„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. September 2023

Semiotik: Zur Bedeutungslosigkeit von Zeichen

„Je vollkommener nämlich die Sprache in der
Mitteilung aufgeht, je mehr die Worte aus
substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen
Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie
das Gemeinte vermitteln, desto undurch-
dringlicher werden sie zugleich.“
(Dialektik der Aufklärung)

In ihrem Buch „Im Dickicht der Zeichen“ (2023/2015), das die Grundlage für meine folgenden Ausführungen zur Semiotik bildet, zitiert Aleida Assmann Friedrich Hölderlin: „Das Zeichen an sich selbst (ist) unbedeutend = 0.“ (Assmann 2023, S.63)

Im Brockhaus (2006), der letzten in Buchform herausgegebenen Enzyklopädie, finde ich unter dem Stichwort „Semiotik“ folgende Stelle: „S. präsentiert sich eher als ein Feld verwandter Untersuchungen denn als eine selbständige Disziplin mit eigener Methode und präzisem Gegenstand.“ ‒ Mit anderen Worten: Semiotik ist eigentlich gar keine richtige Wissenschaft.

Beide Zitate, von Hölderlin und aus der Enzyklopädie, erklären, warum ich immer solche Schwierigkeiten damit hatte, zu verstehen, worum es in der Semiotik eigentlich geht. Es hatte mich schon immer interessiert, was es mit der Sprache auf sich hat. Aus einem inneren, aus mir selbst entspringenden Interesse heraus, aber auch aus einem Unwillen, einer Verärgerung heraus, die mit dem linguistic turn zusammenhängt, für den Namen wie Ferdinand de Saussure und Ludwig Wittgenstein stehen und der die geisteswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Entwicklung des ganzen 20. Jhdts. prägte. Meine Verärgerung galt dem sprachwissenschaftlichen Dogma, daß es außerhalb der Sprache kein Denken und sogar eigentlich keine Welt gebe. Die KI-Forschung hat dieses Selbstverständnis geerbt. Letztlich läßt sich sogar die KI auf den linguistic turn zurückführen.

Ich wollte also wissen, was es mit der Sprache auf sich hat. Und damit hing wiederum ganz eng die Frage zusammen, wieso Wörter eine Bedeutung haben. Das ist der eigentliche Gegenstand der Semantik. Aber die Semantik bildet keine eigene Disziplin. Sie ist nur ein Anhängsel der Semiotik. Wer wissen will, was es mit der Bedeutung auf sich hat, muß sich an die Semiotiker wenden. Aber die Semiotiker, siehe Hölderlin, haben die Bedeutung abgeschafft. Sie interessieren sich nur noch für Zeichen und ihre Funktionen. Und Funktionen sind bedeutungslos.

Ich war frustriert. Ich verstand die Semiotiker nicht. Ich verstand ihre Texte nicht, die sie schrieben. Sie gaben und geben sich keinerlei Mühe, sich verständlich auszudrücken. Warum auch. Hat ja alles keine Bedeutung. Als ich dann in Helmut Plessners Buch „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928) eine Definition fand, die die Bedeutung der Wörter an der Differenz von Meinen und Sagen festmacht, also an dem, was eine Sprecherin meint und was ein Hörer versteht, hatte er mich gewonnen. Dazu an späterer Stelle mehr.

Aleida Assmann machte mir die Entwicklung der Semiotik als wissenschaftliche Disziplin wieder verständlich. Sie spricht von zwei verschiedenen Traditionslinien, von denen die eine weit in die Menschheitsgeschichte zurückreicht und in der es den Menschen darum geht, die Welt lesbar zu machen. Die Menschen haben versucht, ihrer Umwelt Zeichen darüber zu entnehmen, was um sie herum vorging und was sie als nächstes tun sollten. Obwohl Assmann an keiner Stelle auf Levi-Strauss verweist, ist das, was sie „wilde Semiose“ nennt (vgl. Assmann 2023, S.18ff.u.ö.), vergleichbar mit Levi-Straussens „wildem Denken“.

In dieser semiotischen Traditionslinie, so Assmann, ist der Mensch, bis heute übrigens!, an nichts mehr interessiert als an Bedeutung. Er interpretiert einfach alles, was ihm begegnet: „Neben dem homo faber gibt es den homo interpres, den deutenden Menschen, der Impulse aus seiner Umwelt aufnimmt und als Zeichen empfängt, auch wenn er sie nicht verstehen kann.“ (Vgl. Assmann 2023, S.31)

Die andere semiotische Entwicklungslinie beginnt mit der Neuzeit und bringt im 20. Jhdt. den Strukturalismus und den Poststrukturalismus hervor. Auch der Dekonstruktivismus gehört hierhin. Ich will jetzt nicht Assmanns Ausführungen zu diesem Thema referieren. Das wird sonst alles zu lang. Ich fasse es nur kurz zusammen, so wie ich es verstanden habe: Der moderne Semiotiker befaßt sich nicht mehr mit der mündlichen Sprache, mit den Wörtern, die wir sprechen, mit Phonemen und Silben, aus denen sie zusammengesetzt sind; nicht mit Wörtern, die sich zu neuen Wörtern zusammenfügen lassen oder die über die Syntax zu einem Satz zusammengefügt werden. Das ist die Ebene der Bedeutung. Die kleinsten Elemente der gesprochenen Sprache als bedeutungsstiftende Praxis sind die Wörter.

Aber für Bedeutung interessieren sich die Semiotiker nicht, wie schon erwähnt wurde. Sie halten sich statt an die gesprochene Sprache an die Schrift, und sie nehmen statt den gesprochenen Wörtern die Schriftzeichen, aus denen die Wörter zusammengesetzt sind, in den Fokus. Und diese Schriftzeichen sind, wenn wir mal von den noch eng mit der Mündlichkeit zusammenhängenden Konsonantenschriften absehen, seit den Phöniziern und Griechen im europäischen Kulturraum Buchstaben.

Nachdem die zunehmende Alphabetisierung breiter Teile der Bevölkerung um die Wende vom 18. zum 19. Jhdt. zunächst dazu geführt hatte, daß die Menschen Bücher zu lesen lernten, als verfolgten sie einen spannenden Film ‒ also das Stadium des mühsamen, vom Mitsprechen begleiteten Buchstabierens überwunden hatten ‒, gerieten die Buchstaben zunächst wieder in Vergessenheit. Wer beim Lesen eines Buches einen inneren Film abspielen kann, sieht die Buchstaben nicht mehr. Er liest über sie hinweg. Das Erleben spielt sich auch beim Lesen eines Textes, wie das Hören in der gesprochenen Sprache, vor allem auf der Wort- und der Satzebene ab.

Nicht so die Semiotiker des 20. Jhdts.! Mit Emphase beschreibt Assmann die semiotische Abwendung vom Wort und die Hinwendung zum Buchstaben: „Die Buchstaben des Textes, seine irreduzible Materialität ist es, was das hermeneutische Verlangen nach Sinn und Transparenz von jeher übersehen und verdrängt hat. Nachdem der Geist (also das bewußte Lesen ‒ DZ) den Buchstaben unterjocht hat, dreht sich dieses Verhältnis um: das Medium ist nun die Botschaft.()“ (Assmann 2023, S.301f.) ‒ Das Lesen spielt sich für die moderne Semiotik jetzt nur noch auf der Buchstabenebene ab: „... es gibt kein Transzendieren der Lektüre mehr, keine Flucht von der Materialität der Zeichen in den Geist, kein behänder und selbstvergessener Aufstieg vom Buchstaben zum Deuten.“ (Assmann 2023, S.302f.)

Trotzdem gibt es sogar auf dieser materiellen Ebene noch eine Deutungspraxis. Jacques Lacan ersetzt das bislang von einem Bewußtsein begleitete Lesen durch ein Unterbewußtes. Er nimmt die Homonymie zwischen Medium (Presse, Rundfunk, Internet etc.) und Medium (Hellseherin, Wahrsager) zum Anlaß, den an sich bedeutungslosen Zeichen eine unterschwellige Bedeutung zuzusprechen, die wie in einer Psychoanalyse durch die Assoziationsbereitschaft von Lesern aufgedeckt werden kann. Mich erinnert die ,Geistlosigkeit‛ dieses ,medialen‛ Umgangs mit Texten an die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, wie sie Friedrich Kittler gefordert hat.

Aber das ist nur ein Ergebnis der semiotischen Buchstäblichkeit unter anderen. In der neuen Semiotik überwiegt eher eine Art des Lesens von Texten, das sich nur für die Funktionalität und Struktur von Schriftzeichen interessiert. Und damit sind wir auch schon bei den Maschinensprachen. Das semiotische Desinteresse an Wörtern und das Primat der Buchstaben (Zeichen) hat sich in allen wissenschaftlichen Disziplinen nachhaltig durchgesetzt. Lesen ist nur noch eine Variante der Informationsverarbeitung. Und Informationstheoretiker können genau berechnen, wie viele Bits ein Walgesang enthält, ohne auch nur ein ,Wort‛ davon zu verstehen.

Zurück zu Plessner. Plessners Differenz von Meinen und Sagen beruht auf einer Bewußtseinskrise, aus der heraus dann erst so etwas wie ein Selbstbewußtsein möglich wird. Wir wollen etwas tun, haben auch einen Plan, um unser Ziel zu erreichen, aber es mißlingt. Der auf das Ziel gerichtete Bewußtseinsstrahl wird unterbrochen. Plessner nennt das ein Hiatuserlebnis. Wir beginnen, zwischen uns und der Welt, zwischen Innen und Außen, zu unterscheiden. Wir werden unserer selbst bewußt. Diese Differenz überträgt sich auch auf die Kommunikation zwischen uns und anderen wie uns: was wir sagen, wird mißverstanden; was wir gemeint hatten, kommt beim anderen nicht an. Beim Versuch, uns besser auszudrücken, beginnen wir auch hier uns selbst besser zu verstehen. Plessner läßt deshalb die Bedeutung, aus der Differenz von Meinen und Sagen hervorgehen. Die Differenz von Meinen und Sagen ist auch die Differenz von Innen und Außen.

Auch die Semiotiker unterschieden lange Zeit zwischen Innen und Außen: „Die abendländische Semiologie beruht auf einem Zeichenbegriff, der das Bezeichnende und das Bezeichnete über Jahrhunderte hinweg als Dichotomie zwischen einem ,Außen‛ und einem ,Innen‛ thematisierte und unterschiedlichen ontischen Sphären zuordnete.“ (Assmann 2023, S.62)

Aber in der modernen Semiotik, der Semiotik des 20. Jhdts., der Semiotik des linguistic turn, verschwand das Interesse an dieser Differenz. Sie interessierten sich nur noch für das ,Innen‛ der Sprache, zu der es kein Außen mehr geben sollte, was eigentlich eine Verdrehung des tatsächlichen Verhältnisses von Innen und Außen darstellt. Denn es ist die Sprache, die Schrift noch mehr als die gesprochene Sprache, die den Sprechenden und Hörenden äußerlich ist. Das gilt im gesteigerten Maße seit der Erfindung des Buchdrucks. Das gedruckte Wort ist uns, anders als die Handschrift, absolut äußerlich.

Die Verlagerung des semiotischen Interesses auf das ,Innere‛ der Sprache hat möglicherweise mit der dreistelligen Relation des modernen Zeichenbegriffs, wie sie von Charles S. Peirce vorgeschlagen wurde, begonnen. (Vgl. Assmann 2023, S.17) Peirce unterscheidet zwischen dem Signifikanten (dem Zeichen), dem Signifikat (der Bedeutung) und dem Referenten (dem realweltlichen Gegenstand). Wenn Peirce am realweltlichen Bezug als Bestandteil des Zeichenbegriffs festhält, erkennt er damit immer noch die Außenwelt als etwas an, das Bestandteil einer ernstzunehmenden Semiotik ist.

Aber Peirce trennt zugleich die Bedeutung vom Gegenstand. Worin soll aber die Bedeutung bestehen, wenn nicht im Gegenstand? Aleida Assmann schreibt: „Während die Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat durch einen Code geregelt ist, der rein linguistischer Art ist, regelt die Verbindung zu einem Referenten die Einlassung des Zeichensystems in die Außenwelt und damit in praktisches Handeln und Verstehen.“ (Assmann 2023, S.17)

Peirce hat also die Bedeutung vom Gegenstand abgelöst und zum Bestandteil eines „rein linguistische(n)“ Codes gemacht. Der Bezug zur Außenwelt ist nicht mehr von linguistischem Interesse. Damit ist der erste Schritt zu einer Zeichentheorie getan, die sich von der Außenwelt abwendet und sich nur noch mit dem rein linguistischen Inneren von Sprachzeichen befassen will. Aber die Zeichen, mit denen sich die Semiotiker befassen, sind jetzt keine Sprachzeichen mehr. Sie haben sich in Schriftzeichen verwandelt.

Es ist bezeichnend, daß Assmann deshalb auch nicht mehr von einer Bewußtseinskrise spricht, wenn die Dinge und Worte auseinanderfallen, sondern von einer „Zeichenkrise“. (Vgl. Assmann 2023, S.151, 156, 162) Und an die Stelle des Bewußtseins tritt die „Zeichenkraft“. (Vgl. Assmann 2023, S.58) Von nun an kommt die Semiotik ohne menschliches Bewußtsein aus.

Indem Peirce die Bedeutung vom Gegenstand trennt und in den Zeichencode verlagert, haben wir es analog zu Kants Begriffen mit Zeichen ohne Anschauung zu tun. Es ist die bewußte Anschauung, die Apperzeption, die Kant zufolge die Verbindung zwischen Begriffen bzw. ,Zeichen‛ und unserer Wahrnehmung herstellt. Ohne diesen Bewußtseinsakt bleiben die Begriffe bzw. Zeichen leer und alles ist bedeutungslos.

Damit wir es nicht nur mit Schriftzeichen zu tun haben, sondern mit Sprachzeichen, bedarf es einer anderen dreistelligen Relation als der von Peirce vorgeschlagenen. Peirces Zeichenbegriff fehlt das Bewußtseinsmoment, das die drei Bestandteile, Signifikant, Signifikat, Gegenstand überhaupt in einer dreistelligen Relation zu integrieren vermag. Um das Schriftzeichen in ein Sprachzeichen zu verwandeln, müssen wir auf Plessners Differenz von Meinen und Sagen zurückkommen. Auch hier finden wir eine dreistellige Relation vor. Die Differenz von Meinen und Sagen beinhaltet, daß die Bedeutung weder auf Seiten des Sagens noch auf Seiten des Meinens liegt, sondern als ein Drittes aus ihrer Differenz hervorgeht.

Weder das Zeichen noch der Sender noch der Empfänger noch der Zeichencode sind die Quellen der Bedeutung, sondern das gesprochene Wort. Es gibt die Wörter im Lexikon, und es gibt das gesprochene Wort. Das Lexikon besteht aus Listen optionaler Bedeutungen für wiederum in Listen alphabetisch aneinander gereihte Wörter. Aber was die Wörter wirklich bedeuten, stellt sich erst heraus, wenn wir sie verwenden. Denn im Kontext ihres Gebrauchs ist ihre Bedeutung immer vielfältig und abhängig von dem, was die Sprecherin meint, und von dem, was der Hörer versteht. Wenn sich Hörerin und Sprecher auf ein gemeinsames Meinen verständigen, ist es als Bedeutung auf den jeweiligen Akt der Kommunikation bezogen und steht in künftigen Kommunikationsakten wieder offen für eine neue Verständigung.

Deshalb kann man mit Plessner sagen, daß die Differenz von Meinen und Sagen in diesen drei Bezügen besteht: Kontext, Meinen und Verstehen. Bedeutung geht also aus der Differenz von Meinen und Sagen hervor.

Ohne Bezug auf ein Bewußtsein gibt es keine Bedeutung. Eine Semiotik, die das Bewußtsein aus ihrer Zeichentheorie ausschließt, schließt auch die Bedeutung aus. Was bleibt ist ein auf die Interaktion von Maschinen reduziertes Sprachverständnis.

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