„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 19. Februar 2020

Wiedergewinnung des Ausdrucks

Das zentrale Thema des „Doktor Faustus“ (1947/1974), einer fiktiven Biographie des Komponisten Adrian Leverkühn, geschrieben von seinem Kindheitsfreund Serenus Zeitblom, ist die „Wiedergewinnung“ bzw. „Rekonstruktion des Ausdrucks“ mithilfe der Musik. (Vgl. Mann 1947/1974, S.643) Adrian Leverkühns Persönlichkeit wurde von Thomas Mann nach dem Vorbild von Friedrich Nietzsche gestaltet, bis in die Details einer Syphiliserkrankung und einer Adrian Leverkühns Karriere als Komponist beendenden Demenz hinein, die zu einer Rückkehr in die Obhut seiner Mutter führt.

‚Ausdruck‘ und ‚Form‘ stehen in einem spannungsvollen, antagonistischen Verhältnis zueinander: je künstlicher, je konstruierter die Form, um so ausdrucksloser erscheint sie uns. Der Ausdruck wiederum ist vor allem Ausdruck von Gefühl, von Lebensintensität; er ist expressiv. Und Thomas Mann verbindet diese Expressivität insbesondere mit der Expression von Schmerz und Leid, als den ursprünglichsten Zuständen der Kreatur. Insofern ist Ausdruck vor allem Klage, und ihr Gegenteil, das Lachen, zeugt nicht wie bei Plessner, von unserer Menschlichkeit, sondern deutet auf Gefühlskälte. So stellt Serenus Zeitblom fest:
„... die Klage ist der Ausdruck selbst, man kann sagen, daß aller Ausdruck Klage ist, wie denn die Musik, sobald sie sich als Ausdruck begreift, am Beginn ihrer modernen Geschichte, zur Klage wird und zum ‚Lasciatemi morire‘, zur Klage der Ariadne, zum leis widerhallenden Klagegesang von Nymphen.“ (Mann 1947/1974, S.644)
Deshalb ist es auch kein gutes Zeichen, daß Adrian Leverkühn zum Lachen neigt, insbesondere wenn er mit intensiven Gefühlen konfrontiert wird. Es ist ein leicht spöttisches, sich distanzierendes Lachen; da will und kann sich einer nicht gemein machen mit den Niederungen und Peinlichkeiten unserer Menschlichkeit.

Es ist also kein Wunder, daß Leverkühn für das Versprechen, Großes in der Musik schaffen zu können, seine Seele dem Teufel verkauft. Von Anfang an stellt der biedere Humanist Serenus Zeitblom die Musik, in Verbindung mit der Theologie, in der Leverkühn einen Doktortitel erwirbt, also insbesondere die sakrale Musik unter den Verdacht einer unkontrollierbaren Irrationalität, einer Nähe zum Teufel. Kein anderes Medium vermag den dämonischen Bodensatz im Menschen so sehr aufzuwühlen und ihm zum Durchbruch zu verhelfen wie die Musik.

Auf der anderen Seite steht die Künstlichkeit der Musik, ihre mathematische Konstruierbarkeit. Und im Dienste dieser ‚kalten‘ Konstruierbarkeit steht der Komponist Leverkühn. Gerade ihm aber soll es gelingen, in der perfekt konstruierten „Weheklag“ des „Dr. Fausti“ – dieses den Jubel von Beethovens neunter Symphonie zurücknehmenden Faust-Oratoriums, dieser Anti-Symphonie, in der Gott selbst die Welt nicht mehr erschaffen haben will, von ihr nichts mehr wissen will (vgl. Mann 1947/1974, S.643) – den verlorengegangenen Ausdruck wiederzugewinnen: im letzten „nachschwingend(en), im Schweigen hängende(n) Ton“ nämlich, „der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht“. (Vgl. Mann 1947/1974, S.651)

Mit einem Hinweis auf Adorno, der ihn beim Schreiben des Romans beraten hatte (vgl. „Die Entstehung des Doktor Faustus“ (1949/1974)), hebt Thomas Mann die enorme Bedeutung des Expressiven nicht nur für Adorno, sondern auch für den „Doktor Faustus“ hervor:
„Dieser merkwürdige Kopf hat die berufliche Entscheidung zwischen Philosophie und Musik sein Leben lang abgelehnt. Zu gewiß war es ihm, daß er in beiden divergenten Bereichen eigentlich das Gleiche verfolge.“ (Vgl. Mann 1949/1974, S.709)
Das „Gleiche“ in den beiden „divergenten Bereichen“ war für Adorno aber immer das Nicht-Identische, also das, was nicht in begrifflichen (oder musikalischen) Konstruktionen aufging: der Schmerz und das Leid der Kreatur.

Immer wieder kommt Serenus Zeitblom in seiner Biographie auf die verschiedenen Phasen in Leverkühns Leben zu sprechen, in denen die Grenze zwischen anorganischer und organischer Materie, zwischen dem Toten und dem Lebendigen verschwimmt und wo schon der toten Materie eine vergebliche Sehnsucht nach Leben innezuwohnen scheint. Dabei handelt es sich um chemisch-physikalische Experimente von Leverkühns Vater und um Adrians eigene Person, in der die Krankheit, kleinste das Gehirn bewohnende und zersetzende Erreger, geistige und kompositorische Höchstleistungen zu provozieren vermag.

Die unbelebte Materie tut so, als wäre sie belebt, indem sie organische Formen hervorbringt, wie etwa die Eisblumen auf Fensterscheiben im Winter, oder in einer Wasserlösung, die Leverkühns Vater angesetzt hat, in der aus einem anorganischen Bodensatz belebte Pflanzen, Organismen, hervorzuwachsen scheinen, die aber dennoch nichts als tote Materie sind. Serenus Zeitblom ist Augenzeuge und schreibt:
„... das Merkwürdigste, was mir je vor Augen gekommen: merkwürdig nicht so sehr um seines (des Experiments – DZ) allerdings sehr wunderlichen und verwirrenden Ansehens willen, als wegen seiner tief melancholischen Natur. Denn wenn Vater Leverkühn uns fragte, was wir davon hielten, und wir ihm zaghaft antworteten es möchten Pflanzen sein, – ‚nein‘, erwiderte er, ‚es sind keine, sie tun nur so. Aber achtet sie darum nicht geringer! Eben daß sie so tun und sich aufs beste darum bemühen, ist jeglicher Achtung würdig.‘“ (Vgl. Mann 1947/1974, S.65)
Wo Zeitblom selbst ein Unbehagen, aber auch ein vages Mitleid mit der toten Materie empfindet, entlockt das Experiment des Vaters bei Adrian nur ein Lachen.

So wie im chemisch-physikalischen Experiment tote Materie das Leben nachahmt, ahmt das Echo die menschliche Stimme nach. Der klagende Widerhall des Echos wird zur bestimmenden Struktur von „Dr. Fausti Weheklag“. Das Echo scheint Menschenlaute nachzuäffen, die aber nichts anderes sind als tote Naturlaute. So beginnt die Klage als Ausdruck schon in der toten Materie, aus deren Klage der Mensch als derjenige hervorgeht, dem die Stimme gegeben ist, der Klage Ausdruck zu geben. Wir haben es bei „Dr. Fausti Weheklag“ mit der kunstvollen Rekonstruktion eines Echos zu tun, das durch die Jahrtausende hallt. Hier beginnt die kulturelle Evolution des Menschen: mit der Expression, und nicht mit der Proposition, dem Aussagesatz der Linguisten, in dem es um die Mitteilung von Informationen geht.

In der Klage wird die Seele expressiv, die wiederum nichts anderes ist, als die Klage ihres Nicht-Seins, ihres sein Wollens, aber nicht sein Könnens. Und „Dr. Fausti Weheklag“ ist wiederum nichts anderes als die musikalische Rekonstruktion dieser Klage, auf höchstem künstlerischen, rational durchkalkuliertem Niveau, die am Ende umschlägt in Hoffnung, in die Wiedergewinnung dessen, was fehlt, als letzter verklungener, im Schweigen hängender Ton.

Aber letztlich: was unterscheidet diese Hoffnung von der Auskristallisation von Eisblumen auf Fensterscheiben? Thomas Manns Antwort: die Transzendenz der Verzweiflung. Ich nenne das die zweite Naivität, eine begriffliche Prägung, bei der sich Plessner übrigens auf Nietzsche beruft! (Vgl. „Die verspätete Nation“, 6/1998 (1935/59), S.174)

PS: Thomas Manns „Zauberberg“ (1924) und sein „Doktor Faustus“ (1947) haben die gleiche Thematik. In beiden Romanen spielen Epochenumbrüche eine zentrale Rolle: die Zeit vor dem ersten Weltkrieg und die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. In beiden Romanen geht es um das Verhältnis von Zeit und Musik, wobei die Musik eine beiden Romanen ähnliche ambivalente Bedeutung hat, als mal dämonisches, mal harmlos unterhaltendes und mal als geistig und seelisch erhebendes Medium. So auch die Krankheit. Der „Zauberberg“ spielt ja in einem Sanatorium; Hans Castorp, der Protagonist, und der Humanist Settenbrini streiten sich darüber, ob die Krankheit den Menschen ‚veredelt‘ bzw. ‚vertieft‘ oder ihn zum Tier erniedrigt. Die Parallele zum „Doktor Faustus“ geht bis hin zum bloß graduellen Hervorgang des organischen Lebens aus der anorganischen Materie, so daß in der Krankheit sich das Anorganische noch auf den Geist auszuwirken und ihn zu beflügeln vermag. Settembrini steht entschieden auf der Seite der Gesundheit. Darin – und auch in seinem Humanismus – gleicht Settembrini dem Biographen Zeitblom. Settembrini bezeichnet sich selbst auch als ‚Pädagogen‘; eine weitere Parallele zum Gymnasiallehrer Zeitblom. In Settembrinis Gegenspieler, Naphta, lassen sich unschwer die verschiedenen Verkörperungen des Mephisto aus „Doktor Faustus“ wiedererkennen.

Hans Castorp wiederum wird von Thomas Mann als jemand beschrieben, der nicht mehr in die schnellebige, sich rasch verändernde Zeit um 1900 paßt. Er ist gleichsam aus der Zeit herausgefallen, so wie ja auch das ganze Sanatorium ein Ort außerhalb der Zeit ist. Das paßt zu Adrian Leverkühn, der ebenfalls kein Zeitgenosse ist und sich auf einen Bauernhof am Rande der gesellschaftlichen Welt zurückgezogen hat. Es gibt also nicht nur thematische, sondern auch personelle Parallelen zwischen den beiden Romanen, bis in das Schicksal der beiden Protagonisten hinein: beide gehen am Ende zugrunde.

„Doktor Faustus“ scheint mir aber literarisch oder auch philosophisch bedeutsamer zu sein als der „Zauberberg“.

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