„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 29. November 2023

Definiere ,Volk‛

Söder fordert die Ampel auf, dem „deutschen Volk“ die Vertrauensfrage zu stellen.
Ich fordere ihn auf: definiere ,Volk‛.

Samstag, 25. November 2023

Verzicht auf Bösewichter

In seinem Nachwort zu „Der Weg der Wünsche“ (2023) erörtert Patrick Rothfuss die Rolle von ausgemachten Bösewichtern in Fantasyromanen und kommt dabei auf ein Grundprinzip seiner eigenen Romane zu sprechen. Er verzichtet auf von Grund auf schlechte Protagonisten und will so zeigen, daß es Spannung auch ohne Feindseligkeit geben kann.

Zu der Liste von Schrecknissen, auf die er bislang verzichtet habe ‒ Schwertkämpfe, Koboldarmeen und Apokalypsen ‒, kommt auch noch Folgendes: „Niemand zerstörte irgendetwas in einem Vulkan und vernichtete damit die gesamte Magie, so dass die Elben auf ewig so traurig waren, dass sie für alle Zeit aus dieser Welt abhauten.“ (Rothfuss 2023, S.211)

Das ist eigentlich eine recht gute Zusammenfassung vom „Herrn der Ringe“.

Tatsächlich kommen in „Der Weg der Wünsche“ drei Anwärter auf das Prädikat „böse“ vor: Jessom, Rike und der verrückte Martin. Von diesen drei Anwärtern ist aber nur einer richtig böse. Jessom verprügelt regelmäßig seinen Sohn. Jemand, der das tut, kann einfach nicht gut sein!

Rothfuss’ Philosophie unterscheidet sich von der von Erich Kästner. In einem seiner Kinderbücher schreibt Kästner über einen Jungen, einen richtigen Widerling, daß es Kinder gebe, die von Anfang an schlecht seien und sich dann auch nicht mehr ändern. Sie seien wie Fernrohre, die man auseinanderziehen kann. Sie würden zwar immer länger, blieben aber immer ein Fernrohr.

Gut, daß es Autoren wie Patrick Rothfuss gibt.

Sonntag, 19. November 2023

Wie erkenne ich einen Antisemiten?

Jemand erklärte, woran man einen Antisemiten erkenne. Man frage einfach, wer am Klimawandel schuld sei: Juden oder Radfahrer? Angeblich antworten 9 von 10 darauf: „Warum Radfahrer?“

Ich habe diese an einen schlechten Witz erinnernde Frage schon öfter gehört. Mir selbst hat sie noch keiner gestellt. Aber ich stelle mir vor, mir würde sie gestellt und ich hätte sie noch nie gehört und würde damit in einem Moment überrascht, in dem ich mit so einer Frage überhaupt nicht rechne.

Was würde mir als erstes durch den Kopf gehen? Ich würde wahrscheinlich denken, daß der Fragesteller mit mir ein Gespräch über Antisemitismus führen will. Aber in einem Gespräch über Antisemitismus haben Radfahrer nichts zu suchen. Meine Antwort auf diese Frage wäre also ein verwundertes: „Warum Radfahrer?“

Und schon hätte ich mich als Antisemit geoutet.

Ein ähnliches Ergebnis hätten wir, wenn in meinem Kopf vor allem das Wort ,Klimawandel‛ hängengeblieben wäre, nach dessen Verursachung, zumindest in der Version, in der ich sie kenne, gefragt wird. So aus allen meinen Gedanken herausgerissen, in denen gerade Antisemitismus überhaupt keine Rolle gespielt hatte, würde ich möglicherweise denken, daß alle Menschen mehr oder weniger schuld daran sind, am wenigsten aber die Radfahrer. Einmal innerlich bis zehn gezählt und dann noch einmal auf die Frage geschaut, hätte ich aber mit Sicherheit gemerkt, daß es sich um eine Fangfrage handelt. Wer aber tut das schon?

Auf diese Art funktionieren alle Fangfragen. Eine Frage, auf die man naiv wie auf jede einfache Frage reagiert, entpuppt sich plötzlich als Trick. Sie kann als bloßer Scherz gemeint sein oder auch auf eine nicht besonders nette Unterstellung abzielen.

Tatsächlich habe ich den Eindruck, daß ein nicht geringer Teil der derzeitigen Antisemitismusdebatte auf diesem Niveau verläuft. Diese Frage wurde in einem Interview in der heutigen DLF-Sendung von „Informationen und Musik“ ernsthaft als Antisemitismustest vorgeschlagen. Man solle sie beliebigen Menschen, wo sie gerade „stehen, sitzen oder liegen“, stellen. Aber inzwischen ist diese spezielle Fangfrage wohl allgemein so bekannt, daß sich keiner mehr von ihr überrumpeln läßt.

Wo es um etwas geht, mit dem es uns wirklich ernst ist, sollten wir deshalb auf rhetorische Tricks aller Art verzichten.

Freitag, 17. November 2023

Die Wertegemeinschaft und das Grundgesetz

Die islamistische Hizb ut-Tahrir, die „Partei der Befreiung“, bezeichnet die westlichen Demokratien als „Wertediktatur“. Daß diese Kombination aus den Begriffen ,Werte‛ und ‚Diktatur‛ eine gewisse Plausibilität hat, liegt an einem weitverbreiteten Mißverständnis. Dieses Mißverständnis hängt mit dem dieser Tage in der Politik wiedermal besonders gern verwendeten Appell an die westliche „Wertegemeinschaft“ zusammen.

Ich habe mich schon an anderer Stelle dazu geäußert und will das jetzt nicht nochmal im Detail aufdröseln. Letztlich geht es beim Begriff der Wertegemeinschaft darum, daß in der Politik gerne die gemeinsamen Werte demokratischer Staaten, insbesondere diesseits und jenseits des Atlantiks, hervorgehoben werden. Aber tatsächlich unterscheiden sich die jeweiligen Werte und die Staatsverfassungen in den USA, Kanada, Südamerika, Afrika, Asien, Australien und Europa zum Teil erheblich, so daß eigentlich nur von einer weitläufigen Verwandtschaft in den Wertesystemen gesprochen werden kann.

Was die bundesdeutsche Verfassung betrifft, das Grundgesetz, haben wir es nicht etwa mit konkreten Werten zu tun, die für alle verbindlich sein sollen, sondern mit formalen Regeln, die es gerade ermöglichen sollen, daß alle Bürger dieses Staates nach ihren eigenen Werten leben können. Grundrechte wie die Meinungsfreiheit und das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung sind, was konkrete Werte betrifft, völlig inhaltsleer. Nur deshalb kann ich freimütig gestehen, daß ich eben nicht dieselben Werte habe wie die FDP oder die CDU. Wäre ja noch schöner, wenn die mir vorschreiben könnten, was ich für richtig und was ich für falsch zu halten habe und wie ich mein Leben zu führen habe!

Ich habe auch nicht dieselben Werte wie große Teile der Bevölkerung, denen das Schicksal des Planeten und kommender Generationen am Arsch vorbeigeht, weil sie sich noch möglichst viel von den letzten Krümeln des längst aufgefressenen Kuchens sichern wollen, bevor alles zuende ist.

Ha! ‒ Es tut richtig gut, sich das mal wieder von der Seele kotzen zu können.

Aber das wars dann auch schon. Ich gehe eben nicht hin, um meine lieben Mitbürger zu ihrem Glück zu zwingen. Sie haben das Recht auf ihre bescheuerte Meinung. Auf ihr verkorkstes Leben. Und es ist eben letztlich eine Sache der Politik, also eine Sache, die uns alle angeht, aus dieser Gemengelage etwas zu machen.

Ich verhalte mich also, wie es uns das Grundgesetz auferlegt, und respektiere die Freiheit des Andersdenkenden. Denn nur wenn die anderen anders denken dürfen, kann auch ich anders denken. Und vielleicht auch anders leben. So gut es die Verhältnisse eben zulassen. Und vielleicht ändern die sich dann auch. Wenns geht hoffentlich zum Guten.

Das jedenfalls ist es, was das Grundgesetz ermöglichen möchte. Dafür wurde es vor 66 Jahren geschaffen.

Wir dürfen unser Leben an unterschiedlichen Werten orientieren, ohne uns dem Zwang einer Wertegemeinschaft unterwerfen zu müssen. Denn wäre es nicht so, hätten wir eine Wertediktatur.

Sonntag, 12. November 2023

Hört Radio

Angesichts der Debatte um den Terrorüberfall der Hamas in Israel und dem Krieg in Gaza empfehle ich, auf das Radio zurückzugreifen. Insbesondere im Deutschlandfunk wird noch differenziert recherchiert, berichtet und diskutiert.

Folgende Sendungen haben mich überrascht und gefreut:

Sonntag, 5. November 2023

Betroffenheitspflicht und Denkverbot

Immer wieder habe ich mich seit dem 7. Oktober gefragt, warum ich mich in meinem Blog bislang nicht zu den Vorgängen in Israel geäußert habe. Ich bin sonst immer schnell bereit, politisch Stellung zu beziehen. Es gibt eigentlich kein Thema, zu dem ich keine Meinung habe. Und gerade den Antisemitismus empfinde ich als eines der größten historischen Übel, das längst hätte überwunden sein müssen und das es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Mit antisemitischen Einstellungen kann es keine politischen und keine zivilgesellschaftlichen Kompromisse geben!

Erst mit einem DLF-Interview mit Esther Dischereit (30.10.2023) ist mir das eine oder andere über meine eigenen inneren Widerstände klar geworden. Der zentrale Punkt, den Dischereit anspricht, ist die staatlich und zivilgesellschaftlich geforderte bedingungslose Solidarität mit Israel. Diese Solidarität, so Dischereit, kann sich eigentlich nur auf das Existenzrecht des israelischen Staates beziehen. Dieses Existenzrecht allein ist es, das uneingeschränkt anerkannt werden muß. Die Bedingungslosigkeit einer generellen Solidarität impliziert hingegen immer auch Solidarität mit der jeweiligen Regierung inklusive ihrer Politik, was angesichts einer, wie es immer so schön heißt, „in Teilen“ rechtsextremen Regierung, nicht in Frage kommen kann.

Das Existenzrecht allein ist es, das uneingeschränkt anerkannt werden muß. Darüber hinausgehende Solidaritätsansprüche sind, auch angesichts der komplexen, widerspruchsvollen Historie des Nahostkonflikts, unangebracht.

Mein Versuch, immer sorgfältig zwischen dem Staat und den Menschen zu unterscheiden und meine Solidarität hauptsächlich auf die Menschen in diesem Staat zu beziehen, richtet sich auf alle Staatsformen, also auch auf Demokratien. Denn alle wahlberechtigten Bürger eines Staates sind der Willkür des Wahlverhaltens einer jeweils aktuellen Mehrheit ausgeliefert und dann Opfer einer von ihnen abgelehnten Politik. Das gilt insbesondere für einen Staat, der zwar eine Demokratie ist, aber über keine geschriebene Verfassung verfügt, die Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz garantiert.

Meine Solidarität gilt nun vor allem auch den Menschen des Landes, in dem ich lebe. Der plötzlich wieder offen zutage tretende Antisemitismus zeigt, wie sehr gerade elementare Ansprüche auf menschlichen Umgang wieder einmal in Deutschland mit Füßen getreten werden. Was zur Zeit in Deutschland geschieht, hat zwei Gesichter. Da sind die täglichen Übergriffe auf jüdische Mitbürger, die sich nicht mehr trauen, auf der Straße ihre Kippa zu tragen oder sich den Davidstern umzuhängen. Und da sind die Haßausbrüche auf pro-palästinensischen Demonstrationen. Hier, im täglichen Umgang mitten in Deutschland, ist es für jeden anständigen Mitbürger klar, wie sie oder er dazu zu stehen hat: gegen den Haß und die Menschenverachtung, die hier zum Ausdruck kommen.

Das andere Gesicht ist ein politisches; ein staatspolitisches und auch ein zivilgesellschaftliches. Hier wird von ,oben‛ herab, also von Instanzen mit gesellschaftlicher Autorität, ein allgemeines Betroffenheitsgebot ausgesprochen, das mit einem konkreten Denkverbot einhergeht. Geradezu pedantisch, bis hin zur schematischen Vorgabe korrekter Formulierungen, werden potenzielle und tatsächliche Grenzüberschreiter zur Unbedingtheit proisraelischer Solidaritätsbekundungen ermahnt.

Jeder Versuch einer Differenzierung wird als ,Ja-Aberismus‛ diffamiert. Das Wort „aber“ ist regelrecht auf den Index gesetzt worden. Wer aber nicht mehr aber sagen darf, darf eben auch nicht mehr denken. Nichts braucht das Denken mehr als das Wörtchen „aber“. Denken heißt differenzieren. Differenzieren heißt, daß es zu jeder These eine Anti-These gibt und zu jedem Standpunkt ein „aber“.

Betroffenheit ist wichtig. Als ich in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober ‒ für mich ist das Radio die wichtigste Informationsquelle, nicht das Fernsehen und auch nicht die sozialen Medien ‒ von dem Überfall der Hamas auf beliebige, unbeteiligte Menschen in Israel erfuhr, hatte ich noch keine Vorstellung davon, was da wirklich passiert war. Erst im Verlauf der Woche erfuhr ich von Details, die mir dann wirklich unter die Haut gingen; die mich fassungslos machten.

Noch einmal: Betroffenheit ist wichtig! Aber wie lange hat sie anzudauern? Ab wann darf man wieder denken und damit zwangsläufig relativieren? Wer verfügt über das Recht, dem Denken eine Frist zu setzen; bis wann es unpassend ist und ab wann wieder erlaubt?

Es gibt keinen Staat auf diesem Planeten, auch nicht der, dessen Bürger ich bin, der einen Anspruch auf meine bedingungslose Solidarität hat. Aber alle Staaten haben ein Existenzrecht. Und alle Menschen haben das Recht, sich staatlich zu organisieren. Dieses Recht gilt uneingeschränkt.

Freitag, 3. November 2023

ChatGPT leidet unter Kryptomnesie

Oder anders ausgedrückt: ChatGPT ist quellenblind. Ein Bekannter erzählte mir, daß er vergeblich versucht habe, ChatGPT dazu zu bringen, Auskunft über die in den von dieser KI generierten Texten verwendeten Quellen zu geben. Die einzige Antwort, die er erhalten hat, war, daß das alles „allgemein bekannt“ sei.

Mich wundert das nicht. Denn um Quellen zu beurteilen, muß man zwischen seriösen und unseriösen Quellen unterscheiden können. Woher sollte eine KI diese Fähigkeit haben? Zu den von mir aufgestellten Kriterien, inwiefern sich KI und menschliche Intelligenz unterscheiden, gehört die Fähigkeit, zwischen Innen und Außen, zwischen Fiktion und Realität zu differenzieren. Dafür fehlt jeder denkbaren KI, buchstäblich, das ,Sensorium‛.

Für eine KI sind alle Informationen einander gleichartig. Es gibt keine Qualitätsunterschiede. Lügen sind genauso Informationen wie Wahrheiten.

Es ist also kein Wunder, daß eine KI, wenn sie beim Generieren von Texten ihre eigenen Produkte konsumiert, verblödet. Mit anderen Worten: je mehr ChatGPT-Texte in Umlauf kommen, um so weniger intelligent fallen sie aus.

Das ist meine ultimative Liste von Fähigkeiten, über die nur ein menschliches und bei einigen Punkten auch animalisches Bewußtsein verfügt:
  1. Der Mensch ,apperzipiert‛. Einfach gesagt: er denkt bei allem, was er tut, mit; bis hin zu unseren Wahrnehmungen, die wir bewußt erleben, also mit Denken begleiten. Die KI kann nur rechnen. Sie kann noch nicht mal ihr Rechnen mit Rechnen begleiten, geschweige denn mit einem Denken.
  2. Die menschliche Wahrnehmung (und das Bewußtsein) basiert auf Gestaltwahrnehmung und nicht auf Informationsverarbeitung. Wir können Vordergründe aus Hintergründen herausfokussieren, ohne dabei den Hintergrund zu wechseln. Wenn mehrere Menschen ein Bild wahrnehmen, sieht jeder etwas anderes. Und wir können dieselbe Figur (Vordergrund) vor wechselnden Hintergründen wiedererkennen. Mit Gestaltwahrnehmung hat die KI erhebliche Probleme. Wird sie auch immer haben.
  3. KI ist gut in Performanz (im stupiden Ausführen von Algorithmen), aber schlecht in Kompetenz. Beim Menschen ist das umgekehrt.
  4. Menschliches Bewußtsein basiert auf Kommunikation, KI auf Statistik. Deshalb ist es auch verhängnisvoll, von Maschinenkommunikation zu reden. Maschinen kommunizieren nicht. Sie interagieren. Das ist auch schon alles, was sie können.
  5. Das menschliche Bewußtsein basiert auf der Unterscheidung zwischen Innen und Außen: innen = Bewußtsein, außen = Wirklichkeit. Dazu gehört die Fähigkeit, zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können. Keine KI ist dazu fähig. Für sie ist alles Information. Sie kennt keinen Unterschied zwischen Einhörnern und einem Verkehrsunfall. Ihre eigenen Rechenprozesse sind ihr nicht innerlich, sondern äußerlich. Alles ist außen, alles ist Information.
  6. Das menschliche Bewußtsein ist substratabhängig. Seine Basis ist die Biochemie des menschlichen Körpers. KI ist substratunabhängig. Folglich ist menschliches Bewußtsein auch nicht auf eine Festplatte hochladbar. Oder runterladbar? Egal. Geht einfach nicht!
  7. Das über unseren ganzen Körper und auch im Inneren unseres Körpers und seiner Organe verteilte multimodale Tastsinnessystem ist ständig aktiv und beansprucht, beim Wachen und beim Schlafen, jederzeit 100 Prozent der Gehirnaktivität. Auf diese Weise vermittelt uns das Tastsinnessystem, als ständiges Hintergrundrauschen, unsere Existenzgewißheit.