„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 28. März 2023

Montaigne (1580/1998): „von der Leere erfüllt“

Die letzten 14 der insgesamt 57 Essays im ersten Buch kann man sowohl von der Thematik her als auch wegen ihrer liederlichen Ausführung komplett vergessen. Ein ChatGPT hätte mehr zu bieten als Montaigne. Selbst so ein anspruchsvoller Titel wie „Über die Unsicherheit unserer Urteile“ (vgl. Essais (1998), S.142ff.) krönt einen Text, in dem es nur darum geht, was im Leben, insbesondere in der Kriegsführung so alles schiefgehen kann. Kein Wort darüber, was es eigentlich mit der Urteilskraft auf sich hat. Keine Arbeit am Begriff.

Lediglich unter dem wiedermal nichtssagenden Titel „Demokrit & Heraklit“ (vgl. Essais (1998), S.153f.) gibt es den einen und anderen interessanten Satz. Allerdings muß man sich erst zu Beginn des 50. Essays durch Sätze quälen, in denen Montaigne unsägliche Behauptungen über das Denken aufstellt. So stellt er fest, daß es ihm beim Denken nie um die Sache geht. Jede sei ihm „gleich gut“, und er plane nie, „sie erschöpfend darzulegen, denn von nichts sehe ich das Ganze“. (Vgl. Essais (1998), S.153, Sp.1) ‒ Er fühle sich „weder dem Leser noch mir selbst gegenüber verpflichtet, mich streng an die jeweilige Sache zu halten“, und er glaubt, das Recht zu haben, „nach Lust und Laune seine Meinung ändern“ zu können. (Vgl. Essais (1998), S.153, Sp.1)

Montaigne legt eine sehr beschränkte Vorstellung vom Denken an den Tag, wenn er vom „Ganzen“ spricht, das er nicht sehen könne. Denn es gibt nicht nur das Ganze einer Welt, deren Horizonte wir tatsächlich niemals ausschöpfen können. Das würde nur dazu führen, daß wir vor lauter Wald die Bäume nicht sehen.

Aber das jeweilige Teilstück, dem wir uns denkend zuwenden, bildet für sich ein Ganzes. Und sich diesem Ganzen nicht stellen zu wollen, grenzt an Denkverweigerung. Hinzu kommt die Notwendigkeit, unseren Gegenstand zu analysieren, ihn also selbst wieder in Teile zu zerlegen. Auch hier haben wir es wieder mit einer Denkverweigerung zu tun, wenn wir uns den Anstrengungen der Analyse verweigern.

Letztlich aber erfüllt Montaigne noch nicht einmal die Mindestanforderung an jedes Denken: sich in ein und demselben Text nicht selbst widersprechen zu dürfen. Und das hat nichts mit dem Recht zu tun, seine Meinung jederzeit auch ändern zu können!

Zum Schluß noch die wenigen Stellen, die mir gefallen. Wenn Montaigne mal nicht wieder durch Heldenverehrung geblendet ist, kann er sich auch sehr nüchtern und sachlich über den Menschen äußern:

„... mir scheint, wir könnten, wenn es nach unseren Verdiensten ginge, nie genug verachtet werden. ... Nicht so sehr vom Bösen sind wir erfüllt wie von der Leere. Wir sind nicht so erbarmungs- wie nichtswürdig. ... Das Besondere unseres Menschseins (im Vergleich zu Tieren) besteht darin, daß wir zugleich des Lachens fähig und lächerliche Wesen sind.“ (Essais (1998), Spl.1; Klammer von mir)

Chapeau!

Damit aber will ich jetzt doch den Montaigne-Posts ein Ende setzen. Es artet sonst zu einem endlosen Montaigne-Bashing aus.

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