„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 17. November 2023

Die Wertegemeinschaft und das Grundgesetz

Die islamistische Hizb ut-Tahrir, die „Partei der Befreiung“, bezeichnet die westlichen Demokratien als „Wertediktatur“. Daß diese Kombination aus den Begriffen ,Werte‛ und ‚Diktatur‛ eine gewisse Plausibilität hat, liegt an einem weitverbreiteten Mißverständnis. Dieses Mißverständnis hängt mit dem dieser Tage in der Politik wiedermal besonders gern verwendeten Appell an die westliche „Wertegemeinschaft“ zusammen.

Ich habe mich schon an anderer Stelle dazu geäußert und will das jetzt nicht nochmal im Detail aufdröseln. Letztlich geht es beim Begriff der Wertegemeinschaft darum, daß in der Politik gerne die gemeinsamen Werte demokratischer Staaten, insbesondere diesseits und jenseits des Atlantiks, hervorgehoben werden. Aber tatsächlich unterscheiden sich die jeweiligen Werte und die Staatsverfassungen in den USA, Kanada, Südamerika, Afrika, Asien, Australien und Europa zum Teil erheblich, so daß eigentlich nur von einer weitläufigen Verwandtschaft in den Wertesystemen gesprochen werden kann.

Was die bundesdeutsche Verfassung betrifft, das Grundgesetz, haben wir es nicht etwa mit konkreten Werten zu tun, die für alle verbindlich sein sollen, sondern mit formalen Regeln, die es gerade ermöglichen sollen, daß alle Bürger dieses Staates nach ihren eigenen Werten leben können. Grundrechte wie die Meinungsfreiheit und das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung sind, was konkrete Werte betrifft, völlig inhaltsleer. Nur deshalb kann ich freimütig gestehen, daß ich eben nicht dieselben Werte habe wie die FDP oder die CDU. Wäre ja noch schöner, wenn die mir vorschreiben könnten, was ich für richtig und was ich für falsch zu halten habe und wie ich mein Leben zu führen habe!

Ich habe auch nicht dieselben Werte wie große Teile der Bevölkerung, denen das Schicksal des Planeten und kommender Generationen am Arsch vorbeigeht, weil sie sich noch möglichst viel von den letzten Krümeln des längst aufgefressenen Kuchens sichern wollen, bevor alles zuende ist.

Ha! ‒ Es tut richtig gut, sich das mal wieder von der Seele kotzen zu können.

Aber das wars dann auch schon. Ich gehe eben nicht hin, um meine lieben Mitbürger zu ihrem Glück zu zwingen. Sie haben das Recht auf ihre bescheuerte Meinung. Auf ihr verkorkstes Leben. Und es ist eben letztlich eine Sache der Politik, also eine Sache, die uns alle angeht, aus dieser Gemengelage etwas zu machen.

Ich verhalte mich also, wie es uns das Grundgesetz auferlegt, und respektiere die Freiheit des Andersdenkenden. Denn nur wenn die anderen anders denken dürfen, kann auch ich anders denken. Und vielleicht auch anders leben. So gut es die Verhältnisse eben zulassen. Und vielleicht ändern die sich dann auch. Wenns geht hoffentlich zum Guten.

Das jedenfalls ist es, was das Grundgesetz ermöglichen möchte. Dafür wurde es vor 66 Jahren geschaffen.

Wir dürfen unser Leben an unterschiedlichen Werten orientieren, ohne uns dem Zwang einer Wertegemeinschaft unterwerfen zu müssen. Denn wäre es nicht so, hätten wir eine Wertediktatur.

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