„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 31. März 2023

Fatalismus und Denkverweigerung

Ich bin jetzt mit Montaignes Essays durch, denn ich habe einige hundert Seiten übersprungen oder nur flüchtig durchgeblättert und bin nur an wenigen Stellen hängengeblieben, die hier nichts zur Sache tun. Ich bin mit Montaignes Buch nicht anders umgegangen, als er selbst, nach eigenem Eingeständnis, mit Büchern umzugehen pflegte.

Wenn es darum geht, alles in wenigen Worten zusammenzufassen, fallen mir zwei ein: Fatalismus und Denkverweigerung. ‒ „In meiner Unwissenheit über das große Ganze lasse ich mich für meinen Teil lässig vom allgemeinen Weltgesetz führen. Es wird mich genug von sich wissen lassen, wenn ich es fühle. Kein mir eignes Wissen könnte es je von seinem Weg abbringen: Mir zuliebe wird es sich gewiß nicht ändern.“ (Essais (1998), S.541, Sp.2)

Fatalismus und Denkverweigerung sind letztlich die Quintessenz dessen, was Montaigne unter ,Erfahrung‛ versteht, dem Titel seines letzten Essays. Von den Wissenschaften will Montaigne nichts wissen, außer der einzigen, in der es um ihn selbst geht: „Ich, der ich mich mit keiner andren Wissenschaft befasse, finde in dieser eine so unendliche Tiefe und Vielfalt, daß mein Lernen als einzige Frucht hervorbringt, mich fühlen zu lassen, wieviel mir zu lernen bleibt.“ (Essais (1998), S.542, Sp.2)

Was aber bleibt für den zu lernen, der sich weigert zu lernen? ‒ „Gehorsam gegenüber den mir vorgeschriebenen Glaubenssätzen“! (Vgl. Essais (1998), S.543, Sp.1)

Mit anderen Worten: Nichts.

Mittwoch, 29. März 2023

Noch ein paar Beispiele (Montaigne (1580/1998))

Jetzt komme ich doch nochmal auf einen Essay von Montaigne zu sprechen. In dem ersten Essay des zweiten Buchs, „Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns“ (vgl. Essais (1998), S.165ff.), finde ich ein Zitat, das ich vor sieben Jahren in einem Aufsatz von Charlotte Bretschneider, „Zum Beispiel Michel de Montaigne“ (2015), gelesen hatte und nach dem ich bislang insgeheim auf der Suche gewesen bin: „Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, daß jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will ...“ (Essais (1998), S.168, Sp.1) ‒ Dieses Zitat war damals für mich der Anlaß für zwei Vierzeiler über Gebetsfahnen gewesen.

Obwohl mich damals diese Textstelle so berührt hatte und obwohl ich mich jetzt über die Wiederentdeckung in dem Essay gefreut habe, machen doch diese erbärmlichen Beispiele, mit denen Montaigne hantiert, den guten Eindruck gleich wieder zunichte. Um die Wechselhaftigkeit der menschlichen Natur zu veranschaulichen, erzählt er die Geschichte einer jungen Frau, die aus Angst vor einer Vergewaltigung aus dem Fenster springt: „Während der blutigen Wirren in unserem armen Staat berichtete man mir, daß ein junges Mädchen sich ganz in der Nähe des Ortes, an dem ich mich aufhielt, aus dem Fenster gestürzt hatte, um der Vergewaltigung durch einen in ihrem Haus einquartierten Soldaten zu entgehn. Der Sturz war aber nicht tödlich, daher suchte sie ihr verzweifeltes Unternehmen auf andere Art fortzusetzen und sich die Kehle durchzuschneiden; hieran wußte man sie zwar zu hindern, jedoch erst, nachdem sie sich schwer verletzt hatte. Kurz hernach nun gestand sie, daß sie von dem Soldaten keineswegs weiter als mit Anträgen, Umwerbungen und Geschenken bedrängt worden sei; sie habe aber befürchtet, daß er schließlich doch noch Gewalt anwenden würde. Und dazu ihre Worte, ihre Gebärden und das vergoßne Blut ‒ wahrlich eine zweite Lucretia.“ (Essais (1998), S.166, Sp.1 und 2)

Dann aber, so Montaigne, stellte sich heraus, daß die junge Frau keineswegs so züchtig gewesen sei, wie diese Geschichte nahelegt. Sie hatte vielmehr schon einige Männer gehabt. Und er folgert daraus: „Schöner und anständiger Jüngling, wenn dein Eroberungsversuch mißglückt ist, schließ hieraus nicht gleich, die Keuschheit deiner Angebeteten sei unantastbar ‒ der Eselstreiber wird vielleicht sein Schäferstündchen finden.“ (Essais (1998), S.166, Sp.2)

So wird ein Vergewaltigungsversuch erst zu einem Heiratsantrag verniedlicht, und dann wird aus dem Opfer, das vielleicht nur erfolglos von seinem Recht, „Nein!“ zu sagen, hatte Gebrauch machen wollen, eine launische Prostituierte. Ansonsten interessiert sich Montaigne herzlich wenig dafür, was genau da eigentlich vorgefallen ist, daß es einen Menschen zu so einer verzweifelten Flucht veranlaßt haben konnte.

Auch bei den anderen Beispielen, die Montaigne für die Wechselhaftigkeit des Menschen anführt, wird vor allem eines deutlich: sein rigider, eindimensionaler Tugendbegriff. Frauen haben immer züchtig und sittsam zu sein, was sie launischer und wechselhafter Weise natürlich nicht sind; Soldaten haben immer tapfer und tollkühn zu sein (Montaigne bringt gleich mehrere von diesem Schema abweichende Beispiele: selbstverständlich alle launisch und wechselhaft); dann ist da noch der  Mann, der im Kampf sein Leben riskiert, aber sich dann launisch und wechselhaft „wie ein Weib“ verhält, weil er sich über den Verlust „seines Sohns die Haare rauft“; und sogar der ,große‛ Alexander, wie ihn Montaigne immer nennt, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er trotz all seiner tollkühnen Tapferkeit zu Zornausbrücken neigte und sogar abergläubisch gewesen sei, weshalb Montaigne den Verdacht äußert, daß dieser Alexander wohl doch eher ein ängstlicher Mensch gewesen sei. (Vgl. Essais (1998), S.166, Sp.2 und S.167, Sp.1 und 2)

Das Thema „Wechselhaftigkeit“ hätte sich zu einer ernstzunehmenden Anthropologie ausbauen lassen, die ihren Namen zu Recht trüge. Manche hätte das gereizt. Charlotte Bretschneider hatte in Montaigne so jemanden zu erkennen geglaubt. Ich kann ihr darin nicht folgen.

Dienstag, 28. März 2023

Montaigne (1580/1998): „von der Leere erfüllt“

Die letzten 14 der insgesamt 57 Essays im ersten Buch kann man sowohl von der Thematik her als auch wegen ihrer liederlichen Ausführung komplett vergessen. Ein ChatGPT hätte mehr zu bieten als Montaigne. Selbst so ein anspruchsvoller Titel wie „Über die Unsicherheit unserer Urteile“ (vgl. Essais (1998), S.142ff.) krönt einen Text, in dem es nur darum geht, was im Leben, insbesondere in der Kriegsführung so alles schiefgehen kann. Kein Wort darüber, was es eigentlich mit der Urteilskraft auf sich hat. Keine Arbeit am Begriff.

Lediglich unter dem wiedermal nichtssagenden Titel „Demokrit & Heraklit“ (vgl. Essais (1998), S.153f.) gibt es den einen und anderen interessanten Satz. Allerdings muß man sich erst zu Beginn des 50. Essays durch Sätze quälen, in denen Montaigne unsägliche Behauptungen über das Denken aufstellt. So stellt er fest, daß es ihm beim Denken nie um die Sache geht. Jede sei ihm „gleich gut“, und er plane nie, „sie erschöpfend darzulegen, denn von nichts sehe ich das Ganze“. (Vgl. Essais (1998), S.153, Sp.1) ‒ Er fühle sich „weder dem Leser noch mir selbst gegenüber verpflichtet, mich streng an die jeweilige Sache zu halten“, und er glaubt, das Recht zu haben, „nach Lust und Laune seine Meinung ändern“ zu können. (Vgl. Essais (1998), S.153, Sp.1)

Montaigne legt eine sehr beschränkte Vorstellung vom Denken an den Tag, wenn er vom „Ganzen“ spricht, das er nicht sehen könne. Denn es gibt nicht nur das Ganze einer Welt, deren Horizonte wir tatsächlich niemals ausschöpfen können. Das würde nur dazu führen, daß wir vor lauter Wald die Bäume nicht sehen.

Aber das jeweilige Teilstück, dem wir uns denkend zuwenden, bildet für sich ein Ganzes. Und sich diesem Ganzen nicht stellen zu wollen, grenzt an Denkverweigerung. Hinzu kommt die Notwendigkeit, unseren Gegenstand zu analysieren, ihn also selbst wieder in Teile zu zerlegen. Auch hier haben wir es wieder mit einer Denkverweigerung zu tun, wenn wir uns den Anstrengungen der Analyse verweigern.

Letztlich aber erfüllt Montaigne noch nicht einmal die Mindestanforderung an jedes Denken: sich in ein und demselben Text nicht selbst widersprechen zu dürfen. Und das hat nichts mit dem Recht zu tun, seine Meinung jederzeit auch ändern zu können!

Zum Schluß noch die wenigen Stellen, die mir gefallen. Wenn Montaigne mal nicht wieder durch Heldenverehrung geblendet ist, kann er sich auch sehr nüchtern und sachlich über den Menschen äußern:

„... mir scheint, wir könnten, wenn es nach unseren Verdiensten ginge, nie genug verachtet werden. ... Nicht so sehr vom Bösen sind wir erfüllt wie von der Leere. Wir sind nicht so erbarmungs- wie nichtswürdig. ... Das Besondere unseres Menschseins (im Vergleich zu Tieren) besteht darin, daß wir zugleich des Lachens fähig und lächerliche Wesen sind.“ (Essais (1998), Spl.1; Klammer von mir)

Chapeau!

Damit aber will ich jetzt doch den Montaigne-Posts ein Ende setzen. Es artet sonst zu einem endlosen Montaigne-Bashing aus.

Sonntag, 26. März 2023

Montaigne (1580/1998): „... stets ich zu zweit zu sein ...“

Tatsächlich stoße ich unter all diesen Essays, so weit ich mich bislang durch sie hindurch gequält habe, auch mal auf einen, der mich in meinem eigenen Denken herausfordert. Es handelt sich um den 28. Essay, über die Freundschaft. (Vgl. Essais (1998), S.98ff.) Es ist der bislang einzige Essay, bei dem ich beim Lesen spüre, daß es Montaigne hier tatsächlich um etwas geht, denn an den entscheidenden Stellen werden die Beispiele, mit denen er sonst um sich wirft, plötzlich rar. Stattdessen arbeitet er sich am Begriff ab, um die Besonderheit seines Themas, seine persönliche Betroffenheit, herauszuarbeiten. Es geht nicht um irgendeine Freundschaft, sondern um seine Freundschaft mit Étienne de la Boétie.

Was Montaigne hier über diese Freundschaft zu sagen versucht, grenzt an mein eigenes Lebensthema, und es verlangt mir eine Stellungnahme ab, in der es mir wie Montaigne darum geht, zu verstehen, inwiefern seine Überlegungen meinen gleichen und inwiefern sie sich unterscheiden.

Montaigne grenzt die Freundschaft zunächst gegen die „geschlechtliche Liebe“ ab, insbesondere gegen die heterosexuelle und gegen die homosexuelle Variante. (Vgl. Essais (1998), S.100, Sp.1 und 2; vgl. ebenda S.100, Sp.2 und S.102, Sp.1) Wenn man mal von der hier zum Ausdruck kommenden, patriarchal bedingten Diskriminierung von Frauen mit ihrem angeblich beschränkten geistigen Vermögen absieht, die, so Montaigne, zu dieser tiefsten Form der Freundschaft, wie er sie im Sinn hat, nicht fähig seien, und auch von der nicht minder zeitbedingten, aber für das Patriarchat funktionalen Diskriminierung von homosexuellen Männern absieht, verweist Montaigne doch genau auf die Umstände, die ein Ich = Du zwischen Frauen und Männern und zwischen Männern und Männern behindern.

Die heterosexuellen Beziehungen sind bis heute durch die gesellschaftlichen Interessen, insbesondere durch die Institution der Ehe, die wiederum vor allem der Fortpflanzung dient, kontaminiert und machten sie vor allem zu Montaignes Zeiten für die Freundschaft ungeeignet. Wir hatten es hier vorrangig mit einem „Handel“ zu tun, „der gewöhnlich Zwecken dient, die mit Freundschaft nichts zu tun haben“: „In der Freundschaft hingegen gibt es kein Geschäft und keinen Handel, sie beschäftigen sich ausschließlich mit sich selbst.“ (Essais (1998), S.100, Sp.2)

Heute hat sich da sicher vieles geändert. Aber dennoch läuft das, worum es Montaigne geht, auch in meinem Sinne auf folgende Formel hinaus: bei Ich = Du gibt es keine dritte Position.

Dasselbe gilt für die gesellschaftlich akzeptierte Version der homosexuellen Partnerschaft, die Montaigne am Beispiel der „Platoniker“ beschreibt. Bei den alten Griechen war die Liebe zwischen Männern ein Stützpfeiler der patriarchalen Gesellschaftsordnung: „Wenn sich nun eine solche umfassende Gemeinschaft (zwischen Männern) entwickelt hatte und ihr geistiges Element als das würdigere (im Vergleich zur Pädophilie) seine führende Rolle spielen konnte, soll sie sich, behaupten die Platoniker, für das private wie öffentliche Leben als äußerst fruchtbar erwiesen haben; dergleichen Freundschaften hätten die Stärke der Länder ausgemacht, in denen sie üblich gewesen seien.“ (Essais (1998), S.101, Sp.1; Klammern von mir)

Montaigne spricht hier also von Männerbünden als einer für eine patriachale Gesellschaftsordnung funktionalen Form der Homosexualität. Auch diese platonisch begründete Form der Männerfreundschaft hat aber Montaigne zufolge nichts gemein mit der Freundschaft, die er meint. Er verwendet die Prädikate „gleichgestimmt“ und „gleichgesinnt“, um die von ihm gemeinte Freundschaft davon abzusetzen. Mit diesen Prädikaten meint er eine Beziehung zwischen zwei Männern, die „kein anderes Vorbild als sich selber“ kennt und die „sich nur an sich selber“ messen läßt; die also keinen anderen Zweck außer sich hat. (Vgl. Essais (1998), S.101, Sp.1 und Sp.2) ‒ Dieses Für-sich-Stehen einer Zweierbeziehung, die Dualität oder die Zweitpersonalität, wie ich sie nenne, bezeichne ich als Ich = Du.

Aber bei der genaueren Bestimmung dieser in der Zweiheit liegenden Gleichheit bleibt Montaigne ambivalent. Mal schreibt er, daß in der Freundschaft „zwei Seelen“ „verschmelzen“, was auf eine Nivellierung der Differenz zwischen Ich und Du hinausläuft. (Vgl. Essais (1998), S.101, Sp.2) Und dann wieder begründet er die Besonderheit der Freundschaft zwischen ihm und Étienne de la Boétie mit den Worten: „Weil er er war, weil ich ich war.“ (Essais (1998), S.101, Sp.2) ‒ Das läuft auf eine Anerkennung der Differenz zwischen Ich und Du hinaus: als Gleichheit in der Differenz.

Insgesamt aber betont Montaigne das Moment der Verschmelzung. So heißt es an anderer Stelle: „Er ist ich.“ (Essais (1998), S.103, Sp.1) Das ist eine Formel, die die Differenz aufhebt.

Abgesehen von der Ambivalenz in der Bestimmung der Gleichheit zwischen Ich und Du bleibt Montaigne auch sonst wie gewohnt widersprüchlich. Mal heißt es, daß es in der Freundschaft keine Dienste gibt, die man einander tun kann, denn da er ich ist, kann ich ja schlecht mir selbst einen Dienst erweisen. Freunde sind „nur noch eine einzige Seele in zwei Körpern“, und sie können „voneinander nichts leihen und einander nichts geben“. (Vgl. Essais (1998), S.102, Sp.2)

Dann aber argumentiert er gegen eine Vielzahl von Freunden, daß das nicht funktionieren könne, weil ein Dienst, den ich einem dritten oder vierten Freund erweise, den Interessen des zweiten widersprechen könnte. (Vgl. Essais (1998), S.103, Sp.1) Da es aber in der Freundschaft keine Dienstverhältnisse geben kann, kann es eigentlich auch keine Interessenswidersprüche zwischen mehr als zwei Freunden geben. Das ist also nicht das Problem einer über die Zweiheit hinausgehenden Vielzahl.

An dieser Stelle wird der wichtigste Unterschied zwischen Montaignes Freundschaft und meiner Ich=Du-Formel deutlich. Mein Begriff der Zweiheit ist nicht in sich abgeschlossen, und er ist auch nicht der Freundschaft vorbehalten. Die Zweiheit ist nämlich eine Menschheitsformel und umfaßt alle Menschen jenseits der Gruppe. Sie ist nicht exklusiv, wie Montaignes Freundschaft. Deshalb haben wir es auch mit einer Gleichheit in der Differenz zu tun. Ich ist nur deshalb Ich, weil Du ebenfalls Ich ist. Und beide Male ist dieses Ich einzigartig, besonders und ohne Stellvertetung. Deshalb eben nicht: „Er ist ich.“ Nur ich bin Ich; und alle sind auf diese Weise Ich, einzigartig und unvertretbar. Und nur deshalb können sie auch füreinander Du sein; denn nur wer Ich sagen kann, kann für mich zum Du werden.

In diesem Sinne unterscheiden sich also unsere Begrifflichkeiten. Dennoch bringt Montaigne eine Grundbefindlichkeit zum Ausdruck, die ich teile. Über sein Befinden nach dem Tod seines Freundes schreibt er: „Ich war schon so gewöhnt und darin eingeübt, stets ich zu zweit zu sein, daß mich dünkt, jetzt lebte ich nur noch halb.“ (Essais (1998), S.104, Sp.1)

Samstag, 25. März 2023

Montaigne (1580/1998): „wie ein Paar an die Deichsel gespannte Pferde“

Montaigne hat von der ersten Publikation seiner „Essais“ 1580 bis zu seinem Tod 1592 an seinem Buch gearbeitet. Dabei ging es ihm vor allem darum, sich selbst zu verstehen. Ein Anliegen, das ich, so weit es mich selbst betrifft, mit ihm teile. Und auch daß seine Texte ihn bis zum Schluß nicht loslassen, daß er sie ständig nachkorrigierte und ergänzte, entspricht meiner Arbeitsweise in meinem Blog, so daß man durchaus sagen kann, daß es zwischen seinem ,Tagebuch‛ und meinem Weblog keinen Unterschied gibt, was die literarische Gattung betrifft.

Dennoch gibt es einen großen Unterschied in der Methode. Montaigne stellt nicht einfach Gedanken zur Diskussion. Er überfrachtet seine Essays mit so vielen Beispielen, daß die Gedanken, um die es geht, in den Hintergrund treten. Die Anekdoten aus seinem Bekanntenkreis, aus der Gesellschaft und Politik und aus der jüngeren und älteren Geschichte scheinen ihm wichtiger zu sein, als das jeweilige Thema, dem er seine Essays widmet. Anstatt seine Texte durch ständiges Nachkorrigieren zu verbessern, werden sie nur länger; und deshalb auch schlechter.

Montaigne hält ausdrücklich fest, daß es ihm bei seinen Beispielgeschichten nicht um deren historische Richtigkeit geht, ob also alles wirklich so stattgefunden hat, wie er es erzählt, sondern nur um die „Vernunftschlüsse“, die man seinen Beispielgeschichten entnehmen kann. (Vgl. Essais (1998), S.59, Sp.1) Das finde ich an sich akzeptabel. Jede Autorin, jeder Autor hat das Recht auf einen gewissen Anteil an Fiktion, wenn es um die Vermittlung eines wichtigen Gedankens geht. Aber Montaignes „Vernunftschlüsse“ sind nichts anderes als aus willkürlichen Launen hervorgehende Sinnsprüche, denen keine systematische Analyse zugrundeliegt und die im selben Text mal das eine und dann wieder das Gegenteil postulieren, ohne daß dazwischen irgendeine Gedankenentwicklung erkennbar wäre.

In seinem 23. Essay geht es laut Titel darum, daß wir sorgfältig mit Gewohnheitsrechten umgehen sollten. (Vgl. Essais (1998) S.60ff.) Über viele Seiten hinweg führt Montaigne zahlreiche Beispiele für die Schädlichkeit von Gewohnheiten an, in denen es immer um folgende zentrale Aussage geht: „In der Tat ist die Gewohnheit eine herrschsüchtige, dabei schleicherische Schulmeisterin. Ganz verstohlen, auf leisen Sohlen dehnt sie Stück für Stück ihren Machtbereich in uns aus. Aber hat sie nach diesen sanften und bescheidnen Anfängen mit Hilfe der Zeit erst einmal in uns Fuß gefaßt und sich seßhaft gemacht, läßt sie alsbald die Maske fallen und zeigt uns ihr grimmiges und tyrannisches Gesicht, gegen das auch nur den Blick zu heben wir nicht mehr die Freiheit haben.“ (Essais (1998), S.60, Sp.2)

Allmählich beginne ich mich beim Lesen zu fragen, was ich beim Titel des Essays wohl mißverstanden haben könnte, als plötzlich auf den letzten Seiten, ohne erläuternden Übergang, die Verwerflichkeit von „Neuerungen“ (vgl. Essais (1998), S.65ff.) im Zentrum des Textes steht. Althergebrachte Gesetze, so Montaigne, seien durch die Macht der Gewohnheit gerechtfertigt.

„Neuerungen“ hätten immer nur schädliche Folgen, führt Montaigne aus. (Vgl. Essais (1998), S.66, Sp.1) Dabei unterscheidet er zwischen einer „privaten“ und einer „göttlichen“ Vernunft (vg. Essais (1998) S.67, Sp.1), von denen er die erstere den einzelnen Menschen und die zweite den Gesetzen des Staates zuspricht. Anstatt also die Vernunft als eine unteilbare, allem Denken übergeordnete Instanz zu begreifen, reißt er sie in verschiedene Lebensbereiche auseinander und macht außerdem aus dem Gewohnheitsrecht einen religiösen Popanz.

Es bleibt sein Geheimnis, wie die beiden Teile seines Essays zusammenpassen. Immerhin bleibt festzuhalten: so wie Montaigne hier mit dem Begriff der Gewohnheit umgeht, macht er es auch bei allen anderen Begriffen, wie etwa mit dem Begriff des Urteilsvermögens, wo er mal die Unvereinbarkeit von Urteilskraft und Autoritätsgläubigkeit behauptet und dann im Gegenteil, sowohl im selben Essay wie auch im nächstfolgenden, die Unterwerfung unter und die Verehrung von Autoritäten mit der Urteilskraft gleichsetzt.

So bezeichnet Montaigne in dem 26. Essay über die Knabenerziehung das eigenständige Urteilsvermögen als das oberste Prinzip der Erziehung (vgl. Essais (1998) S.78, Sp.2 und S.83f.): „Der Lehrer ermuntere den Zögling, alles durchs eigene Sieb zu schlagen, und nichts setze er ihm lediglich kraft seiner Autorität und seines Ansehns in den Kopf; die Leitsätze des Aristoteles sollen für den Zögling ebensowenig Leitsätze sein wie die der Stoiker oder der Epikureer. Man breite diese ganze Vielfalt der Auffassungen vor ihm aus: er wird dann, wenn er kann, seine Wahl treffen; wenn nicht, möge er weiterzweifeln; nur Narren sind sich immer sicher und ein für allemal festgelegt.“ (Essais (1998), S.83, Sp.2)

Dann stellt Montaigne im selben Essay wieder die Gewöhnung in den Mittelpunkt, wofür er ein besonders drastisches Bild findet: „Körper und Seele, sagt Platon, solle man nicht getrennt voneinander heranbilden, sondern sie wie ein Paar an die Deichsel gespannte Pferde im gleichen Schritt führen.“ (Essais (1998), S.90, Sp.2)

Und im nächsten Essay schreibt Montaigne über historische Persönlichkeiten, wie etwa den „großen heiligen Augustinus“, der allen möglichen Schwachsinn über die Heilkraft von Reliquien von sich gibt, den Montaigne sich nicht entblödet, bis ins Detail nachzubeten: „Selbst wenn jene keine Gründe vorbrächten, würden sie mich allein durch ihre Autorität überzeugen.“ (Essais (1998), S.98, Sp.1)

Da fasse ich mich an den Kopf und sage: „Kürbis gedeihe!“

Freitag, 24. März 2023

Montaigne (1580/1998): Mit Beispielen „vollgepropft“

Zuletzt hatte ich in einem Text von Charlotte Bretschneider und dann im philosophischen Radio (WDR 5) in einer Sendung zu Montaigne (Jürgen Wiebicke mit dem Schriftsteller Nils Minkmar) viel Gutes über die „Essais“ (ca. 1580) gelesen und gehört. Ich selbst hatte schon mehrmals vergeblich versucht, die „Essais“ zu lesen. Ich brach die Lektüren immer wieder ab, weil ich nichts darin fand, was die Lektüre lohnte. Nichts, was das Changieren zwischen Bewunderung und Begeisterung für Montaignes Essays rechtfertigen würde.

Montaigne ist übrigens der erste, der das zugeben würde und tatsächlich in einem Vorwort selbst darauf hingewiesen hatte: „Ich selbst, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs: Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf einen so unbedeutenden, so nichtigen Gegenstand verwendest.“ (Essais (1998, S.5)

Dem widerspricht der Herausgeber im Nachwort meiner in der „Anderen Bibliothek“ erschienenen Ausgabe, indem er, sich mit dem „Leser“ verbündend, meint, wer beim Lesen der Essays bis zum Nachwort vorgedrungen sei, habe Montaignes negative Selbstbeurteilung, zu Recht, widerlegt. (Vgl. Essais (1998), S.569).

Dem möchte ich entschieden widersprechen: Montaigne hat unbedingt Recht! Es lohnt sich nicht.

Seine Texte strotzen von Belanglosigkeit und Binsenwahrheiten, auf jeder Seite durchsetzt von gereimten Nichtigkeiten und vollgestopft mit absurden Beispielen, die wenig bis nichts zum jeweiligen Thema beitragen, und das Wenige, das sie vielleicht doch beitragen, so oft in zahllos weiteren Beispielen widerkäuen, bis von den meist nur dürftigen Einsichten nichts mehr übrig ist. Montaigne schreckt nicht mal vor schlechten Witzen zurück. So heißt es ‒ begleitet von gereimtem Schwachsinn ‒ im 34. Essay über das Wirken der Glücksgöttin Fortuna, die oft gegen die Absicht der Menschen Gutes bewirkt: „Und hätte jener Mann in der Antike, der einen Stein auf einen Hund warf, aber seine Schwiegermutter traf und tötete, nicht mit Recht den Vers ,Fortuna hat, das lob ich mir, oft eine beßre Hand als wir‛ zitieren können?“ (Essais (1998), S.118, Sp.1)

Immerhin gesteht Montaigne selbst, daß er es mit seinen Beispielen, „mit denen ich meinen Text vollpfropfe“, übertreibt. (Vgl. Essais (1998), S.49) ‒ Wenn Montaigne in der Selbstanklage sogar so weit geht, seine „Essais“ als Grotesken zu bezeichnen (vgl. Essais (1998), S.99, Sp.1): ich bin der Letzte, ihm da zu widersprechen.

Man könnte ja damit leben, wenn viele dieser Beispiele nur nicht so entsetzlich peinlich wären und wenn sie nicht mit diesen gereimten Nichtigkeiten durchsetzt wären. Und leider ist Montaigne dann schließlich doch noch stolz auf seine Schreibe und glaubt, seine Beispiele leisteten mehr, als nur die wenigen Gedanken in seinem Buch, die es wert wären, für sich zu stehen, in den Hintergrund zu drängen: „Oft tragen sie (die Beispielgeschichten) über ihre (nur vage) Beziehung zu meinem Thema hinaus den Keim zu vielschichtigeren und gewagteren Überlegungen in sich und lassen sowohl für mich, der ich mich nicht weiter hierüber äußern will, als auch für jene, die sich auf meine Denkweise einzustimmen vermögen, einen feineren Unterton mitschwingen.“ (Essais (1998), S.130, 2.Sp.; Klammern von mir)

Nach diesem ,feinen Unterton‛ müßte das Opfer seiner Spottlust, jene bedauernswerte Schwiegermutter, wohl lange suchen.

Gleichwohl werde ich jetzt meine Lektüre nicht wieder abbrechen. Demnächst also mehr.

Mittwoch, 22. März 2023

Verfehlte Staatlichkeit

Die, wie es im DLF jetzt immer heißt, „in Teilen“ rechtsradikale israelische Regierung nimmt sich Putins Regime zum Vorbild. Putin begründet seinen Angriff auf die Ukraine mit dem Argument, daß die Ukrainer zu keiner eigenen Staatlichkeit fähig seien. Die Ukraine hätte keine eigene Geschichte, und ihre Sprache sei nur eine Art Russisch.

Genauso argumentieren jetzt ‚Teile‘ der derzeitigen israelischen Regierung mit Bezug auf die Palästinenser. Auch hier heißt es, es gäbe mangels Geschichte und mangels eigener Sprache kein palästinensisches Volk. Und genau so wie Putin die Krim und die ukrainische Hauptstadt Kiew für heilig erklärt, halten die rechtsradikalen ‚Teile‘ der israelischen Regierung die besetzten Gebiete für heiliges Land, das Israel gehört, gleichgültig, wer in den letzten 2000 Jahren da sonst noch gelebt haben mag.

Wir haben also alle Zutaten für einen Giftcoctail zusammen: eine völkisch definierte Staatlichkeit und die faschistoide Verbindung von Blut und Boden.

Aber die einzige legitime Staatlichkeit, die das Recht aller Menschen, ihr Leben zu führen, in einer bestimmten geographischen Region respektiert, beruht auf einer durch eine Verfassung definierten Staatsbürgerschaft, die der Macht jeder Regierung unüberschreitbare Grenzen zieht. In diesem Sinne kann man sogar sagen, daß Rußland, außer in den 1990er Jahren, nie ein Staat gewesen ist; weder unter den Zaren noch in der Sowjetunion, noch unter Putin. Denn die Grundlage dieser Regime war und ist nicht die Staatsbürgerschaft, sondern der Untertan, der ihrer Willkürherrschaft schutzlos ausgeliefert ist.

Es steht also der Beweis noch aus, ob ‚die‘ Russen überhaupt staatsfähig sind. Wenn man mal davon absieht, daß ich von solchen Pauschalurteilen nichts halte.

In diesem Sinne ist die derzeitige „teilweise rechtsradikale“ Regierung in Israel gerade dabei den eigenen Staat abzuschaffen. Ob sie wirklich nur ‚teilweise‘ rechtsradikal ist, wird die letzte entscheidende Abstimmung zur Justizreform erweisen. Vielleicht finden sich ja tatsächlich einige Abgeordnete unter den Regierungsparteien, die der ‚Reform‘ ihre Zustimmung verweigern.

Wenn nicht, ist diese Regierung rechtsradikal, ohne Einschränkung und ohne wenn und aber.

PS: Reichsbürger können übrigens niemals Staatsbürger sein. Das ‚Reich‘ beruht auf der Verbindung von Volk und Land, deren Verkörperung ein König ist, der nur seinem Gott verantwortlich ist oder selbst als solcher auftritt. Als Wort bildet ‚Reichsbürger‘ ein Oxymoron: ‚Bürger‘ sind wehrhafte Stadtbewohner. Freie Städte sind kein Bestandteil irgendeines Reiches. Sogenannte Reichsbürger wären also, gäbe es ein Reich, Untertanen. Nichts anderes.

Freitag, 17. März 2023

ChatGPT

Nach dem, was ich in letzter Zeit so über chatGPT gehört habe, glaube ich, daß es notwendig ist, an dieser Stelle zu versichern: Ich schreibe meine Texte selbst. In diesem Blog wird kein chatGPT verwendet.

Natürlich kann ich nicht überprüfen, ob das auch für den Kommentarteil zutrifft. Ich kann nur appellieren: bleibt menschlich!

Das wäre eigentlich ein netter Offliner-Gruß; statt „Tschüß!“ oder „Geh mit Gott!“: „Bleib menschlich!“

Sollte man etablieren.

Dienstag, 7. März 2023

„Technologieoffenheit“

Mein Favorit für das Unwort des Jahres 2023 ist „Technologieoffenheit“.

Damit wird aktuell gelogen, daß sich die Balken biegen. Das erste Mal, daß ich es hörte, kam es aus dem Mund des Bundesverkehrsministers Wissing (FDP). Es hat vor allem den Zweck, die Abschaffung von Verbrennern so lange wie möglich zu behindern.

„Technologieoffenheit“ ist ein schönes Wort. Im Erfinden schöner Wörter leistet die FDP einiges. Ansonsten erweist sie sich zunehmend als ein Totalausfall. Ich frage mich, wann es im Bundesverkehrsministerium endlich mal einen Minister oder eine Ministerin gibt, die sich ihrer Verantwortung für unsere Zukunft stellt. Ich kann mich nicht erinnern, wann es mal einen gegeben hat.

Donnerstag, 2. März 2023

Michael Thumann: „Revanche“ (2023)

Der Rußlandkorrespondent der ZEIT, Michael Thuman, hat in seinem Buch „Revanche – Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“ (2023) zwei Schwerpunkte: den „neuen Nationalismus“, wie er es nennt, und die Korrektur eines historischen Mißverständnisses, den er auf Seiten der westeuropäischen Politik, insbesondere der deutschen, verortet. Dieses Mißverständnis besteht Thumann zufolge in der Vorstellung, der Westen habe im Umgang mit Putin irgendetwas falsch gemacht, so daß Putin gewissermaßen auf ‚Abwege‘ geraten sei. Mit anderen Worten: dieses Mißverständnis unterstellt, daß der Westen eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine habe.

Zunächst zum neuen Nationalismus – Zu den neuen Nationalisten zählt Thuman neben Putin Erdoğan, Orbán und Trump. (Vgl. Thumann 2023, S.103) Neu ist an diesen Nationalisten, daß sie, anders als Nationalisten des 20. und 19. Jhdts., nicht von Anfang an Nationalisten gewesen sind, sondern erst dazu wurden, als es ihnen angesichts eines drohenden Machtverlustes als opportun erschien. (Vgl. Thumann 2023, S.200ff.) Für Trump, der ursprünglich ebenfalls kein Nationalist gewesen ist, war der Nationalismus ein Mittel, die Wahlen zu gewinnen. Der Nationalismus ist für die neuen Nationalisten also zunächst nur ein Instrument des Machterhalts, was aber nicht ausschließt, daß insbesondere Putin nach dieser Kehrtwende in seiner Politik tatsächlich auf seine eigene Propaganda hereinfiel und nun selbst an die historische Mission des russichen ‚Volkes‘ glaubt.

Thumann unterscheidet zwischen einem gutartigen Patriotismus und einem bösartigen Nationalismus. (Vgl. Thumann 2023, S.103, 107, 169) Am Beispiel der USA grenzt er den „weißen amerikanischen Nationalismus“ (Thumann 2023, S.102) bzw. den „rassistischen amerikanischen Nationalismus“ (Thumann 2023,S.107) von einem die US-Bürger nicht spaltenden, sondern sie einigenden „klassischen“ US-Patriotismus ab (vgl. ebenda).
 
Ich habe ein Problem mit der Vorstellung von einem gutartigen US-Patriotismus. Er hat in den USA eine starke religiöse Komponente. Die Geographie ist nicht nur politisch, sondern auch mit einem geradezu religösen Sendungsbewußtsein aufgeladen. Eine saubere Trennung zwischen Patriotismus und Nationalismus, wie sie Thumann sich vorstellt, ist so nicht möglich.

Aber das us-amerikanische Modell läßt sich anscheinend auch nicht ohne weiteres auf Putins speziellen Nationalismus übertragen. An Putin macht Thumann einen speziellen nicht-rassistischen Nationalismus fest, der auch nicht, ein weiterer Unterschied zum amerikanischen Nationalismus Trumpscher Prägung, die russiche Bevölkerung spaltet, sondern im Gegenteil mit dem Aufruf „zum heiligen ‚Volkskrieg‘“ eint; im Sinne einer Bevölkerungsmehrheit, während eine Minderheit von Intellektuellen, jungen Leuten, Künstlern, Journalisten, IT-Technikern, freidenkenden Wissenschaftlern das Land verläßt, in Straflagern weggesperrt wird oder einfach, sich selbst zensierend, verstummt. (Vgl. Thumann 2023, S.153, 127ff., S.199ff.)

Inwiefern ist Putins Nationalismus nicht rassistisch? – „Russland ist ein Vielvölkerstaat, Reisende Ausländer fallen hier oft nicht auf, Ukrainer schon gar nicht.“ (Thumann 2023, S.191) – Deshalb können ukrainische Flüchtlinge problemlos russische Tickets kaufen und mit dem Zug quer durch Rußland ins Baltikum reisen, um dort Zuflucht zu suchen, unterstützt von russischen und baltischen Helfernetzwerken. (Vgl. Thumann 2023, S.191f.)

Thumann vergleicht das mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung: es war in Nazi-Deutschland für fliehende Juden nahezu unmöglich gewesen, unbehelligt durch Deutschland zu reisen oder dieses Land zu verlassen. Aber die Ukrainer, die sich für die Flucht durch Russland entscheiden, haben, so Thumann, im Gegensatz zu Ukrainern, die in der Ukraine bleiben, wenig von den Russen zu befürchten.

Putins Regime läßt sich deshalb nur sehr bedingt mit der deutschen Variante des Faschismus vergleichen. Putin hat kein Interesse daran, Ethnien auszulöschen. Dennoch entspricht das Vorgehen seiner Truppen in der Ukraine der UN-Definition eines Genozids. (Vgl. Thumann 2023,S.195f.) Beim Genozid geht es um die Zerstörung der „Integrität von Gruppen“ (ebenda), und es ist Putins erklärtes Kreigsziel, die Ukraine zu vernichten. Aber Putin definiert Gruppen nicht biologisch, wie es Rassisten tun. Er teilt vielmehr die Welt ethnisch-kulturell in Russen und Nicht-Russen ein. Nicht-russische ethnische Gruppen haben so lange kein Problem mit Putin, wie sie sich der russischen Leitkultur unterwerfen. Wenn sie das nicht tun, müssen sie vernichtet werden.

Deshalb verteilt Putin auch freigiebig Pässe in den besetzten Gebieten in der Ost-Ukraine. Etwas ähnliches würde der AfD in Deutschland nie in den Sinn kommen. Der Nationalismus der AfD beruht auf Ausgrenzung, nicht auf Vereinnahmung. Die Nicht-Deutschen haben in Deutschland nichts zu suchen. So aber denkt Putin eben nicht.

Es gibt also erhebliche Unterschiede in dem, was Thumann als neuen Nationalismus bezeichnet.

Zur ‚Mitschuld‘ des Westens, insbesondere Deutschlands – Thumann widerspricht energisch der Vorstellung, daß Putin nur auf den Westen, die NATO, die deutsche Politik etc. reagiere: „Die im Westen beliebte Sinnsuche, was wir bloß falsch gemacht haben, ist für die Russland-Deutung sinnlos. ... Das ist aus meiner Perspektive als Korrespondent und Moskauer auf Zeit eine unerträgliche Arroganz.“ (Thumann 2023, S.10f.)

Rußland mit seinem gewaltigen Territorium hat seine eigenen, teils historisch vermittelten Beweggründe, die mit den westlichen, liberalen Traditionen nicht das geringste zu tun haben. Tatsächlich, so Thumann, hatte Putin vor allem innenpolitische Gründe, die Ukraine zu überfallen. Er sah sich 2011/2012 mit einem rapiden Machtverfall konfrontiert, und seine einzige Rettung bestand in dem Überfall auf die Ukraine und in der Annektion der Krim und des Donbas. (Vgl. Thumann 2023, S.97) Die damalige überwältigende Zustimmung der russischen Bevölkerung bestätigte Putins Kurs.

Hinzu kommt Thumann zufolge die historische Tradtion des zaristischen und sowjetischen Rußlands im Umgang mit Nachbarvölkern. Der russische Imperialismus bestand anders als im europäischen Westen nicht darin, ferne Länder in anderen Kontinenten zu kolonialisieren, sondern in der Ausdehnung der russischen Grenzen, also in der Assimilation von Nachbarländern. (Vgl. Thumann 2023, S.193ff.) Dabei standen die Nachbarvölker vor der Alternative „Assimilation oder Vernichtung“. (Vgl. Thumann 2023, S.193) Iwan der Schreckliche und Stalin sind Vorbilder für diesen russischen Nationalismus à la Putin.

Dennoch gibt es so etwas wie eine Mitschuld auf Seiten der deutschen Politik, insbesondere der SPD. Diese Mitschuld ist aber nicht ursächlich, sondern nur förderlich gewesen für Putins Angriff auf die Ukraine. Thumann verweist auf Persönlichkeiten wie Gerhard Schröder und Klaus von Dohnanyi; beides SPD-Politiker. (Vgl. Thumann 2023, S.121) Aber er bezieht in diese Kritik auch die anderen Parteien, die FDP, die Union und Die Linke mit ein. (Vgl. auch S.167f.)

In allen diesen Parteien gab und gibt es insbesondere bei der Linken immer noch Politikerinnen und Politiker, die Putins Krieg auf angebliche berechtigte Sicherheitsbedenken Putins zurückführen oder ihm zugute halten, daß der Westen ihm gegenüber ‚wortbrüchig‘ geworden sei, indem sich die NATO bis zur russischen Grenze ausgedehnt habe: „Erstaunlich, dass solche offensichtlich eingebildeten Bedrohungen auch in Deutschland vielen Politikern und Publizisten einleuchteten, zumindest in Teilen. Bereitwillig versuchten sie, Putin zu verstehen, um ihn besänftigen zu können.“ (Thumann 2023, S.168)

Thumann hält dagegen, daß neben Putins innenpolitischen Problemen es vor allem seine „Wahrnehmug eines scheinbar schwachen, zerfallenen Westens“ (Thumann 2023, S.244) und seine „Revolte“ gegen „ganz Europa“, also gegen die liberalen Demokratien insgesamt gewesen sind und noch immer sind, die ihn zu diesem Krieg veranlaßt haben. Rußland soll zum „Vorbild“ des künftigen Europas werden, also zur europäischen Leitkultur im Sinne eines „einigen, souveränen Kontinents von Lissabon bis Wladiwostok“, wie Thumann den russischen Außenpolitiker und Vizesprecher des Föderationsrates, Konstantin Kossatschow, zitiert. (Vgl. Thumann 2023, S.245)

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Vergleiche von Putins Regime mit dem Faschismus sind natürlich erlaubt. Aber die Unterschiede insbesondere zum Nationalsozialismus sind doch groß. Die Grenzen zwischen Ihr und Wir werden von Putin anders gezogen. Dennoch, die Gefahr für die Nachbarländer Rußlands und letztlich für Europa ist ähnlich groß. Es gibt zur Zeit, unter dem Putinregime, keine gemeinsame Verhandlungsbasis, die eine dauerhafte friedliche Koexistenz ermöglichen würde. Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, läßt sich meiner Ansicht nach nicht letztgültig sagen. Aber Wachsamkeit gegenüber Putins hybridem Krieg aus Lügen und Desinformation wäre schon mal ein guter Rat. Und es sollte eine westeuropäische Solidarität mit der Ukraine und anderen an der Grenze zu Rußland liegenden Ländern geben, die auch militärische Kooperation miteinschließt; eine Solidarität, die die Interessen dieser Länder bzw. wie ich lieber sage: der Menschen in diesen Ländern höher wertet, als die angeblichen Interessen von Putinrußland.
 
Solidarität ist ein schwieriges Wort. Wie alle die Menschlichkeit des Menschen betreffenden Wörter ist sie ambivalent. Ich gehe von einer Solidarität aus, die sich nicht auf Gruppen richtet, sondern auf Menschen jenseits der Gruppe. Die auf Länder bezogene Gruppenidentität vereinnahmt die Geographie für das, was ich Patriotismus oder Nationalismus nenne. Ich sehe da keinen Unterschied. Deshalb bin ich für eine Entpolitisierung der Geographie. Staatlichkeit hat sich ausschließlich über eine durch eine Verfassung konstituierte Staatsbürgerlichkeit zu definieren, ohne Bezug auf Geographie.

Es gibt keine Solidarität mit dem Putinregime. Nur mit den Menschen in Rußland. Putin selbst legt jedes Entgegenkommen als Schwäche und Feigheit aus. Und Angst, Angst vor ihm, Angst vor seinem Rußland, ist die einzige Form von Respekt, die er akzeptiert.