„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 27. Oktober 2023

Ein Comic-Rätsel

Ich habe gestern „Die Bestie 2“ (2023) von Frank Pé und Zidrou gelesen. Ein Panel auf S.43, 2. Reihe Mitte, es zeigt eine lächelnde Jeanne, erinnerte mich an das Lächeln von Manon im 3. Band von „Zoo“ (2008), ein Comic von Frank Pé und Philippe Bonifay. Das besagte Panel auf Seite 53, im oberen Drittel, Mitte, erinnert mich an das Lächeln der Mutter von Franz; also von Jeanne.

Zwar haben Manon und Jeanne zwei verschiedene Gesichter, aber es ist derselbe Ausdruck in diesem Lächeln, und ihre Augen liegen ähnlich weit, ungewöhnlich weit, auseinander.

Wenn wir davon ausgehen könnten, daß der Zeichner von beiden derselbe ist, dann handelte es sich vielleicht um eine unvergessene Liebe, der er in diesem Lächeln ein Denkmal setzt. Ähnlich wie bei dem Lehrer von Franz, Boniface benamt, der einerseits eine Hommage auf André Franquin ist, andererseits mit seinem Namen an den des Zeichners Bonifay erinnert. Und wo wir schon mal dabei sind: soll ,Franz‛ vielleicht auf ,Frank‛ hindeuten, also auf den Autor? Denn die Liebe zu den Tieren ist bei beiden dieselbe.

Dann wäre die unglückliche Liebe des Lehrers zur Mutter von Franz möglicherweise eine weitere Parallele zur Person des Autors? Denn Jeanne entscheidet sich schließlich nicht für den Lehrer, sondern für den Polizeileutnant. Auch Manon hatte sich zwar für den Bildhauer entschieden. Einer weiteren Personifikation des Autors, der ja nicht nur Texter, sondern auch Zeichner ist? Trotzdem endet diese Liebe unglücklich.

Leider funktionieren alle diese Verbindungen nicht so einfach, denn Frank Pé ist nicht der Zeichner, sondern Bonifay und Zidrou, und deshalb können die beiden einander so ähnlichen Panels in „Zoo“ und in „Die Bestie 2“ nicht über ein und dieselbe Person, den Autor, vermittelt sein.

Alles paßt so schön zusammen. Nur die Verschiedenheit der Autorenschaft verhindert die Zusammenschau dieser Verbindungen. Schade.

Immerhin: in den Comicalben werden die Funktionen von Frank Pé, Zidrou und Bonifay nicht aufgeschlüsselt. Wie weit sich die drei auf ihre jeweiligen Funktionen beschränken lassen, wird offengelassen.

Dienstag, 24. Oktober 2023

„Triggerpunkte“

1. Methoden und Begriffe
2. Ekel und Lebenswelt

An zentraler Stelle in dem Kapitel zu den „Triggerpunkten“ (Mau u.a. 2023, S.244ff.) treten bei den Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern Ekelgefühle zutage. Ekel ist ein starker Affekt, der großenteils lebensweltlich bedingt ist. In verschiedenen geschichtlichen Epochen und in verschiedenen Kulturen ekeln sich Menschen vor unterschiedlichen Dingen. Beim Ekel bewegen wir uns in einem Bereich, wo uns keine Statistik weiterhilft.

Daß wir es hier mit einem Phänomen der Lebenswelt zu tun haben, zeigt sich auch an der Zuordnung zu den Normalitätserwartungen der Diskutanten. („Normalitätsverstöße“: vgl. Mau u.a. 2023, S.253ff.) Der Begriff der „Normalität“ wird von den Autoren vorzugsweise in Zusammenhängen verwendet, die ich der Lebenswelt zuordne. Dieser Begriff vermittelt in gewisser Weise zwischen Statistik (Normalverteilungen) und Phänomenologie (Lebenswelt). Aber anders als der statistische Begriff reicht der Lebensweltbegriff weit in die Tiefen (Sedimente) des individuellen und des Kollektivbewußtseins hinab.

Vor allem zwei Bereiche unserer kulturell geprägten Körperlichkeit erzeugen auf individuell verschiedene Weise Ekel: alles was mit dem Magen-Darmtrakt zusammenhängt und die Sexualität. Vor allem das Umschlagen von Sexualität in Ekel weist noch einmal auf den engen Zusammenhang mit kulturellen, sich in der individuellen Ontogenese niederschlagenden Prägungen hin.

Bevor Kinder in die Pubertät kommen, im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren, bevor irgendwer erkennen kann, am wenigsten sie selbst, in welche Richtung sich ihre Sexualität entwickelt wird, durchlaufen sie eine Phase der Latenz, in der sie sich nicht für das Geschlecht, ihr eigenes oder von andern, ,interessieren‛. So kann man es bei Freud und bei Wikipedia nachlesen. Tatsächlich geht es weit über Desinteresse hinaus. Alles was mit sexuellem Verhalten zu tun hat, erzeugt bei Kindern in diesem Alter vor allem Ekel. Ich habe in dem Alter, vorm Fernseher sitzend, immer die Augen zugemacht, wenn die spannende Filmhandlung durch, wie ich fand, überflüssige Küsserei unterbrochen wurde. Entsprechendes Ekelverhalten kann man immer wieder bei Kindern in diesem Alter beobachten.

Mit dem Eintritt in die Pubertät kippt Ekel in Begehren um. Fortan begleitet uns oder die meisten von uns dieses Umkippen von Erotik in Ekel und von Ekel in Erotik den Rest unseres Lebens.

Sexualität und Ekel sind wie ein Kippbild aneinander gebunden. Ludwig Wittgenstein hatte sich von der Hase-Ente-Täuschung davon überzeugen lassen, daß seine im „Tractatus“ vertretene Sprachphilosophie, nach der jedes Zeichen nur eine Bedeutung haben kann, falsch ist. Zeichen konnten zwei Bedeutungen haben, so wie dasselbe Bild mal eine Hase und mal eine Ente sein konnte. Aus diesem Grund entwickelte er seine Philosophie des Sprachspiels, in dem Sprachzeichen erst durch die Art ihrer Verwendung eine Bedeutung erhalten.

Auch das Verhältnis von Sexualität und Ekel ist so ein Hase-Enten-Kippbild, in dem ein und derselbe Vorgang zwei völlig konträre Bedeutungen haben kann. Unabhängig von der hauptsächlichen sexuellen Orientierung verlieben sich Menschen nicht einfach in jede Vertreterin, jeden Vertreter des bevorzugten Geschlechts. Im Gegenteil kann die Vorstellung, mit einen bestimmten Menschen Sex zu haben, Ekel auslösen, während dieselbe Vorstellung bei einem anderen Menschen desselben Geschlechts Schmetterlingsgefühle im Bauch erzeugt.

Das kann uns sogar mit unserem Lebenspartner passieren. Die Menschen entwickeln sich, auch ihre Gefühle ändern sich, und es kann der Zeitpunkt kommen, wo wir mit dem einst geliebten Menschen keine erotischen Affekte mehr verbinden und entsprechende Avancen seinerseits sogar nur noch Ekel auslösen.

Die Plötzlichkeit, mit der aus Erotik Ekel und umgekehrt aus Ekel Erotik werden kann, macht aus dem Verhältnis von Sexualität und Ekel ein Vexierbild, so wie die Hase-Enten-Täuschung. Genauso wie bei einem Vexierbild können wir Erotik und Ekel nie gemeinsam empfinden. So wie wir entweder den Hasen oder die Ente sehen, aber nie beides gemeinsam, verhält es sich auch bei Erotik und Ekel. Der Sexualität liegt immer nur mal der eine oder mal der andere Affekt zugrunde.

Was die Diskutanten in dem Buch von Mau u.a. betrifft, ist der Ekelaspekt von Sexualität an verschiedenen Stellen offensichtlich. Auch an anderen Stellen als dem erwähnten Kapitel, in denen es um Pädophilie und um öffentliches Küssen geht. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.177/180) An diesen Stellen wird das Küssen in der Öffentlichkeit als „aufdringlich“ oder als „zu weit gehend“ bewertet. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.177) Ein Diskussionsteilnehmer beschwert sich: „Das sind teilweise Anblicke, die finde ich dann schon wieder ...“. Und eine Diskussionsteilnehmerin ergänzt: „zu drüber.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.180)

Die Autoren kommentieren diese Äußerungen als „Homophobie“: „Die Grenzen ostentativer körperlicher Zuneigung werden anders gezogen als bei Heterosexuellen.“ (Mau u.a. 2023, S.180) ‒ Es mag sein, daß homophobe Motive bei dem zitierten Wortwechsel mitspielen. Darum geht es mir hier nicht. Es geht mir darum, inwiefern Ekelgefühle bei Fragen erlaubter und verbotener Sexualität unvermeidlich immer mitspielen. Denn ich denke, daß es den beiden Diskutanten nicht um den Begrüßungskuß auf beide Wangen, wie er in Frankreich üblich ist, geht. Es ist wohl eher der öffentlich zur Schau gestellte, mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten verbundene Zungenkuß gemeint.

Der Ekel, der hier bei Passanten, die sich beim ersten Hingucken schnell abwenden, erzeugt wird ‒ so geht es zumindestens mir bei solchen Gelegenheiten ‒ und erstmal haften bleibt, weil man das, was man gesehen hat, nicht mehr ignorieren oder verdrängen kann, geht auf einen Intimitätsbruch zurück. Um solche Einbrüche in die Intimität unserer Mitmenschen zu vermeiden, gab es früher im gesellschaftlichen Umgang den ,Takt‛. Taktvoll ist ein Verhalten in der Öffentlichkeit, das genau solche Intimitätsbrüche vermeidet. Takt ist das, was ich im Unterschied zu den Autoren „Respekttoleranz“ nennen würde. Die Autoren nennen es bloß „Erlaubnistoleranz“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.173ff.)

In dem jetzt mehrfach erwähnten Kapitel zu Normalitätsverstößen problematisiert ein Diskussionsteilnehmer die Umgangsformen in Umkleidekabinen im Schwimmbad. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.254). Dabei beschwört er Phantasien von Vergewaltigung und vom Rumwedeln mit dem Penis vor den Augen seiner zwölfjährigen Nichte herauf. In diesem Zusammenhang betont er dann auch, daß er was gegen „Pädophilie“ hat. Die Autoren bewerten die Stellungsnahme des Diskussionsteilnehmers entsprechend: sie sprechen von der selektiven Vergrößerung eines „Problems weit über seine tatsächliche Relevanz“ hinaus. (Vgl. ebenda)

Sehen wir einmal von dem wirren Sammelsurium von Ekelszenarien ab, die der Diskussionsteilnehmer hier zusammenstellt, kann ich nicht erkennen, inwiefern die Verurteilung von Pädophilie einer „selektiven Aufmerksamkeit“ (ebenda) geschuldet sein soll. Die Sorge, daß Kinder überall in unserer Gesellschaft dem übergriffigen Verhalten von Erwachsenen weitgehend schutzlos ausgeliefert sind und daß gerade im Bereich der Umkleidekabinen und Gemeinschaftsduschen von öffentlichen Schwimmbädern besondere Gefährdungen bestehen, hat sich nicht erst in den letzten Jahren vielfach als begründet erwiesen. Wo für sexuelle Orientierungen aller Art Toleranz und Respekt eingefordert wird und dabei der Mißbrauchsaspekt unterbelichtet bleibt, verlieren wir die Sensibilität für Formen übergriffiger Sexualität in unserer alltäglichen Umgebung.

Aus den Sedimenten unseres Bewußtseins dringen, kollektiv verharmlost und individuell verdruckst, Motive herauf, die in unserem alltäglichen Umgang als Macht und als Ohnmacht, als Täterschaft und als Passion auf ungleiche Weise zur Ausführung kommen. Diese Ungleichheitsverteilung bildet eine Diskriminierung, die sich quer zu den jeweiligen sexuellen Orientierungen verwirklicht.

Es geht mir hier nicht darum, verschiedene Formen von Diskriminierung gegeneinander auszuspielen. Ich will hier nur Affekte ansprechen, um die man bei allen Diskussionen in der Wir-Sie-Arena wissen sollte, ehe wir die verschiedenen Argumente in die eine oder andere Richtung qualifizieren.

Zum Schluß möchte ich gerne eine kleine Geschichte erzählen, die mir wiederum eine Freundin in den 1980er Jahren erzählt hat.

Die Freundin erzählte mir, wie sie sich mit einem homosexuellen Bekannten über Sexualität unterhielt. Der Bekannte versuchte ihr zu beschreiben, warum Frauen für ihn keine erotische Anziehungskraft hatten. Er vermittelte ihr die anatomischen Besonderheiten, die er als abstoßend empfand, auf so lebhafte und bildreiche Weise, daß er sie dazu brachte, sich vor sich selbst zu ekeln.

Als mir die Freundin das erzählte, hatte ich wiederum eine lebhafte Vorstellung von zwei Menschen, die eine Gemeinschaft des Sich-Ekelns bildeten. Zum ersten Mal entstand in mir auch der Gedanke, wie eng Erotik und Ekel zusammenhängen. Sich von der einen und dem anderen angezogen zu fühlen, impliziert irgendwie immer auch, sich von wiederum anderen in sexueller Hinsicht abzuwenden.

Aber was mich an dieser Geschichte am meisten erstaunte, war die Freundin, die fähig war, den Ekel ihres Bekannten so zu reflektieren, daß sie sich über ihre eigene Körperlichkeit erheben und mit ihrem Bekannten eine paradoxe Gemeinschaft bilden konnte, die sie gleichzeitig einbezog und ausschloß.

Sonntag, 22. Oktober 2023

„Triggerpunkte“

1. Methoden und Begriffe
2. Ekel und Lebenswelt

Ich kaufte mir das Buch „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (2023) von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, weil ich mir davon erhoffte, einiges über die Erzeugung und die Manipulation des Gruppenbewußtseins zu erfahren. Was das betrifft, wurde ich auch nicht enttäuscht. Darüberhinaus hatte ich beim Lesen aber auch wenig schmeichelhafte Begegnungen mit mir selbst. Man kann dieses Buch nicht lesen, ohne sich beim Lesen über das übliche Maß hinaus zu engagieren und sich zu identifizieren oder sich zu distanzieren, und sich immer wieder ,getriggert‛ zu fühlen.

Bei mir war das insbesondere bei dem Abschnitt zu „Wir-Sie-Ungleichheiten“ der Fall (vgl. Mau u.a. 2023, S.158ff.), die die Autoren zu den ungesättigten Konflikten zählen, weil sie so neuartig sind, daß es für sie kaum oder keine etablierten Lösungsroutinen gibt. Dazu zählen insbesondere sexuelle Diskriminierungen und ihre Kategorisierung mittels sprachlich korrekter Formulierungen.

Insgesamt zählen die Autoren vier verschiedene Triggerpunkte auf, „neuralgische Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissenz, ja sogar Gegnerschaft umschlagen.“ (Mau u.a. 2023, S.246) Bei diesen Triggerpunkten handelt sich um „spezifische Erwartungen der Egalität, der Normalität, der Kontrolle und der Autonomie“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.248) Wenn diesen Erwartungen widersprochen oder zuwidergehandelt wird, schießen die Emotionen über.

Die vier Triggerpunkte verteilen sich über vier Konfliktfelder, und zwar trotz der Gleichzahl unabhängig vom jeweiligen Konflikt. Bei den vier Konfliktfeldern, die sich die Autoren aus vielen möglichen Konfliktfeldern ausgesucht haben, handelt es sich in ihrer Diktion um „Arenen der Ungleichheit“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.37ff.): also um die Arena der Oben-Unten-Gleichheiten (Reichtumsverteilung), die Arena der Innen-Außen-Ungleichheiten (Inländer/Migranten), die Arena der Wir-Sie-Ungleichheiten (Anerkennung/Ablehnung) und die Arena der Heute-Morgen-Ungleichheiten (Ökologie). Letztlich handelt es sich also bei allen vier Triggerpunkten um Ungleichheitserfahrungen, auf die Menschen besonders empfindlich reagieren.

Die Autoren zählen drei Methoden auf, mit denen sie ihr Thema bearbeiten. Sie greifen auf eigene empirische Arbeiten zurück und konsultieren darüberhinaus „Studien zur Konfliktstruktur westlicher Gesellschaften“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.51) Außerdem haben sie eine bundesweite repräsentative Umfrage zu „Ungleichheit und Konflikt“ erhoben, um mit „strukturentdeckenden statistischen Verfahren ... übergreifende() Einstellungskomplexe hinter den Antworten der Befragten“ offenzulegen. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.51f.) Drittens haben sie anhand des Vier-Arenen-Schemas Gruppendiskussionen „mit Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen ideologischen Orientierungen“ durchgeführt. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.52f.)

Zwischen der zweiten und der dritten Methode gibt es, wie sich im Verlauf des Buches zeigt, konzeptuelle Unvereinbarkeiten, die etwas mit der methodischen Differenz zwischen Statistik und Phänomenologie zu tun haben. Wenn die Autoren von „strukturentdeckenden statistischen Verfahren“ sprechen, bewegen sich in einem Bereich, der sich, was die Motive betrifft, mit der Psychologie, und, was den Gestaltbegriff betrifft, mit der Phänomenologie überschneidet. Für sich genommen ist es durchaus legitim, mit Hilfe statistischer Methoden bislang unentdeckte Zusammenhänge zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Kontexten aufzuweisen. Mithilfe von Umfragen kann man Präferenzen und Einstellungen in der Bevölkerung belegen oder widerlegen, die für das politische Handeln bedeutsam sind.

Problematisch wird das dann, wenn statistische Aussagen über die Zuordnung von Aussagen zu bestimmten Gruppen (Querdenker, AFD-Wähler, Konservative, Liberale, Ökos, Feministinnen etc.) auf das Diskussionsverhalten einzelner Menschen (Verwendung von Argumenten, Hochschießen von Emotionen) übertragen werden. Das zeigt sich gerade in der Auswertung der von den Autoren durchgeführten Gruppendiskussionen. Im letzten Blogpost habe ich schon auf das von einer Diskussionsteilnehmerin verwendete Argument verwiesen, daß Anders-Sein und Anders-Behandeltwerden zwei verschiedene Dinge sind. Die Diskussionsteilnehmerin führt dieses Argument nicht diskursiv, sondern in emotionalisierter Form aus: „Normal, jeder will akzeptiert werden. Das ist okay, finde ich gut. Aber nicht dieses, weil wir anders sind, wollen wir auch anders behandelt werden.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.200)

Die Emotionalisierung ist kein Grund den diskursiven Gehalt ihres Arguments abzuwerten, wie es die Autoren in der Folge machen. Sie nehmen die Äußerung der Diskussionsteilnehmerin als Beispiel für den Versuch, Abweichungen von der ,Normalität‛ abzuwehren. Es mag sein, daß dieses Argument statistisch gesehen bevorzugt von Menschen verwendet wird, die genau diese Absicht haben. Aber die Motive der Diskussionsteilnehmerin können anderer Art sein. Hinzu kommt, daß dieses Argument dem Artikel 3 des Grundgesetzes entspricht. Auch das Grundgesetz kann ein legitimes Motiv sein, sich so zu äußern.

Worauf ich hinauswill, ist, daß in Gruppendiskussionen verwendete Äußerungen vielfältig motiviert sind und sich nicht statistisch hinsichtlich einer bestimmten Einstellung auflösen lassen. Diesen Umstand haben die Autoren des Buches bei ihrer Auswertung nicht berücksichtigt.

Abgesehen von der Vereinbarkeit unterschiedlicher Methoden gehen die Autoren recht naiv mit grundlegenden Begrifflichkeiten um. Grundlegend für das Buch sind die Begriffe der Gleichheit und Ungleichheit. Diese Begriffe haben sehr unterschiedliche Inhalte, die von den Autoren nicht geklärt werden. Sie haben es versäumt, offenzulegen, in welcher Weise sie diese Begriffe verwenden wollen. Sie weisen zwar darauf hin, daß die verschiedenen Interessengruppen mit diesen Begriffen in sehr verschiedener Weise argumentieren: „Gerungen wird um die Ausdeutung dieser Egalitätserwartungen, die sowohl zur Untermauerung als auch zur Abwehr von Ansprüchen dienen können.“ (Mau u.a. 2023, S.252f.)

Aber dieser Umstand veranlaßt die Autoren leider nicht dazu, grundsätzlich zu klären, auf welcher Ebene eigentlich von Gleichheit und auf welcher Ebene von Ungleichheit die Rede sein soll. Gleichheit kann sowohl auf der Ebene von gleichen Werten (also Gleichheit innerhalb von Gruppen) als auch auf der Ebene von ungleichen Werten (also Gleichheit zwischen verschiedenen Gruppen) die Rede sein. Außerdem kann es bei der Gleichheit um das Verhältnis von Individualrechten und von Gruppenrechten gehen. Das sind drei verschiedene Hinsichten, die die Diskussion um das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit bestimmen können.

Tatsächlich werden diese verschiedenen Ebenen aber immer vermengt, sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft, wie das vorliegende Buch belegt. Aber die aktuell schwerwiegendste Verwirrung besteht in der Ungleichheit der Identitätszuschreibungen und der Gleichheit des Umgangs miteinander. Wenn eine Gesellschaft nicht auseinanderbrechen soll, muß sie bei aller Vielfalt (Ungleichheit) die Gleichheit der Umgangsformen einfordern. Eine Sonderbehandlung aufgrund von Andersartigkeit funktioniert nicht.

Das Beharren auf gleiche Umgangsformen hat nichts mit einem, wie die Autoren es pejorativ nennen, „restriktiv-universalistischen Verständnis von Gleichstellung“ zu tun (vgl. Mau u.a. 2023, S.203); und auch nichts mit einer, nicht minder pejorativ, „Gleichheitssemantik“ (vgl. Mau u.a.2023, S.251). Interessanterweise gibt es am Ende des Buches, buchstäblich auf der letzten Seite, eine Textstelle, wo die Autoren ein universalistisches Grundverhältnis von Gleichheit und Ungleichheit zum Ausdruck bringen. Sie beschreiben „Medien, die Kommunen, die Zivilgesellschaft und das Vereinswesen“ als Orte, an denen es sich entscheidet, „ob unterschiedliche Gruppen als gleichberechtigt und in ihrer je eigenen Lebensweise als gleichwertig angesehen werden“. Und weiter heißt es: „Hier gestaltet sich das Miteinander der Unterschiedlichen und hier wird die Frage (mit) entschieden, inwieweit aus Unterschiedlichkeit Ungleichheit oder sogar Unwertigkeit hervorgeht.“ (Mau u.a. 2023, S.420)

Das ist die einzige Stelle in diesem Buch, die ich gefunden habe, in der die Gefahr angesprochen wird, die mit der Betonung der Unterschiedlichkeit für die Gleichheit des Umgangs miteinander verbunden sein kann.

Damit komme ich zum Schluß nochmal auf die „Kategorien“ zu sprechen, mit denen wir andere und uns selbst etikettieren. Beim Gendern und beim Versuch, Rassifizierungen zu vermeiden, kommt heute alles darauf an, die korrekten Bezeichnungen zu verwenden. Nun gibt es natürlich Menschen, denen die Autoren „Kategorienblindheit“ vorwerfen (vgl. Mau u.a. 2023, S.193); anderen bescheinigen sie „Kategorienunsicherheit“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.192). Die einen verweigern also ihren Mitmenschen den ihnen gebührenden Respekt („Respekttoleranz“; vgl. Mau u.a. 2023, S.181ff.), die anderen sind zu bedauern. Vielmehr fällt den Autoren nicht dazu ein.

Interessanterweise wird diese hochpolitisierte Etikettierungsproblematik von den Autoren an anderer Stelle, wo sie mit Bezug auf „Sozialfiguren“ von einer „hochgradig verzerrte(n), ja ,schubladisierten‛“ Denkweise sprechen (vgl. Mau u.a. 2023, S.326), implizit in Frage gestellt. Der Zusammenhang mit der Kategorienproblematik beim Gendern und beim Vermeiden von Rassifizierungen wird von ihnen aber nicht explizit gemacht.

Tatsächlich geht es hier um den Kern dessen, was wir unter Emanzipation verstehen sollen. War Emanzipation einmal mit einem Denken und mit einer Lebensführung verknüpft gewesen, die das Kategorisieren von Menschen und Gruppen vermeiden, so ist heute das Gegenteil der Fall. Es geht hier nicht einfach nur um Psychologie, also um die Frage, ob ich mich in meiner ,Haut‛ wohlfühle. Es geht vielmehr um die Frage, wieweit und aus welchen Gründen ich mich selbst und andere, qua Etikettierung, einzuschränken bereit bin.

Dienstag, 17. Oktober 2023

GG Artikel 3

Ich lese zur Zeit das Buch „Triggerpunkte“ (2023) von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser. Bei den Triggerpunkten handelt es sich um neuralgische Umschlagpunkte, die Menschen in gesellschaftlichen Konfliktfeldern, die von den Autoren als „Arenen der Ungleichheit“ bezeichnet werden, dazu veranlassen, vom offenen Diskurs auf erbitterte Konfrontation umzuschalten. Wie die Bezeichnung schon verrät, geht es den Autoren in den verschiedenen Arenen um die erlebte Ungleichheit, die unabhängig vom jeweiligen Thema den eigentlichen Kern des Triggermoments bildet.

Damit werde ich mich in einem anderen Blogpost nochmal ausführlicher befassen. Für jetzt geht es mir um ein Argument, das im Zusammenhang von Diskussionen in der Wir-Sie-Arena (Mau u.a. 2023, S.158ff.) verwendet wird. Die Autoren führen dazu die Äußerung einer Teilnehmerin in einer Gruppendiskussion zur Diskriminierung von LGTBQ... an: „Normal, jeder will akzeptiert werden. Das ist okay, finde ich sehr gut. Aber nicht dieses, weil wir anders sind, wollen wir auch anders behandelt werden.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.200)

Die Autoren interpretieren diese Äußerung als Versuch, „Abweichungen“ in der „Normalität“ des Alltags unsichtbar zu machen, so daß dieser „sich selbst dabei nicht merklich ändern muss“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.201) Sie bezeichnen diese Einstellung als „Erlaubnistoleranz“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.173ff.), die von ihnen im Vergleich zur „Respekttoleranz“ als weniger progressiv gewertet wird. Diese Erlaubnistoleranz will ihrer Ansicht nach die eigene traditionelle Lebensform vor größeren Veränderungsansprüchen schützen und insbesondere sexuelle ,Auffälligkeiten‛ ins Private abdrängen; nach dem Motto: „Jeder nach seiner Fasson!“

Damit verbinden die Autoren eine von ihnen ebenfalls negativ bewertete „Kategorienblindheit“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.179 und S.193) Als kategorienblind gerieren sich ihrer Ansicht nach diejenigen, etwa alte weiße Männer, die auf der Gleichheit aller Menschen bestehen und damit, so die Autoren, vor allem sich selbst meinen. So wenig andere Menschen aufgrund ihrer Andersheit diskriminiert werden dürfen, so wenig dürften auch sie, eben als alte weiße Männer, diskriminiert werden. Die Autoren sprechen von einer „Schuldumkehr, der zufolge es das öffentliche Auftreten von Schwulen, Lesben und Transpersonen ist, das Intoleranz erst provoziert“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.179)

Wenn die Autoren aber Äußerungen wie jene der erwähnten Diskussionsteilnehmerin unter Diskriminierungsverdacht stellen, interpretieren sie etwas in diese Äußerungen hinein, das so gar nicht gesagt worden ist. Wenn die Diskussionsteilnehmerin nicht akzeptieren will, daß Menschen aufgrund ihrer Verschiedenheit auch verschieden behandelt werden müssen, dann steht sie damit auf dem Boden des Grundgesetzes. Ich zitiere:

GG Artikel 3:
„(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Aus diesem Grundgesetzartikel geht eindeutig hervor, daß das Grundgesetz kategorienblind ist. Alle Menschen sind gleich zu behandeln. Das gilt sowohl für die Benachteiligung wie auch für die Bevorzugung. Laut Grundgesetz darf es also auch keine Überkompensation für vergangenes Unrecht, also für historische Diskriminierungen geben, im Sinne einer Umkehrung dieser Diskriminierungen, denn das würde der Gleichheit aller Menschen zuwiderlaufen. Da aber der Staat aktiv auf die „Beseitigung bestehender Nachteile“ hinarbeiten soll, sind bestimmte vorübergehende Sonderregelungen wie etwa die Quotenregelung durchaus grundgesetzlich erlaubt.

Wenn sich also die Diskussionsteilnehmerin gegen eine grundsätzliche Sonderbehandlung bislang diskriminierter Gruppen wendet, bewegt sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes. Welche Motive die Diskussionsteilnehmerin für ihre Äußerung hat, ist dabei irrelevant. Diese Motive können verschieden sein. Für eine wissenschaftliche Studie ist es jedenfalls unangemessen, ihr ein bestimmtes Motiv zu unterstellen.

Ich persönlich finde es auch merkwürdig, wie sehr sich der Umgang mit Kategorien geändert hat. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, wo liberale, progressiv eingestellte Menschen bemüht gewesen waren, nicht in ,Schubladen’ zu denken. Auch bildete es einen wesentlichen Teil der eigenen Emanzipation, der ,Selbstverwirklichung‛, sich von allen einengenden Kategorien, die einen auf eine bestimmte Identität festzulegen versuchten, zu befreien. „Farbenblindheit“ galt als eine Grundvoraussetzung für die Überwindung rassistischer Vorurteile.

Wenn es um die Ermöglichung von Vielfalt und Verschiedenheit ging, galt Gleichheit mal als unverzichtbares Fundament für die Persönlichkeitsentfaltung und für die Verwirklichung von individuellen Lebensentwürfen. Mein eigenes Konzept, an dem ich in meinem Blog arbeite, Ich = Du, geht davon aus, daß Vielfalt nur auf der Basis von Gleichheit möglich ist.

Dieser Satz ist nicht umkehrbar. Vielfalt als Basis von Gleichheit funktioniert nicht. Der Krieg gegen jeden, der anders ist als ich, liegt unter der Voraussetzung von Vielfalt näher als der gesellschaftliche Frieden auf der Basis von Gleichheit.

Wilhelm von Humboldt hat das mal auf die Formel gebracht, daß eine Gesellschaft um so gebildeter ist, je mehr individuelle Verschiedenheit sie zulassen kann, ohne auseinanderzubrechen. Darin steckt positives und negatives: positiv ist die Wertschätzung von individueller Vielfalt. Negativ ist die Gefahr, die von der Vielfalt ausgeht. Eine Gesellschaft droht nämlich dort auseinanderzubrechen, wo sie nicht mehr der Raum ist, in dem sich die Verschiedenen als Gleiche begegnen können.

Donnerstag, 5. Oktober 2023

Rassismus bei Michael Ende?

In einem Beitrag zur DLF-Rubrik „Andruck“ rezensierte Jens Rosbach die Doktorarbeit von Julian Timm: „Der erzählte Antisemitismus“. Darin wird Michael Endes Kinderbuch „Der Wunschpunsch“ vorgeworfen, daß es antisemitische Klischees enthalte. Dabei geht es, so weit ich es verstanden habe, nicht darum, daß Michael Ende bewußt jüdische Menschen oder vermeintlich jüdisch aussehende Menschen diffamiert, sondern darum, daß er solche Klischees verwende, ohne explizit einen solchen Bezug herzustellen. Es handelt sich also gewissermaßen um ,freischwebende‛ Klischees, zu denen man diesen Bezug auf Juden erst herstellen muß, um sie kenntlich zu machen.

Mit anderen Worten: der Autor Michael Ende unterschlägt den Bezug, was dann der Doktorand Julian Timm für ihn nachholt. Denn der weiß natürlich, was auf die ‚Juden‛ paßt und wie sie aussehen.

Ich kann mit solchen Verdachtskritiken nicht viel anfangen. Sie mögen zutreffen oder sie mögen nicht zutreffen. Was man davon zu halten hat, ist meist mehr oder weniger denen überlassen, die sich davon getriggert fühlen. Tatsächlich läßt Julian Timm offen, ob Michael Ende selbst überhaupt darum gewußt hatte, als er diese Klischees in seiner Erzählung verwendete. Darauf kommt es ihm nicht an. Es kommt einzig darauf an, daß man Ende so verstehen kann; ob es nun zutrifft oder nicht.

Es ist jedenfalls leicht, auf diese Weise überall fündig zu werden, wenn man nur entsprechend danach sucht. Was aus den Sedimenten der Lebenswelt in uns aufsteigt und auf die eine oder andere Weise schreibend oder sprechend in Worte gefaßt wird, haben wir nicht unter Dauerkontrolle. Nicht einmal Schriftsteller. Erst recht nicht, wenn andere ihren Texten einen Sinn unterlegen, den sie schreibend nicht zu antizipieren vermochten.

Jedenfalls nimmt Jens Rosbach Timms Buch zum Anlaß, um das ganze Werk von Michael Ende unter Rassismusverdacht zu stellen. Ein Verweis auf den „Jim Knopf“ liegt da nur allzunahe. Man denke nur an das N-Wort-Kind Jim Knopf. Diese Art von meist nicht weiter ausgeführten Andeutungen, mal eben so ad hoc in den Raum gestellt, erweist sich durchaus gelegentlich als unzutreffend. So ist es jedenfalls beim „Jim Knopf“.

Neben dem N-Wort ist Mandala ein weiterer Aufreger, das in früheren Ausgaben des „Jim Knopf“ noch „China“ genannt worden war. Übrigens durch Eingriff des Verlags. Michael Ende selbst hatte die von ihm beschriebene Phantasiewelt „Mandala“ von Anfang an nicht China, sondern eben Mandala genannt. Alle darin beschriebenen Merkwürdigkeiten spielen mit den entsprechenden Vorurteilen, die man damals so von China hatte. Aber sie spielen eben nur damit. Wie sich im weiteren Verlauf der Erzählung erweist, hat Michael Ende Mandalas eigentlichen Kern in etwas anderem gesehen. Und das hat nichts mit Rassismus zu tun. Aber um das zu verstehen, muß man den „Jim Knopf“ eben gelesen haben.

Noch einmal in aller Deutlichkeit: ich bin mir durchaus bewußt, ein alter weißer Mann zu sein, und ich kann mich nicht von Rassismen aller Art pauschal freisprechen. Ich betrachte es als eine Lebensaufgabe, diesen menschenverachtenden Einstellungen immer und überall auf die Spur zu kommen und sie zu kontrollieren. Die Sedimente, aus denen sowas kommt, sind tief.

Aber was ich nicht akzeptiere, ist das eilfertige Auffinden von vermeintlich anrüchigen Stellen in der Literatur, um sich auf diese Weise, wie ich den Verdacht habe, selbst reinzuwaschen. Wer den Rassismus bei anderen kenntlich machen kann, muß bei sich selbst nicht mehr so genau hinsehen. Das ist mir zu billig. Da mache ich nicht mit.

Sonntag, 1. Oktober 2023

Bilder, Zeichen, Wörter, Phänomene

Die ältere der beiden Traditionslinien, die die Semiotik Aleida Assmann zufolge bis heute bestimmen (vgl. „Im Dickicht der Zeichen“ (2023), S.14ff.), beruht auf dem Ähnlichkeitsprinzip und reicht in die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurück (vgl. Assmann 2023, S.16). Zu diesen Traditionslinien siehe auch meinen Blogpost vom 03.07.2023.

Die ältere Traditionslinie brachte Schriftsysteme hervor, deren Zeichen Bilder sind, wie etwa die ikonischen Schriftzeichen der Chinesen und Japaner und andere ostasiatische Schriftsysteme. Die Hieroglyphen bilden einen Sonderfall, weil sie zwar auch aus ikonischen Schriftzeichen bestehen, die aber keine Bedeutungsträger sind, sondern Laute, insbesondere Konsonanten codieren. (Vgl. Assmann 2023, S.98f.) Wir haben es also eigentlich mit einer Konsonantenschrift zu tun.

Das Ähnlichkeitsprinzip, das den Zeichengebrauch im weitaus größeren Teil der Menschheitsgeschichte dominierte, bestand in einem tiefverwurzelten, noch heute virulenten Bedürfnis der Menschen, die Welt zu lesen. Die Welt so zu lesen bzw. zu deuten, daß wir etwas über unser unmittelbares Schicksal erfahren, was wir als nächstes tun sollen und wovor wir uns fürchten müssen.

Zeichen waren also anfangs Naturphänomene wie Wettererscheinungen, bestimmte Pflanzen und Tiere und dergleichen mehr. So ist es also kein Wunder, wenn zu den ersten kulturellen Zeugnissen kleine Skulpturen und Höhlenmalereien gehören. Diese Objekte und Bilder waren Zeichen, die Naturgegenstände abbildeten.

Günter Anders schreibt in seinem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1956), daß anders als gesprochene Worte und geschriebene Texte Bilder ihre S/P-Struktur verbergen. Mit S/P-Struktur meint er die grundlegende Syntax von Sprache, die darin besteht, daß von etwas (dem Subjekt des Satzes) etwas (ein Prädikat) ausgesagt wird. Auf diese Weise, so Anders, wissen wir bei der Sprache immer, woran wir sind, nämlich daß sie sich nur auf die Wirklichkeit bezieht, aber diese Wirklichkeit nicht ist.

Bei Bildern hingegen ist die Ähnlichkeit zwischen Bild und Wirklichkeit, etwa bei einer Photographie, so groß, daß wir nicht mehr erkennen, daß wir es auch hier mit etwas zu tun haben, das die Wirklichkeit, also das Subjekt, um das es im Bild geht, nur prädiziert. Denn die Photographin wählt ihren Gegenstand und den Blickwinkel und die Blende etc. sehr genau aus, bevor sie auf den Auslöser drückt. Möglicherweise arrangiert sie sogar den Hintergrund so, daß ihr Gegenstand auf die von ihr erwünschte Weise zur Geltung kommt.

Bilder haben also eine S/P-Struktur, auch wenn wir sie nicht ohne weiteres erkennen wie bei der gesprochenen Sprache. Deshalb haben wir es bei Bildern auch mit Sprachzeichen zu tun, es sei denn wir haben es mit einem abstrakten Kunstwerk zu tun, in dem alles Gegenständliche aus der Komposition entfernt wurde und das der erklärten Absicht des Künstlers zufolge niemand mehr etwas ,sagen‛ will.

Zugleich wird noch etwas deutlich. Ich verstehe mich selbst als Phänomenologen. Für mein Denken sind Phänomene wichtig. Sie bilden die Grundlage meines Denkens. Durch die Lektüre von Assmanns Buch habe ich folgendes gelernt: Zeichen sind keine Wörter, und Bilder sind keine Phänomene.

Phänomene ,geben‛ sich. Das heißt: sie zeigen sich. Assmann nennt solche Phänomene „indexikalische Zeichen“. (Vgl. Assmann 2023, S.54) Wo sich was zeigt bzw. ,gibt‛, befinden wir uns im Bereich der Phänomenologie, und dieser Bereich bildet, richtet man sich nach Assmanns Definition, einen Teilbereich der Semiotik.

Bilder hingegen sind, so Assmann, „Repräsentationen“. Sie zeigen etwas, statt sich. Bilder hat jemand gemalt oder photographiert, um etwas zu zeigen. Sie sind „ikonische Zeichen“. (Vgl. Assmann 2023, S.54f.) Assmann zufolge wären also ikonische Zeichen, Bilder, keine Phänomene.

Inwiefern aber können Zeichen Symbole sein? Sie sind es so wenig, wie sie Wörter sind. Symbole können sowohl Wörter wie Bilder sein. Aber immer haben wir es bei Symbolen mit Sprachzeichen zu tun. Denn Bilder sind, obwohl sie ihre S/P-Struktur verbergen, Sprachzeichen. Im Grunde ist alles ein Symbol für irgendetwas, wie wir es von der älteren Traditionslinie der Semiotik kennen: alles hat Bedeutung, vom einfachen Kieselstein bis hin zu den vertracktesten kulturellen Ritualen. Auf sprachlicher Ebene sind Symbole Metaphern. Auf nicht-sprachlicher Ebene kann sich alles in ein Symbol verwandeln, sobald wir etwas in der Natur und in unserer Umwelt mit einer Bedeutung versehen.

So sehe ich das. Aber Assmanns Definition von Zeichen und Symbolen ist das genaue Gegenteil meiner Definition. Assmann dekretiert: „Ihre (die Symbole ‒ DZ) Verbindung zur Sache, die sie vertreten, ist intransparent und beruht ausschließlich auf einem stabilen Code.“ (Assmann 2023, S.55) ‒ Die Bedeutungsebene vom Bild weg auf einen abstrakten Code zu verlagern, entspricht nicht mehr der älteren Traditionslinie, sondern der jüngeren, insbesondere seit dem linguistic turn. Nur Zeichen, nicht Symbole, werden ausschließlich durch Codes begründet, die keinen Referenten mehr haben. Bedeutungen werden hier durch die arbiträre Logik der Zeichendifferenz generiert.

Der Begriff des Symbols, als eine Verbindung zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen (symbállein: zusammenwerfen, vergleichen), enthält immer einen Sinnbezug und ist deshalb referenziell. Das Symbol ist deshalb in erster Linie ein Sprachzeichen und kein Schriftzeichen. Auf der Ebene der Sprache sind Symbole Wörter bzw. Metaphern. Ansonsten sind sie alles, was für uns Bedeutung hat.

Horkheimer/Adorno bringen in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947/69/88) das semiotische Zeichenkonzept in folgendem Zitat auf den Punkt: „Je vollkommener nämlich die Sprache in der Mitteilung aufgeht, je mehr Worte aus substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie das Gemeinte vermitteln, desto undurchdringlicher werden sie zugleich.“ (DA, S.173)

Mit „Mitteilung“ spielen Horkheimer/Adorno auf den kybernetischen Informationsbegriff an. Sie warnen also vor der Gefahr, daß die Sprache in Informationsverarbeitung aufgeht.

Das ist das Problem mit den Semiotikern und übrigens auch mit den digitalen Technologien bis hin zur KI. Die Semiotiker zweckentfremden Begriffe, die bislang ganz wesentlich als Bewußtseinsbegriffe gedacht gewesen waren, um sie auf bewußtseinsfremde, mechanische Funktionen zu übertragen. So sollen Computerfunktionen eine Semantik haben. Und Computer ,kommunizieren‛ miteinander. Und Algorithmen bestehen plötzlich nicht mehr aus ganz auf ihre logische Funktion beschränkten, bedeutungsleeren Zeichen, sondern aus Symbolen.

Dies jedenfalls habe ich aus meiner Lektüre von Assmanns Buch gelernt: Zeichen sind keine Wörter, und Bilder sind keine Phänomene.