„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 20. Februar 2020

Hub (Humbert Chabuel): Okko

Vor dreizehn Jahren hielt ich zum erstenmal einen Comic von Hub in der Hand: „Okko – Das Buch des Wassers“ (2005/06), den Auftakt zu einer fünfteiligen Serie über einen herrenlosen Samurai, einen Ronin, der aus einer altehrwürdigen Familie von Dämonenjägern stammt. Er lebt in ‚Pajan‘, ein Anagramm für das mittelalterlichen Japan und außerdem der Name der regierenden Familie. Das Land gerät am Ende der Ära der Familie Pajan in einen verheerenden Bürgerkrieg. In dieser Zeit ist Okko mit seinen Leuten, einem Mönch, einem jungen Diener und einem maskierten Krieger unterwegs, um seine Dienste als Dämonenjäger überall dort anzubieten, wo er gerade gebraucht wird.

Es sind vor allem zwei bis drei Themen, die alle fünf Comicbände durchziehen und in jedem der Bände auf verschiedene Weise variiert werden: a) Die Natur von Dämonen und Menschen, denen sich das Dämonische und das Menschliche nicht eindeutig zuordnen lassen; und b) die Marionette als Metapher für das Schicksal des Menschen. Ein drittes (c) Thema, das alle fünf Bände durchzieht, ist die Ehre, dargestellt als Konflikt zwischen dem Ronin Okko und den Samurais, denen er begegnet. Immer wieder wird in den fünf Bänden die Ehrlosigkeit des Ronin gegen die Ehrenhaftigkeit der Samurai ausgespielt. Dabei schneidet Okkos Ehrlosigkeit gegenüber dem überkommenen, starren Ehrenkodex der Samurai insgesamt besser ab.

Im ersten Band, „Das Buch des Wassers“ (2005/06), erweisen sich zwei Vampirdämonen, die in einer abgelegenen Provinz das Haus des herrschenden Fürsten usurpiert haben, als menschlicher als die Dämonenjäger. Die Vampirdämonen lieben einander und ihr gerade geborenes Kind und sind rührend um das Wohl ihrer kleinen Familie besorgt. Die Dämonenjäger töten alle drei Dämonen. Bevor der den Körper des Fürsten bewohnende Vampirdämon stirbt, sagt er Okko die Wahrheit über die Menschen; und diese Wahrheit ist der Krieg.

Das Marionettenthema wird hier ebenfalls angedeutet: Der Vampirdämon und seine Frau bewohnen die Körper des toten Fürsten und der toten Fürstin. Sie sind also Marionettenspieler, und die menschlichen Leichen sind ihre Marionetten.

Im zweiten Band, „Das Buch der Erde“ (2007/2009), hat sich eine Gruppe von Mönchen der Aufgabe verschrieben, die verletzten Soldaten und Zivilisten auf den Schlachtfeldern im Pajan zu pflegen und zu versorgen. Um dem Krieg ein für allemal ein Ende zu bereiten und die gegenwärtige Gesellschaftsordnung durch eine gerechtere zu ersetzen, erforschen die Mönche die Gesetze von Leben und Tod und finden heraus, wie man die Toten auf den Schlachtfeldern wieder lebendig macht. Sie erschaffen eine Armee von Toten, bekämpfen mit ihr die Armeen der Lebenden und bringen so neues Leid und Unglück über die Menschen. Sie verwandeln sich durch ihr Wissen und trotz ihrer ursprünglich humanen Motivation in ‚Dämonen‘ und werden schließlich von Okko und seinen Dämonenjägern vernichtet.

Das Marionettenthema wird im Verhältnis von Mönchen und Toten aufgegriffen: die Mönche ‚spielen‘ mit der Armee der Toten als ihren Marionetten.

Im dritten Band, „Das Buch der Luft“ (2009/10, 2011), jagt der Dämonenjäger Kubban den maskierten Krieger aus Okkos Gruppe, Noburo, der, wie sich herausstellt, selbst ein Dämon ist. Als Tikku, der junge Diener von Okko, den Dämonenjäger ‚tötet‘, stellt sich heraus, daß Kubban schon längst tot und deshalb als lebender Toter selbst ein Dämon gewesen war. Kubban, der tote Dämonenjäger, war wiederum in einem Bunraku, einer Kampfmarionette, ‚eingebaut‘, also gewissermaßen die mittelalterliche Analogie zu einem modernen Cyborg. Kubban war demnach ein toter Dämonenjäger, der eine Marionettenapparatur bediente; also Dämonenjäger, Dämon und Marionettenspieler in einer Person.

Im vierten Band, „Das Buch des Feuers“ (2011/12, 2013), spielen Dämonen nur am Rande eine Rolle: Kappas bzw. Wasserdämonen. Es fällt auf, mit welcher Grausamkeit Noburo, der ja selbst ein maskierter Dämon ist, gegen die Kappas vorgeht.

Das eigentliche Thema ist ein Schauspieler, der sein Aussehen nach Belieben ändern kann. Er kann das Aussehen von beliebigen Männern und Frauen annehmen. Eine im Marionettenbau erfahrene Familie, die Ataku, hat ihm Seidenfäden unter die Haut gepflanzt und ihn so in eine Marionette verwandelt, die sich selbst ‚spielt‘. Mehrere Personen werden zu Opfern des Schauspielers; unter anderem auch Okko, der keine Ruhe gibt, als bis er seine vom Schauspieler beschmutzte ‚Ehre‘ wieder hergestellt hat. Das steht im Widerspruch zu Okkos sonstiger Ehrlosigkeit. Aber diese Ehrlosigkeit bezieht sich vor allem auf die Samurai-Ehre. Der Schauspieler aber hat Okko in seiner Ehre als kurzfristig angeheuerter Leibwächter des regierenden Pajan-Fürsten und seines Sohnes verletzt, den Okko, durch Tricks und Täuschungen des Schauspielers gezwungen, tötet.

Am Ende nimmt der Schauspieler die Position des wahnsinnig gewordenen Fürsten ein, um sich von im Hintergrund agierenden Beratern dirigieren zu lassen. Die ‚Marionette‘ erweist sich dann aber als eigenständiger, als es den ‚Strippenziehern‘ lieb ist.

Im fünften Band, „Das Buch der Leere“ (2014/15, S017), stellt sich heraus, daß Okko und Noburo Zwillinge sind. Okko wurde als Mensch geboren, Noburo als Dämon. Die Mutter entscheidet sich für den Dämon, mit dem sie aus dem Haus ihres Ehemanns flieht, und überläßt ihm Okko als Stammhalter. In der weiteren Entwicklung der beiden Zwillinge erweist der ‚menschliche‘ Okko sich aber als bösartig und deshalb als der eigentliche Dämon, während der ‚dämonische‘ Noburo durch seine Gutartigkeit auffällt. (Abgesehen von seinem Umgang mit anderen Dämonen! – Siehe die Kappas) Letztlich erweisen sich diese Klassifikationen aber als wertlos. Menschen sind immer zugleich auch Dämonen!

Okko zeigt aber auch, daß seine ursprüngliche Bösartigkeit ihn nicht daran hindert, Gutes zu tun. (Siehe auch im umgekehrten Fall Noburos Verhalten gegenüber den Kappas.) Okko kümmert sich um seine Gruppe, um den Mönch und um Tikku, und er setzt sich auch für andere in Bedrängnis geratene Menschen ein, mit denen er es im Laufe ihrer Abenteuer zu tun bekommt. Er hat es gelernt, seine innere Bösartigkeit, seinen ‚Dämon‘, zu disziplinieren.

In diesem Band wird übrigens in einer Rückschau beschrieben, wie der im dritten Band getötete Kubban zu seiner Marionettenrüstung kommt.

Ich rätsele noch daran herum, was es mit den Händen auf sich hat. Im „Buch der Luft“ wird Okko die Schwerthand abgeschlagen. Er kämpft dann mit der linken Hand weiter. Im „Buch des Feuers“ wird ein Graphiker mit der Amputation seiner Hände bedroht. Die Furcht vor dem Verlust seiner Hände traumatisiert ihn. Schließlich befreit sich der Graphiker von seiner Verlustangst, indem er lernt, seinen Mund als Ersatz für seine Hände zu verwenden. Im „Buch der Leere“ werden einem bösen Zauberer beide Hände abgeschlagen, woraufhin er seine magischen Kräfte verliert. Als aber die künftige Mutter von Okko und Noburo in Vertretung ihres erkrankten Ehemannes über den bösen Zauberer zu Gericht sitzt, verhöhnt der böse Zauberer sie damit, daß er trotz des Verlustes seiner Hände immer noch gefährlich sei, und dann verflucht er sie – benutzt also seine Zunge statt der Hände – und ihre Nachkommen, also auch Okko und Noburo, die als Dämon-Mensch-Mischungen auf die Welt kommen.

Zum einen sind also die Hände Instrumente der Macht und Ausdruck der Vollkommenheit ihrer Besitzer: Okko/Schwertkampf, Graphiker/Kunst, Zauberer/Magie. Andererseits sind sie aber auch ersetzbar: Okko/linke Hand, Graphiker/Mund und Zauberer/Zunge. Vielleicht stehen bei Okko und dem Graphiker die Hände für ihre Fähigkeit, das Schicksal zu meistern und Böses in Gutes zu verwandeln. Und vielleicht ist diese Fähigkeit der Grund, warum Okko nur die Schwerthand verliert, nicht beide Hände, wie der Zauberer, der dem Bösen verhaftet bleibt. Man könnte auch sagen: indem bei Okko die linke Hand an die Stelle der rechten Hand tritt, wird die Dominanz des Dämonischen durch die Dominanz des Menschlichen verdrängt.

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