen nur so wimmelt.

Dylia begegnet in diesem Teil ihres Gehirns ihrem „Oberüberwort“, das auf einem Haufen von anderen Wörtern liegt:
„Dylia erschrak bei dem Anblick, aber nicht aus Furcht oder Bestürzung. Dann musste sie auflachen, aber nur ganz kurz. Und schließlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Ja, da lag es. Ganz oben auf dem Stapel mit den Pfauenwörtern. Lag? Nein – da thronte es. Plötzlich unübersehbar, alles überragend und überstrahlend, den ganzen riesigen Raum mit seiner einzigartigen Präsenz beherrschend.“ (Moers 2/2017, S.145f.)
Wir befinden uns erst  in der Mitte des Buches, und deshalb verrät uns Moers natürlich noch nicht, wie dieses Wort lautet. Aber gewitzt wie ich bin – Achtung Spoilergefahr! – schaue ich am Ende des Buches nach. Und ich bin enttäuscht: ‚Dylia‘ ist das Oberüberwort, also der Name der Prinzessin! Wie langweilig.

Ich blättere wieder zurück zur Stelle, wo ich gerade gewesen bin, und lese weiter. Wie gesagt: mir ist tatsächlich nicht aufgefallen, worin die Pointe liegt. Erst eine Weile, nachdem ich das Buch durchgelesen hatte, ging mir ein Licht auf. Dabei besteht das ganze Buch aus Anagrammen! „Ridikülisierendes Anagrammieren“ (Moers 2/2017, S.142) ist geradezu der Basisstil aller Zamonienromane! Denn wer ist Dylia? Lydia natürlich, besagte Leserbriefschreiberin, die alles überragende und überstrahlende, den Roman beherrschende einzigartige Präsenz.

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Sonntag, 19. Februar 2017

J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe (1954/1955)

Für die dunkle Zeit zum Jahreswechsel hatte ich mir vor einiger Zeit wieder einmal den „Herrn der Ringe“ vorgenommen, in einer luxuriösen Lederausgabe (2008) in der Übersetzung von Margaret Carroux, die ich der Übersetzung von Wolfgang Krege vorziehe; nicht zuletzt wegen dessen unmöglichem „Chef“ anstelle des „Herr“, mit dem Krege Sam seinen Herrn anreden läßt. Diese anbiedernde Aktualisierung des Textes zeigt, daß Krege nicht begriffen hat, daß das altertümelnde Englisch, in dem Tolkien seinen Lord of the Rings geschrieben hat, ein bewußtes Stilmittel bildet, das der ganzen Erzählung eine authentische Patina verleiht. Was übrigens für deutsche Muttersprachler einen erfreulichen Nebeneffekt hat. Das Buch läßt sich für sie auch gut im Englischen lesen, weil dieses alte Englisch dem deutschen Sprachgefühl sehr nahe steht. Ich hatte beim Lesen des englischen Originals jedenfalls ständig das Gefühl, auf ‚Germanismen‘ zu stoßen – „There comes one to the other!“, wie ein deutscher Fußballtrainer sagte –, so als hätte ein deutscher Muttersprachler versucht, das Buch auf Englisch zu schreiben.

Die teure Lederausgabe ist leider schadhaft: die Seiten 71 bis 74 haben sich aus der Fadenheftung gelöst und bilden nun ein lose beigefügtes Doppelblatt, auf dem Gandalf gerade die wahre Geschichte des Ringfundes erzählt.

Da es in diesem Post um meine ganz persönliche Deutung des „Herrn der Ringe“ gehen soll, komme ich nicht umhin, kurz auf Tolkiens Aversion gegen eine allegorisierende Auslegung des Herrn der Ringe einzugehen. Man sollte Tolkiens Ablehnung von Allegorien nicht dahingehend mißverstehen, als hätte er etwas gegen eine lebensnahe Übertragung seines Werkes auf die Erfahrungswelt seiner Leser gehabt. Tolkien macht vielmehr deutlich, daß er genau dieser Phantasie seiner Leser keine Grenzen ziehen will. Allegorien, so Tolkien, tun nämlich genau das. Es ist der Autor, der eine Erzählung als Allegorie verfaßt und so festlegt, was seine Leser denken sollen: „Ich glaube, viele Leute verwechseln ‚Anwendbarkeit‘ mit ‚Allegorie‘; aber die eine ist der Freiheit des Lesers überlassen, die andere wird ihm von der Absicht des Verfassers aufgezwungen.“ (Tolkien 2008, S.13)

Der Leser ist also frei, sich beim Lesen von „Der Herr der Ringe“ das Seine zu denken, was immer ihm gerade durch den Kopf geht. Er hat dazu Tolkiens ausdrückliche Erlaubnis.

Mein roter Faden ist bei meiner Lektüre die Frage, wie sich der Ring auf die verschiedenen Charaktere auswirkt. Dabei geht es vor allem um die verschiedenen Ringträger und um ihr Verhältnis zur Macht. Dieses Thema wird von der ersten Seite an entfaltet und zeigt sich an so unterschiedlichen Charakteren wie den Hobbits, Tom Bombadil (und Gandalf) und diversen Zwergen, Elben und Menschen. Dabei haben die letzteren drei Charaktere ihre eigenen Ringe, sieben die Zwerge, drei die Elben und neun die Menschen. ‚Macht‘ erscheint hier in verschiedenen Aspekten: als Reichtum (Zwerge), als Politik bzw. als Macht über Menschen – wobei hier auch noch der Wunsch nach Unsterblichkeit mit hineinspielt – und als Wunsch nach Perfektion (Elben), die auch eine technologische Komponente beinhaltet. Es ist übrigens gerade die technologische Kompetenz von Sauron, für die die Elben bei der Herstellung der Ringe empfänglich und verführbar gewesen waren, so daß Saurons beherrschender Ring alle anderen Ringe in seinen korrumpierenden Dunstkreis hineinziehen konnte, sogar die drei großen Elbenringe, deren Macht nach der Zerstörung des Einen Rings immer geringer wird und schließlich schwindet.

Tolkien spielt ständig mit der Ähnlichkeit und der Differenz zwischen Technologie und Zauberei. Obwohl sein „Herr der Ringe“ ein neues literarisches Genre geschaffen hat, die Fantasy-Literatur, ist Tolkien selbst sehr distanziert und mißtrauisch gegenüber Zauberei. Das zeigt sich besonders am Verhältnis zwischen Hobbits und Elben. Die verstehen sich nämlich auf einer bestimmten Ebene überraschend gut: beide Charaktere haben ein positives Verhältnis zum Handwerk.

Zunächst aber noch eine Bemerkung zur Zauberei. Wenn Hobbits eine bestimmte Fähigkeit haben, die entfernt an ‚Zauberei‘ erinnert, dann ist es die, sich unsichtbar zu machen:
„Von Anfang an beherrschten sie die Kunst, rasch und geräuschlos zu verschwinden, wenn große Leute, denen sie nicht begegnen wollen, dahertrampelten; und diese Kunst haben sie weiterentwickelt, bis sie den Menschen wie Zauberei vorkam. In Wirklichkeit haben sich die Hobbits niemals mit Zauberei irgendeiner Art befasst, und ihre Fähigkeit, sich zu verflüchtigen, beruht allein auf einer durch Vererbung und Übung und innige Erdverbundenheit so vollkommenen Geschicklichkeit, dass sie für größere und plumpere Rassen unnachahmlich ist.“ (Tolkien 2008, S.17)
An dieser Stelle deutet sich schon an, daß Tolkien Zauberei generell für ziemlich überbewertet hält. Um das tägliche Leben zu meistern, bedarf es geringerer, nüchternerer Gaben, die vor allem der Ergänzung durch ‚Übung‘ bedürfen, um sich entfalten zu können, getreu dem Goetheschen Diktum: „Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen!“

Zauberei hat für Tolkien Parallelen mit einer bestimmten Technologie, die vor allem dem Narzißmus des Menschen dient: Machtausübung im Sinne von unmittelbarer Wunscherfüllung, ohne dafür einen Finger krumm machen zu müssen. Nur ein bißchen mit dem Zauberstab rumwedeln und Peng! – schon hat man, was man will. An die Stelle des Zauberstabs ist heute eine Maus getreten und mit der macht man ‚Klick‘. Hobbits jedenfalls verstehen gleichermaßen wenig von Zauberei wie von Maschinen, die komplizierter sind als ein Handwebstuhl oder eine Wassermühle. (Vgl. Tolkien 2008, S.17) Sie sind geschickte Handwerker und keine Ingenieure.

Erstaunlicherweise verstehen sie sich auf dieser Ebene, wie schon angedeutet, sehr gut mit den Elben. Es gibt eine Unterhaltung zwischen Sam Gamdschie und einem Hochelben in Lorien über die Seilerei:
„‚Was ist das?‘, fragte Sam und nahm eine (Seilrolle – DZ) in die Hand, die auf dem Rasen lag. ‚Seile natürlich‘, antwortete der Elb aus den Booten. ‚Man soll niemals lange ohne ein Seil unterwegs sein! Und eins, das lang und stark und leicht ist. So wie diese sind. Sie mögen eine Hilfe sein in manchen Notlagen.‘ ‚Das braucht Ihr mir nicht zu sagen!‘, sagte Sam. ‚Ich kam ohne eins hierher und war die ganze Zeit darüber beunruhigt. Aber ich frage mich, woraus diese gemacht sind, denn ich weiß ein bisschen Bescheid mit der Seilerei: Es liegt in der Familie, wie man sagen könnte.‘ ‚Sie sind aus hithlain‘, sagte der Elb. ‚Aber jetzt ist keine Zeit mehr, dich in der Kunst ihrer Herstellung zu unterrichten. Hätten wir gewusst, dass dieses Handwerk dir Freude macht, dann hätten wir dir viel beibringen können. ...‘“ (Tolkien 2008, S.416)
An einer anderen Stelle bewundert Pippin ein paar Mäntel und fragt, ob sie mit Hilfe von Zauberei hergestellt worden seien. Die Antwort, die der Elb ihm gibt, erinnert an unsere Outdoor-Kleidungen, deren Materialeigenschaften ja gerne mit den neuesten Erkenntnissen aus Wissenschaft und Technik beworben werden:
„Es sind schöne Mäntel, und das Gewebe ist gut, denn es ist in diesem Land hergestellt worden. Gewiss sind es Elbengewänder, wenn es das ist, was du meinst. Blatt und Zweig, Wasser und Stein: Sie haben den Farbton und die Schönheit all dieser Dinge unter dem Zwielicht von Lórien, das wir lieben, denn bei allem, was wir herstellen, denken wir an all das, was wir lieben, indes sind es Kleidungsstücke, keine Panzer, und sie werden weder Speer noch Klinge abwehren. Doch sollten sie euch gute Dienste leisten. Sie sind leicht im Tragen und warm oder kühl genug, je nach Bedarf. Und ihr werdet merken, dass sie eine große Hilfe sind, wenn ihr euch dem Blick unfreundlicher Augen entziehen wollt, ob ihr nun zwischen Steinen oder unter Bäumen steht.“ (Tolkien 2008, S.414f.)
So wie der Elb die grauen Umhänge beschreibt, mit denen sie die neun Gefährten beschenken, bilden sie Metaphern auf das Land und auf das Leben der Elben. Die Umhänge bilden Gedichte, in die die Elben ihre schönsten Empfindungen und ihre edelsten Gedanken hineingewebt haben. Tatsächlich erinnern diese Umhänge sogar ein wenig an das, was Plessner ‚Seele‘ nennt: denn so sehr sie den tiefsten Empfindungen der Elben Ausdruck verleihen (Expressivität), so sehr entziehen sie – im Sinne des noli me tangere – zugleich ihre Träger den neugierigen Blicken einer zudringlichen Umwelt.

Pippins Frage nach dem ‚Zauber‘, den er in diesen Mänteln vermutet, versteht der Elb überhaupt nicht: „Gewiss sind es Elbengewänder, wenn es das ist, was du meinst.“ – Stattdessen verweist er auf die Liebe der Elben zu ihrem Land und auf die Zweckmäßigkeit der Kleidung.

Die Liebe zu ihrem Land ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Elben und den Hobbits. Auch die Hobbits werden als sehr heimatverbunden dargestellt. Tolkien hebt die „innige Erdverbundenheit“ der Hobbits hervor. (Vgl. Tolkien 2008, S.17) Und Tom Bombadil, immerhin wie Gandalf ein Halbgott, lobt den Hobbitbauern Maggot:
„Er hat Erde unter seinen Füßen und Lehm an seinen Fingern: Weisheit in seinen Knochen, und beide Augen hält er offen“. (Vgl. Tolkien 2008, S.158)
Weisheit wird hier mit Erde in Verbindung gebracht, und die unter der Erde wohnenden Hobbits werden oft mit Baumwurzeln verglichen, deren tiefverwurzelte Kraft, wie Gandalf hervorhebt, eine Charaktereigenschaft der Hobbits bildet:
„Weich wie Butter können sie sein, und doch bisweilen zäh wie alte Baumwurzeln. Ich halte es für wahrscheinlich, dass manche den Ringen weit länger widerstehen können, als die meisten Weisen vermuten würden.“ (Tolkien 2008, S.67)
Und damit wären wir auch wieder beim Thema ‚Macht‘. Denn auch Tom Bombadil, der seine Sympathie für die Hobbits äußert, hat sich an ein Stück Land gebunden, den Alten Wald und die Hügelgräberhöhen, in dessen Grenzen er sich als „Meister“ erweist. Und zwar als ein Meister des Seins. Auf die Frage Frodos, wer Tom Bombadil sei, antwortet Goldbeere schlicht und einfach: „ Er ist!“ (Vgl. Tolkien 2008, S.149)

Bombadil ist nicht dies oder jenes, und er hat keine bestimmte Eigenschaft. Er ist einfach. Und deshalb hat der Ring keine Macht über ihn. Weder wird er unsichtbar, wenn er sich den Ring auf die Finger steckt, noch wird für ihn Frodo unsichtbar, als er sich den Ring auf den Finger steckt: „‚He da!‘, rief Tom und schaute ihm mit einem höchst sehenden Ausdruck in seinen leuchtenden Augen nach. ‚He! Komm, Frodo. Wohin willst du denn? So blind ist der alte Tom Bombadil doch nicht. Nimm deinen goldenen Ring ab! Deine Hand ist hübscher ohne ihn.‘ ...“ (Tolkien 2008, S.159)

Apropos Heimatverbundenheit: angesichts der Pegida und AFD sollte es nicht unerwähnt bleiben, daß die Meisterschaft von Tom über den Alten Wald (und über den Ring) keinen Besitzanspruch beinhaltet. Der ‚Meister‘ des Alten Waldes ist nicht etwa dessen ‚Herrscher‘. Auf Frodos Frage, ob Tom den Alten Wald ‚besitzt‘, antwortet Goldbeere: „‚O nein‘, ... und ihr Lächeln verblasste. ‚Das wäre wahrhaftig eine Bürde ...‘“ (Tolkien 2008, S.149)

So erdverbunden die Hobbits im Auenland, Tom Bombadil im Alten Wald und die Hochelben in Lorien auch auftreten mögen: das Land, in dem sie leben und das sie bebauen (Hobbits), bewahren (Elben) oder bewachen (Tom Bombadil), gehört ihnen nicht. Gerade die Hobbits sind nach langer Wanderschaft in ihr Auenland eingewandert. Vorher lebten andere dort und nach ihnen werden wieder andere dort leben:
„‚Aber es ist nicht euer eigenes Auenland‘, antwortete Gildor. ‚Andere lebten schon hier, ehe es Hobbits gab; und andere werden hier wieder leben, wenn Hobbits nicht mehr sind. Die weite Welt erstreckt sich rings um euch: Ihr könnt euch absperren, doch könnt ihr sie nicht für immer aussperren.‘“ (Tolkien 2008, S.106)
Was die Hobbits also zu so geeigneten Ringträgern macht – wohlgemerkt: nicht Ringbesitzern! –, ist eben ihre Erdverbundenheit und ihre Neigung, sich komplizierteren Entwicklungen der Technologie zu verweigern. Tolkien selbst mochte keine Flugzeuge, die er als Kriegsflugzeuge kennengelernt hatte und die er mit der Kriegsmaschinerie der Orks verglich. Und er mochte keine Autos, weil er noch mitangesehen hatte, wie sie die von ihm so geliebten alten Innenstädte zerstörten, um sie ‚autogerechter‘ zu machen. Als man ihm Eskapismus vorwarf – ein beliebter Vorwurf gegenüber der sogenannten Trivialliteratur, die die Menschen zum Tagträumen verleitet, anstatt sie realitätstauglicher zu machen –, entgegnete er nur trocken, daß Eskapismus auch sein Gutes habe: etwa wenn man in einem Gefängnis sitzt.

Deshalb darf hier zum Schluß auch der Hinweis auf Peter Jacksons Hobbitverfilmung nicht fehlen. Den ersten Teil hatte ich noch als einigermaßen gelungen akzeptiert. In diesem Teil wird noch eine Geschichte erzählt. Aber die beiden anderen Teile haben keine Geschichte mehr. Hier dominiert alberne Action und Jacksons technikversessene Perfektionssucht. Aber die ganze 3D- und Super-HD-Technik, mit der Jackson wohl wieder den einen oder anderen Oskar abräumen wird, kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sich in einen medientechnischen Ork verwandelt hat. Es ist Jacksons Technologiebesessenheit, für die der Eine, alles beherrschende Ring steht. Jackson, Saruman und Sauron reichen sich die Hand.

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Freitag, 19. Februar 2016

Jim Knopf: die andere Geschichte

1. Von Jim Knopf zu Jimballa
2. Orte und Personen
3. Leitmotive in Michael Endes anderen Büchern

Anfang der 1980er Jahre verbrachte ich zusammen mit anderen Studenten und Freunden die Osterferien in der Schweiz, in Graubünden. Im Gemeinschaftsraum unserer Unterkunft lagen einige Bücher zum Schmökern, unter anderem die beiden Bände von Michael Endes „Jim Knopf“ (1960/62). Ich kannte die Geschichte in- und auswendig, weil ich als Kind immer wieder die Augsburger Puppenkiste im Fernsehen geguckt hatte. Jetzt nahm ich mir die beiden Bücher vor, um sie endlich auch einmal zu lesen. Und dabei erlebte ich etwas Erstaunliches. Hinter der Abenteuergeschichte eines kleinen Waisenjungen, der mit seinem väterlichen Freund, dem Lokomotivführer Lukas, auf große Fahrt geht, weil die Heimatinsel Lummerland für die wachsende Bevölkerung – mit ‚wachsende Bevölkerung‘ ist Jim Knopf gemeint – zu klein geworden war, war noch eine andere Geschichte verborgen!

Man kann den „Jim Knopf“ einfach nur als Abenteuergeschichte lesen. Wenn man aber genauer hinschaut, gibt es noch eine andere, damit kunstvoll verwobene große Erzählung über die Neuzeit und ihre industrielle Entwicklung. Und über das Verhältnis unserer Gesellschaft zu Natur und Technik.

Der Schlüssel zum Verständnis von „Jim Knopf“ ist die Polarität aller Orte und des Personals. Zu allen Orten, an die Jim Knopf und Lukas auf ihrer Aventiure gelangen, gibt es einen Gegenort; zu jedem Volk und zu jeder Person, mit dem und mit der die beiden Kontakt aufnehmen, gibt es ein Gegenvolk und eine Gegenperson. Kein Ort und keine Person, mit den Ausnahmen von Lukas, dem Lokomotivführer, und Herrn Ärmel, ist einfach das, was sie zu sein scheint, nicht einmal Lummerland, dieses biedere kleine Inselreich mit seinem schrulligen König Alfons dem Viertelvorzwölften. Darauf werde ich im Folgenden noch detailliert eingehen.

Es ist übrigens bezeichnend, daß Michael Ende zu Herrn Ärmel anmerkte, daß er nicht wußte, was er mit dieser Figur, nachdem er sie einmal eingeführt hatte, anfangen sollte. Es fand sich einfach keine Gegenperson zu Herrn Ärmel, allenfalls, wenn man so will, Frau Mahlzahn, weil auch Herr Ärmel im Verlauf der Geschichte als Lehrer fungiert und LiSi und Jim Knopf unterrichtet. Aber auf eine tiefere symbolische Bedeutung von Herrn Ärmel läßt sich daraus nicht schließen. Sogar Frau Waas, der Adoptivmutter von Jim Knopf, läßt sich die Lokomotive Emma als technischer Mutterersatz zuordnen. Darüberhinaus gibt es eine tiefere symbolische Beziehung zur Dame Aiuola in der „Unendlichen Geschichte“, die Bastian aufnimmt und ‚bemuttert‘. Frau Waas besitzt einen Kramladen, der alles enthält, was man zum Leben und zum Aufziehen eines Kindes braucht, während der Dame Aiuola diese Dinge sogar aus dem eigenen (Mutter-)Leib herauswachsen.

In diesem Post möchte ich vor allem auf die verborgene große Erzählung hinter der Abenteuergeschichte eingehen. Als Jim Knopf und Lukas dem zum Meerkönigreich gehörenden Schildnök Uschaurischuum und seiner Verlobten Sursulapitschi begegnen, erfahren sie, daß die Wasserwesen und die Feuerwesen, die Drachen in Kummerland, viele Jahrtausende lang Freunde gewesen waren und daß sie gemeinsam das Kristall der Ewigkeit geschaffen hatten. Seit etwa drei bis vier Jahrhunderten herrschte aber Feindschaft zwischen den Wasserwesen und den Feuerwesen, und das Wissen von der Herstellung des Kristalls ist verlorengegangen. Wenn man dazu noch berücksichtigt, daß die Wasserwesen in Dunkelheit leben – auch das Wissen um das Licht, mit dem man das Unterwasserreich der Wasserwesen erleuchten kann, ist verloren gegangen – und daß sie zehntausende von Jahren alt werden können, so haben wir es beim Reich des Meerkönigs mit der Natur zu tun, während Kummerland, das Reich der Feuerwesen, die Kohle abbauen und verfeuern und außerdem unter ihren Schwänzen Auspuffrohre haben, mit denen sie die Luft in ihrer Hauptstadt verpesten, in der es keine Treppen gibt, sondern nur Rampen, so daß man auf Rädern überhall hingelangen kann, die moderne Technik und Industrie versinnbildlicht. Mit anderen Worten: die Welt in „Jim Knopf“ (und nicht nur die) ist mit dem Beginn der Industrialisierung aus dem Gleichgewicht geraten, und Jim Knopf ist es, der alles wieder in Ordnung bringen muß.

Jim Knopfs Herkunft ist ein Rätsel. Eines Tages gelangt er als Baby per Postzustellung auf die Insel Lummerland, wo er von den Bewohnern adoptiert wird. Ganz besonders eng schließt sich Jim Knopf an Lukas den Lokomotivführer an. Jim Knopf weigert sich, lesen und schreiben zu lernen. Aber auf der gemeinsamen Abenteuerfahrt mit Lukas und seiner Lokomotive zeigt sich, daß Jim Knopf sehr mutig ist. Im Gegensatz zu LiSi. Lisi ist sehr ängstlich, aber dafür kann sie lesen und schreiben. So schreibt sie z.B. während ihrer Gefangenschaft in der Schule des Drachen Frau Mahlzahn eine Flaschenpost, in der sie um Hilfe bittet. Als Jim Knopf und Lukas sie und die anderen Kinder befreien, muß Jim Knopf zugeben, daß Lesen und Schreiben doch ganz nützlich sein können und ist bereit, nach seiner Rückkehr nach Lummerland bei Herrn Ärmel Unterricht zu nehmen.

In diesem ganzen Erzählkomplex um LiSi und Jim Knopf geht es vor allem um den Zusammenhang (oder Nicht-Zusammenhang) von Schule und Bildung. Zu diesem Komplex gehören auch die Piraten, die nicht richtig zählen und nur ganz fragmentarisch lesen und schreiben können. Sie wissen nicht, daß sie nicht dreizehn, sondern nur zwölf Piraten sind, und auch die Adresse auf dem Paket, mit dem sie Jim Knopf ursprünglich nach Kummerland schicken wollten, war so fehlerhaft verfaßt gewesen, daß das Paket irrtümlich in Lummerland abgeliefert worden war. Die Piraten stehen kollektiv für eine Erwachsenenwelt, die ihre Kinder zwangsweise in die Schule schickt (bei Frau Mahlzahn in Kummerland sind die Kinder an die Schulbänke angekettet), obwohl sie selbst, also die Erwachsenen, das Versagen dieser Schulbildung persönlich erlebt haben und sie auch als schlechtes Vorbild verkörpern.

Diese Schul-Unbildung zeigt sich besonders beim Hauptmann der Wilden 13, der, wie alle anderen Piraten, vermeintlicherweise nur einen einzigen Buchstaben des Alphabets beherrscht: das ‚K‘. Tatsächlich schreibt er aber immer nur ein ‚X‘, was der Postbote, als er das Paket mit dem kleinen Jim Knopf ablieferte, dann nicht als ‚Kummerland‘, sondern als ‚Lummerland‘ deutete. Letztlich steht dieses ‚X‘ des Piratenhauptmanns ähnlich wie das ‚X‘ in der Mathematik, das immer für eine Unbekannte steht, für die Identitätslosigkeit der Piraten, die sich untereinander nicht auseinanderhalten können, so daß jeder von ihnen als Hauptmann auftreten kann, wenn er nur den Stern am Hut trägt. Letztlich erweist sich Jim Knopf als die wahre 13, als der Hauptmann, den die Piraten immer schon mitgezählt hatten, ohne ihn zu kennen.

Übrigens scheint auch König Alfons der Viertelvorzwölfte von Lummerland mit seiner ganzen Schrulligkeit, der alle Welt mit seinen verworrenen Telephonanrufen belästigt, für so eine verkorkste Schulbildung zu stehen. Denn bei ihm hat es nicht zur ganzen ‚Zwölf‘ gereicht, womit er in gewisser Weise mit den Piraten auf einer Stufe steht, die zwar zwölf sind, aber sich für dreizehn halten.

Die ganze Schulbildung findet deshalb bezeichnenderweise in Kummerland bei Frau Mahlzahn statt. Die Drachen verfügen nur über dasjenige Wissen, mit dem man etwas machen und herstellen kann. Ihr Metier ist die Technik und die Industrie. LiSi hingegen steht mit ihrer Ängstlichkeit und Vielwisserei für viele andere Bewohner von Mandala, die mit ihrem Wissen überhaupt nichts anfangen können und sich damit vergnügen, Häuser aus zerbrechlichem Porzellan und Brücken aus Glas zu bauen, die Haare auf ihren Köpfen zu zählen und winzigkleine Elfenbeinkunstwerke zu schnitzen. Das riesige Reich wird von unfähigen Verwaltungsbeamten (Bonzen) regiert, und niemand ist in der Lage, als die Flaschenpost von LiSi, der Tochter des Kaisers, eintrifft, sich auf den Weg zu machen und sie zu retten.

Wir haben also technisches Wissen (Kummerland) auf der einen Seite und nutzloses Wissen (Mandala) auf der anderen Seite. Erst Jim Knopf, dem Analphabeten und mutigen Draufgänger gelingt es, gemeinsam mit Lukas (und der Lokomotive Emma), LiSi zu befreien, und Frau Mahlzahn gefangen zu nehmen, die sich nun in Mandala, wo sie der fehlenden Seite ihres technischen Wissens, der Kontemplation und der Meditation (nutzloses Wissen), begegnet, in einen goldenen Drachen der Weisheit verwandelt.

Das ist die erste der von Jim Knopf ermöglichten Zusammenführungen von bislang getrennten Aspekten der menschlichen Bildung. Eine weitere Verbindung ergibt sich aus der Heirat von Jim Knopf mit LiSi, die sich beide ebenfalls in ihren Stärken und Schwächen ergänzen. Und zum Schluß werden die Piraten, also die mißratene Erwachsenenwelt, die ihre Kinder einer sinnlosen Schulbildung unterwirft, zu Jim Knopfs Leibwächtern, nach dem Vorbild von Lukas dem Lokomotivführer, der Jim Knopf in allen seinen Abenteuern treu zur Seite steht und es auch von Anfang an nicht für nötig gehalten hatte, Jim Knopf zu zwingen, irgendetwas zu lernen, was er nicht lernen wollte. – Vielleicht steht ja Lukas doch noch für etwas anderes: angesichts der Bedeutung der Zahl ‚zwölf‘ könnte Lukas für einen der zwölf Apostel und den gleichnamigen Evangelisten stehen, der ja auch die ausführlichste Kindheitsgeschichte von Jesus (der ja ebenfalls ein Dreizehnter unter Zwölfen ist) verfaßt hat.

Jim Knopf selbst erfährt am Ende, daß er in langer Generationenfolge von einem der Heiligen drei Könige aus dem Morgenland abstammt und daß sein angestammtes Königreich Jamballa ist. Wie sich herausstellt, bildet Lummerland die oberste Bergspitze des vom Meer überfluteten Jamballa, das Jim Knopf, als es wieder aus dem Meer aufsteigt, in „Jimballa“ umbenennt. Mit der Umbenennung von „Jamballa“ in „Jimballa“ wird deutlich, worin der tiefere Sinn des Namens „Jim Knopf“ liegt. Der Knopf selbst fügt, wie bekannt, jenes Loch in Jims Hose wieder zusammen, das er sich beim Spielen immer wieder aufreißt. Schon dieser Knopf deutet also an, daß in all den Abenteuern, die Jim Knopf besteht, etwas zusammengefügt werden muß, was auseinandergerissen worden war. Indem Jim Knopf aber nun mit Hilfe der nicht mehr wilden Piraten ein Land namens „Jimballa“ regiert, zieht Michael Ende darüber hinaus auch eine Verbindung zum aus dem Griechischen stammenden Wort „Symbol“.

Der Name „Jim-Knopf“ spielt lautmalerisch auf das Wort „Sym-Bol“ an (Dada feiert dieser Tage seinen Hundertsten! – ;-), und „Jimballa“ verweist auf das griechische „symballein“, und beides bedeutet wiederum ‚zusammenfügen‘. Und es gibt da wirklich noch vieles, vieles mehr, was im Laufe von Jim Knopfs Abenteuern zusammengefügt wird. Dazu mehr im nächsten Post.

PS (6. Januar 2021):
Im „Atlas der verlorenen Sprachen“ (2020), S.64f.; Sichwort Yámana) stoße ich auf folgende Stelle:
„Jemmy Buttons Geschichte ist vielfach erzählt worden, unter anderem Mitte der 1950er Jahre von dem chilenischen Schriftsteller Benjamin Subercaseaux. Dessem Buch, ins Deutsche übersetzt, begegnete Michael Ende wohl bei den Recherchen zu seinem eigenen neuen Buch. Und so wurde aus Jemmy Button Jim Knopf, den Michael Ende selbst nie als Jugendroman verstanden wissen wollte. ‚Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer‘ erzählt im Gewand der Fantastik eine antirassistische Parabel, bei der die ‚Reinrassigen‘ die Bösen sind und Jim Knopf, der letzte Nachfahre aus dem Geschlecht des heiligen Dreikönigs Kaspar, im Land Jimballa zum König wird, indem er sich die Krone ‚auf seine schwarzen Kraushaare‘ setzt.“
Jemmy Button war demnach ein junger Angehöriger eines Indianerstammes, der von dem Kapitän Robert FitzRoy 1830 mit nach England genommen und dort ‚zivilisiert‘ worden war. Er kehrte dann nach Feuerland zurück und soll am ‚Massaker‘ an einer Gruppe von Missionaren beteiligt gewesen sein, was er selbst aber abstritt. Er starb 1866.

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