„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 2. März 2023

Michael Thumann: „Revanche“ (2023)

Der Rußlandkorrespondent der ZEIT, Michael Thuman, hat in seinem Buch „Revanche – Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“ (2023) zwei Schwerpunkte: den „neuen Nationalismus“, wie er es nennt, und die Korrektur eines historischen Mißverständnisses, den er auf Seiten der westeuropäischen Politik, insbesondere der deutschen, verortet. Dieses Mißverständnis besteht Thumann zufolge in der Vorstellung, der Westen habe im Umgang mit Putin irgendetwas falsch gemacht, so daß Putin gewissermaßen auf ‚Abwege‘ geraten sei. Mit anderen Worten: dieses Mißverständnis unterstellt, daß der Westen eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine habe.

Zunächst zum neuen Nationalismus – Zu den neuen Nationalisten zählt Thuman neben Putin Erdoğan, Orbán und Trump. (Vgl. Thumann 2023, S.103) Neu ist an diesen Nationalisten, daß sie, anders als Nationalisten des 20. und 19. Jhdts., nicht von Anfang an Nationalisten gewesen sind, sondern erst dazu wurden, als es ihnen angesichts eines drohenden Machtverlustes als opportun erschien. (Vgl. Thumann 2023, S.200ff.) Für Trump, der ursprünglich ebenfalls kein Nationalist gewesen ist, war der Nationalismus ein Mittel, die Wahlen zu gewinnen. Der Nationalismus ist für die neuen Nationalisten also zunächst nur ein Instrument des Machterhalts, was aber nicht ausschließt, daß insbesondere Putin nach dieser Kehrtwende in seiner Politik tatsächlich auf seine eigene Propaganda hereinfiel und nun selbst an die historische Mission des russichen ‚Volkes‘ glaubt.

Thumann unterscheidet zwischen einem gutartigen Patriotismus und einem bösartigen Nationalismus. (Vgl. Thumann 2023, S.103, 107, 169) Am Beispiel der USA grenzt er den „weißen amerikanischen Nationalismus“ (Thumann 2023, S.102) bzw. den „rassistischen amerikanischen Nationalismus“ (Thumann 2023,S.107) von einem die US-Bürger nicht spaltenden, sondern sie einigenden „klassischen“ US-Patriotismus ab (vgl. ebenda).
 
Ich habe ein Problem mit der Vorstellung von einem gutartigen US-Patriotismus. Er hat in den USA eine starke religiöse Komponente. Die Geographie ist nicht nur politisch, sondern auch mit einem geradezu religösen Sendungsbewußtsein aufgeladen. Eine saubere Trennung zwischen Patriotismus und Nationalismus, wie sie Thumann sich vorstellt, ist so nicht möglich.

Aber das us-amerikanische Modell läßt sich anscheinend auch nicht ohne weiteres auf Putins speziellen Nationalismus übertragen. An Putin macht Thumann einen speziellen nicht-rassistischen Nationalismus fest, der auch nicht, ein weiterer Unterschied zum amerikanischen Nationalismus Trumpscher Prägung, die russiche Bevölkerung spaltet, sondern im Gegenteil mit dem Aufruf „zum heiligen ‚Volkskrieg‘“ eint; im Sinne einer Bevölkerungsmehrheit, während eine Minderheit von Intellektuellen, jungen Leuten, Künstlern, Journalisten, IT-Technikern, freidenkenden Wissenschaftlern das Land verläßt, in Straflagern weggesperrt wird oder einfach, sich selbst zensierend, verstummt. (Vgl. Thumann 2023, S.153, 127ff., S.199ff.)

Inwiefern ist Putins Nationalismus nicht rassistisch? – „Russland ist ein Vielvölkerstaat, Reisende Ausländer fallen hier oft nicht auf, Ukrainer schon gar nicht.“ (Thumann 2023, S.191) – Deshalb können ukrainische Flüchtlinge problemlos russische Tickets kaufen und mit dem Zug quer durch Rußland ins Baltikum reisen, um dort Zuflucht zu suchen, unterstützt von russischen und baltischen Helfernetzwerken. (Vgl. Thumann 2023, S.191f.)

Thumann vergleicht das mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung: es war in Nazi-Deutschland für fliehende Juden nahezu unmöglich gewesen, unbehelligt durch Deutschland zu reisen oder dieses Land zu verlassen. Aber die Ukrainer, die sich für die Flucht durch Russland entscheiden, haben, so Thumann, im Gegensatz zu Ukrainern, die in der Ukraine bleiben, wenig von den Russen zu befürchten.

Putins Regime läßt sich deshalb nur sehr bedingt mit der deutschen Variante des Faschismus vergleichen. Putin hat kein Interesse daran, Ethnien auszulöschen. Dennoch entspricht das Vorgehen seiner Truppen in der Ukraine der UN-Definition eines Genozids. (Vgl. Thumann 2023,S.195f.) Beim Genozid geht es um die Zerstörung der „Integrität von Gruppen“ (ebenda), und es ist Putins erklärtes Kreigsziel, die Ukraine zu vernichten. Aber Putin definiert Gruppen nicht biologisch, wie es Rassisten tun. Er teilt vielmehr die Welt ethnisch-kulturell in Russen und Nicht-Russen ein. Nicht-russische ethnische Gruppen haben so lange kein Problem mit Putin, wie sie sich der russischen Leitkultur unterwerfen. Wenn sie das nicht tun, müssen sie vernichtet werden.

Deshalb verteilt Putin auch freigiebig Pässe in den besetzten Gebieten in der Ost-Ukraine. Etwas ähnliches würde der AfD in Deutschland nie in den Sinn kommen. Der Nationalismus der AfD beruht auf Ausgrenzung, nicht auf Vereinnahmung. Die Nicht-Deutschen haben in Deutschland nichts zu suchen. So aber denkt Putin eben nicht.

Es gibt also erhebliche Unterschiede in dem, was Thumann als neuen Nationalismus bezeichnet.

Zur ‚Mitschuld‘ des Westens, insbesondere Deutschlands – Thumann widerspricht energisch der Vorstellung, daß Putin nur auf den Westen, die NATO, die deutsche Politik etc. reagiere: „Die im Westen beliebte Sinnsuche, was wir bloß falsch gemacht haben, ist für die Russland-Deutung sinnlos. ... Das ist aus meiner Perspektive als Korrespondent und Moskauer auf Zeit eine unerträgliche Arroganz.“ (Thumann 2023, S.10f.)

Rußland mit seinem gewaltigen Territorium hat seine eigenen, teils historisch vermittelten Beweggründe, die mit den westlichen, liberalen Traditionen nicht das geringste zu tun haben. Tatsächlich, so Thumann, hatte Putin vor allem innenpolitische Gründe, die Ukraine zu überfallen. Er sah sich 2011/2012 mit einem rapiden Machtverfall konfrontiert, und seine einzige Rettung bestand in dem Überfall auf die Ukraine und in der Annektion der Krim und des Donbas. (Vgl. Thumann 2023, S.97) Die damalige überwältigende Zustimmung der russischen Bevölkerung bestätigte Putins Kurs.

Hinzu kommt Thumann zufolge die historische Tradtion des zaristischen und sowjetischen Rußlands im Umgang mit Nachbarvölkern. Der russische Imperialismus bestand anders als im europäischen Westen nicht darin, ferne Länder in anderen Kontinenten zu kolonialisieren, sondern in der Ausdehnung der russischen Grenzen, also in der Assimilation von Nachbarländern. (Vgl. Thumann 2023, S.193ff.) Dabei standen die Nachbarvölker vor der Alternative „Assimilation oder Vernichtung“. (Vgl. Thumann 2023, S.193) Iwan der Schreckliche und Stalin sind Vorbilder für diesen russischen Nationalismus à la Putin.

Dennoch gibt es so etwas wie eine Mitschuld auf Seiten der deutschen Politik, insbesondere der SPD. Diese Mitschuld ist aber nicht ursächlich, sondern nur förderlich gewesen für Putins Angriff auf die Ukraine. Thumann verweist auf Persönlichkeiten wie Gerhard Schröder und Klaus von Dohnanyi; beides SPD-Politiker. (Vgl. Thumann 2023, S.121) Aber er bezieht in diese Kritik auch die anderen Parteien, die FDP, die Union und Die Linke mit ein. (Vgl. auch S.167f.)

In allen diesen Parteien gab und gibt es insbesondere bei der Linken immer noch Politikerinnen und Politiker, die Putins Krieg auf angebliche berechtigte Sicherheitsbedenken Putins zurückführen oder ihm zugute halten, daß der Westen ihm gegenüber ‚wortbrüchig‘ geworden sei, indem sich die NATO bis zur russischen Grenze ausgedehnt habe: „Erstaunlich, dass solche offensichtlich eingebildeten Bedrohungen auch in Deutschland vielen Politikern und Publizisten einleuchteten, zumindest in Teilen. Bereitwillig versuchten sie, Putin zu verstehen, um ihn besänftigen zu können.“ (Thumann 2023, S.168)

Thumann hält dagegen, daß neben Putins innenpolitischen Problemen es vor allem seine „Wahrnehmug eines scheinbar schwachen, zerfallenen Westens“ (Thumann 2023, S.244) und seine „Revolte“ gegen „ganz Europa“, also gegen die liberalen Demokratien insgesamt gewesen sind und noch immer sind, die ihn zu diesem Krieg veranlaßt haben. Rußland soll zum „Vorbild“ des künftigen Europas werden, also zur europäischen Leitkultur im Sinne eines „einigen, souveränen Kontinents von Lissabon bis Wladiwostok“, wie Thumann den russischen Außenpolitiker und Vizesprecher des Föderationsrates, Konstantin Kossatschow, zitiert. (Vgl. Thumann 2023, S.245)

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Vergleiche von Putins Regime mit dem Faschismus sind natürlich erlaubt. Aber die Unterschiede insbesondere zum Nationalsozialismus sind doch groß. Die Grenzen zwischen Ihr und Wir werden von Putin anders gezogen. Dennoch, die Gefahr für die Nachbarländer Rußlands und letztlich für Europa ist ähnlich groß. Es gibt zur Zeit, unter dem Putinregime, keine gemeinsame Verhandlungsbasis, die eine dauerhafte friedliche Koexistenz ermöglichen würde. Welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, läßt sich meiner Ansicht nach nicht letztgültig sagen. Aber Wachsamkeit gegenüber Putins hybridem Krieg aus Lügen und Desinformation wäre schon mal ein guter Rat. Und es sollte eine westeuropäische Solidarität mit der Ukraine und anderen an der Grenze zu Rußland liegenden Ländern geben, die auch militärische Kooperation miteinschließt; eine Solidarität, die die Interessen dieser Länder bzw. wie ich lieber sage: der Menschen in diesen Ländern höher wertet, als die angeblichen Interessen von Putinrußland.
 
Solidarität ist ein schwieriges Wort. Wie alle die Menschlichkeit des Menschen betreffenden Wörter ist sie ambivalent. Ich gehe von einer Solidarität aus, die sich nicht auf Gruppen richtet, sondern auf Menschen jenseits der Gruppe. Die auf Länder bezogene Gruppenidentität vereinnahmt die Geographie für das, was ich Patriotismus oder Nationalismus nenne. Ich sehe da keinen Unterschied. Deshalb bin ich für eine Entpolitisierung der Geographie. Staatlichkeit hat sich ausschließlich über eine durch eine Verfassung konstituierte Staatsbürgerlichkeit zu definieren, ohne Bezug auf Geographie.

Es gibt keine Solidarität mit dem Putinregime. Nur mit den Menschen in Rußland. Putin selbst legt jedes Entgegenkommen als Schwäche und Feigheit aus. Und Angst, Angst vor ihm, Angst vor seinem Rußland, ist die einzige Form von Respekt, die er akzeptiert.

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