„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 26. März 2023

Montaigne (1580/1998): „... stets ich zu zweit zu sein ...“

Tatsächlich stoße ich unter all diesen Essays, so weit ich mich bislang durch sie hindurch gequält habe, auch mal auf einen, der mich in meinem eigenen Denken herausfordert. Es handelt sich um den 28. Essay, über die Freundschaft. (Vgl. Essais (1998), S.98ff.) Es ist der bislang einzige Essay, bei dem ich beim Lesen spüre, daß es Montaigne hier tatsächlich um etwas geht, denn an den entscheidenden Stellen werden die Beispiele, mit denen er sonst um sich wirft, plötzlich rar. Stattdessen arbeitet er sich am Begriff ab, um die Besonderheit seines Themas, seine persönliche Betroffenheit, herauszuarbeiten. Es geht nicht um irgendeine Freundschaft, sondern um seine Freundschaft mit Étienne de la Boétie.

Was Montaigne hier über diese Freundschaft zu sagen versucht, grenzt an mein eigenes Lebensthema, und es verlangt mir eine Stellungnahme ab, in der es mir wie Montaigne darum geht, zu verstehen, inwiefern seine Überlegungen meinen gleichen und inwiefern sie sich unterscheiden.

Montaigne grenzt die Freundschaft zunächst gegen die „geschlechtliche Liebe“ ab, insbesondere gegen die heterosexuelle und gegen die homosexuelle Variante. (Vgl. Essais (1998), S.100, Sp.1 und 2; vgl. ebenda S.100, Sp.2 und S.102, Sp.1) Wenn man mal von der hier zum Ausdruck kommenden, patriarchal bedingten Diskriminierung von Frauen mit ihrem angeblich beschränkten geistigen Vermögen absieht, die, so Montaigne, zu dieser tiefsten Form der Freundschaft, wie er sie im Sinn hat, nicht fähig seien, und auch von der nicht minder zeitbedingten, aber für das Patriarchat funktionalen Diskriminierung von homosexuellen Männern absieht, verweist Montaigne doch genau auf die Umstände, die ein Ich = Du zwischen Frauen und Männern und zwischen Männern und Männern behindern.

Die heterosexuellen Beziehungen sind bis heute durch die gesellschaftlichen Interessen, insbesondere durch die Institution der Ehe, die wiederum vor allem der Fortpflanzung dient, kontaminiert und machten sie vor allem zu Montaignes Zeiten für die Freundschaft ungeeignet. Wir hatten es hier vorrangig mit einem „Handel“ zu tun, „der gewöhnlich Zwecken dient, die mit Freundschaft nichts zu tun haben“: „In der Freundschaft hingegen gibt es kein Geschäft und keinen Handel, sie beschäftigen sich ausschließlich mit sich selbst.“ (Essais (1998), S.100, Sp.2)

Heute hat sich da sicher vieles geändert. Aber dennoch läuft das, worum es Montaigne geht, auch in meinem Sinne auf folgende Formel hinaus: bei Ich = Du gibt es keine dritte Position.

Dasselbe gilt für die gesellschaftlich akzeptierte Version der homosexuellen Partnerschaft, die Montaigne am Beispiel der „Platoniker“ beschreibt. Bei den alten Griechen war die Liebe zwischen Männern ein Stützpfeiler der patriarchalen Gesellschaftsordnung: „Wenn sich nun eine solche umfassende Gemeinschaft (zwischen Männern) entwickelt hatte und ihr geistiges Element als das würdigere (im Vergleich zur Pädophilie) seine führende Rolle spielen konnte, soll sie sich, behaupten die Platoniker, für das private wie öffentliche Leben als äußerst fruchtbar erwiesen haben; dergleichen Freundschaften hätten die Stärke der Länder ausgemacht, in denen sie üblich gewesen seien.“ (Essais (1998), S.101, Sp.1; Klammern von mir)

Montaigne spricht hier also von Männerbünden als einer für eine patriachale Gesellschaftsordnung funktionalen Form der Homosexualität. Auch diese platonisch begründete Form der Männerfreundschaft hat aber Montaigne zufolge nichts gemein mit der Freundschaft, die er meint. Er verwendet die Prädikate „gleichgestimmt“ und „gleichgesinnt“, um die von ihm gemeinte Freundschaft davon abzusetzen. Mit diesen Prädikaten meint er eine Beziehung zwischen zwei Männern, die „kein anderes Vorbild als sich selber“ kennt und die „sich nur an sich selber“ messen läßt; die also keinen anderen Zweck außer sich hat. (Vgl. Essais (1998), S.101, Sp.1 und Sp.2) ‒ Dieses Für-sich-Stehen einer Zweierbeziehung, die Dualität oder die Zweitpersonalität, wie ich sie nenne, bezeichne ich als Ich = Du.

Aber bei der genaueren Bestimmung dieser in der Zweiheit liegenden Gleichheit bleibt Montaigne ambivalent. Mal schreibt er, daß in der Freundschaft „zwei Seelen“ „verschmelzen“, was auf eine Nivellierung der Differenz zwischen Ich und Du hinausläuft. (Vgl. Essais (1998), S.101, Sp.2) Und dann wieder begründet er die Besonderheit der Freundschaft zwischen ihm und Étienne de la Boétie mit den Worten: „Weil er er war, weil ich ich war.“ (Essais (1998), S.101, Sp.2) ‒ Das läuft auf eine Anerkennung der Differenz zwischen Ich und Du hinaus: als Gleichheit in der Differenz.

Insgesamt aber betont Montaigne das Moment der Verschmelzung. So heißt es an anderer Stelle: „Er ist ich.“ (Essais (1998), S.103, Sp.1) Das ist eine Formel, die die Differenz aufhebt.

Abgesehen von der Ambivalenz in der Bestimmung der Gleichheit zwischen Ich und Du bleibt Montaigne auch sonst wie gewohnt widersprüchlich. Mal heißt es, daß es in der Freundschaft keine Dienste gibt, die man einander tun kann, denn da er ich ist, kann ich ja schlecht mir selbst einen Dienst erweisen. Freunde sind „nur noch eine einzige Seele in zwei Körpern“, und sie können „voneinander nichts leihen und einander nichts geben“. (Vgl. Essais (1998), S.102, Sp.2)

Dann aber argumentiert er gegen eine Vielzahl von Freunden, daß das nicht funktionieren könne, weil ein Dienst, den ich einem dritten oder vierten Freund erweise, den Interessen des zweiten widersprechen könnte. (Vgl. Essais (1998), S.103, Sp.1) Da es aber in der Freundschaft keine Dienstverhältnisse geben kann, kann es eigentlich auch keine Interessenswidersprüche zwischen mehr als zwei Freunden geben. Das ist also nicht das Problem einer über die Zweiheit hinausgehenden Vielzahl.

An dieser Stelle wird der wichtigste Unterschied zwischen Montaignes Freundschaft und meiner Ich=Du-Formel deutlich. Mein Begriff der Zweiheit ist nicht in sich abgeschlossen, und er ist auch nicht der Freundschaft vorbehalten. Die Zweiheit ist nämlich eine Menschheitsformel und umfaßt alle Menschen jenseits der Gruppe. Sie ist nicht exklusiv, wie Montaignes Freundschaft. Deshalb haben wir es auch mit einer Gleichheit in der Differenz zu tun. Ich ist nur deshalb Ich, weil Du ebenfalls Ich ist. Und beide Male ist dieses Ich einzigartig, besonders und ohne Stellvertetung. Deshalb eben nicht: „Er ist ich.“ Nur ich bin Ich; und alle sind auf diese Weise Ich, einzigartig und unvertretbar. Und nur deshalb können sie auch füreinander Du sein; denn nur wer Ich sagen kann, kann für mich zum Du werden.

In diesem Sinne unterscheiden sich also unsere Begrifflichkeiten. Dennoch bringt Montaigne eine Grundbefindlichkeit zum Ausdruck, die ich teile. Über sein Befinden nach dem Tod seines Freundes schreibt er: „Ich war schon so gewöhnt und darin eingeübt, stets ich zu zweit zu sein, daß mich dünkt, jetzt lebte ich nur noch halb.“ (Essais (1998), S.104, Sp.1)

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