„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 28. April 2023

CDU-Grundsatzprogramm

Die CDU hat ein neues Grundsatzprogramm. Die zentrale Botschaft dieses Grundsatzprogramms lautet: Die soziale Marktwirtschaft wird es schon richten. Alles gut.

Mehr muß man über dieses Grundsatzprogramm nicht wissen. Alles andere ist Wortgeklingel, denn genau in dieser Botschaft liegt auch schon das Problem. Die CDU versteht unter der Marktwirtschaft eine auf ständigem Wachstum beruhende Wirtschaftsform. Eine auf ständigem Wachstum beruhende Wirtschaftsform ist aber keine Marktwirtschaft, sondern ein Kapitalismus. Und der Kapitalismus führt zum Ruin jeden Marktes.

Warum? ‒ Der Markt ist eine uralte menschliche Interaktionsform, in der es um die Befriedigung von Bedürfnissen geht. Diese Befriedigung wird durch den Warentausch ermöglicht. Der Kapitalismus befriedigt aber keine Bedürfnisse. Da er auf beständigem Wachstum basiert, kann der Kapitalismus sich nicht mit einem durch einen Markt regulierten Bedürfnisgleichgewicht zufriedengeben. Er muß vielmehr bei den Menschen ständig neue Bedürfnisse wecken, die sie vorher nicht gehabt haben. Dieses ständige Wecken neuer Bedürfnisse führt psychisch zu einer fundamentalen Unersättlichkeit („Gier ist geil!“) und ermöglicht so das Wachstum, das der Kapitalismus braucht, um zu funktionieren. Und endet in der Vernichtung unserer Lebensgrundlagen.

Das Paradigma für solche Bedürfniskonstrukte ist das Smartphone. Es sind jetzt, glaube ich, gerademal ungefähr zehn Jahre vergangen, seit es Smartphones gibt. In den Jahrtausenden davor gab es kein Bewußtsein davon, daß man so was bräuchte, und doch können sich die Menschen schon nicht mehr ein Leben ohne Smartphone vorstellen.

Märkte können so nicht funktionieren. Wo sie es dennoch versuchen, haben wir es mit Jahrmärkten zu tun. Dort gehen wir hin, um unsere Schaulust zu befriedigen, und werden mit Illusionen bedient. Es gibt eine klare Trennung zwischen Märkten und Jahrmärkten. Niemand würde versuchen, auf einem Jahrmarkt Werkzeuge oder Lebensmittel zu kaufen.

Der Kapitalismus bedient sich des Mechanismusses von Jahrmärkten und macht etwas Monströses daraus: Werbung.

Die CDU verwechselt also Marktwirtschaft mit Kapitalismus. Nicht umsonst verweist Herr Merz auf Ulrike Herrmann und ihr Buch über das „Ende des Kapitalismus“ (2022). Das lehnt er ab, wie er bei der Vorstellung des Grundsatzprogramms betont.

Nichts neues also.

Donnerstag, 27. April 2023

„In keinem Verhältnis zu dem, was sie fordern!“

So heißt es als Vorwurf gegenüber der Letzten Generation. Besonders häufig höre ich es von der CDU/CSU und ‒ man staune! ‒ von der AfD. Die Letzte Generation wahrt einfach nicht die Verhältnismäßigkeit zwischen der Radikalität ihrer Mittel und den damit verfolgten harmlosen Zielen.

Wie kann das sein? Haben wir es nicht mit Klimaterroristen zu tun? Mit Verbrechern etc.pp.?

Man hört es ihnen an, wie sehr es sie ärgert, diese Klimaschutzverweigerer. Diese Letzte Generation paßt einfach nicht in das Schema, in das sie sie zu pressen versuchen. Sie fordert nur, was die Ampel sowieso in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat. Es geht nur um die Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles. Also um längst international verbindlich vereinbarte Staatsziele.

Um so schlimmer für die Politik! Denn nichts davon wird umgesetzt. Muß ich noch extra auf die FDP verweisen? Auf die CSU von Herrn Söder? Auf die CDU von Herrn Merz? ‒ Was sie alle, bis in die SPD hinein, der Letzten Generation vorwerfen, fällt auf sie selbst zurück.

Und die ‚Bevölkerung‛ natürlich; in regelmäßigen Meinungsumfragen prozentual erfaßt. Man sieht diese ‚Bevölkerung‛ recht anschaulich abgebildet in den im Internet abrufbaren Videos: die ‚Bevölkerung‛ schleift die Klimaschützerinnen am Haarschopf gepackt von der Straße. Und die genervten Polizisten, im Dienst der nicht minder genervten ‚Bevölkerung‛, wenden, polizeilich korrekt zuvor durch Belehrung davor warnend, ‚Schmerzgriffe‛ an. Selbst Schuld. Die betroffenen Klimaterroristen sind ja vorher gewarnt worden.

Immer ist vom ‚Schaden‛ die Rede, den die ‚Klimaterroristen‛ anrichten. Was für ein Schaden? Autofahrer erleben nichts anderes, als was ihnen sowieso jeden Tag passiert: der ganz normale, durch ihre eigene Präsenz auf der Straße verursachte Stau.

Welchen Schaden aber richtet die Verkehrspolitik der FDP an? Ist es nicht eher so, daß sie mit ihren ständigen Forderungen nach Straferhöhungen nur von dem Schaden ablenken will, den sie selber anrichtet?

Denn natürlich geht es hier um die Frage nach der Perspektive, wenn vom ‚Schaden‛ die Rede ist. Es geht um Güterabwägung. Darüber muß diskutiert werden! Öffentlich! Und es ist nicht die Letzte Generation, die diese Diskussion verweigert.

Dienstag, 25. April 2023

GPT: Statistik statt Semantik

Christa Wolf beschreibt in „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994), wie die Stasi-Akten die Sprache in einen Wortbrei verwandelt haben. Die Masse der Überwachungsberichte hat zu einem Übermaß verschriftlichten Lebens geführt. Nichts blieb unbeobachtet. Doch was dabei herauskam, war kein Wissen. Es war alles falsch. Keine Wirklichkeit fand Eingang in die Stasi-Akten. Nur Lüge, Verdrehung, Desinformation.

Die DDR ist nicht mehr. Aber die Überwachungstechnologien haben sich weiterentwickelt. ChatGPT (Generative Pretrained Transformer) basiert auf der statistischen Auswertung alles dessen, was irgendwo schon mal gesagt und aufgeschrieben worden ist. Das Ziel ist ein Sprachmodell, das sich alles aneignet, was die versprachlichte Welt umfaßt. Das Ziel ist ein vollständiges Sprachmodell. Dieses Sprachmodell wäre das Ergebnis einer vollständig überwachten Gesellschaft. Das perfekte Archiv.

Wird daraus Wissen hervorgehen? Wird es wahr sein? Oder werden wir es mit einem weiteren Wortbrei zu tun haben?

Notwendigerweise wird es letzteres sein. Es ist eine Unsitte der KI-Forschung oder zumindestens ihrer feuilletonistischen Popularisierung mit ihren Auswirkungen bis in die Bildungspolitik hinein, Statistik mit Semantik gleichzusetzen.

Wissen hat etwas mit Wirklichkeit zu tun. Bedeutung hat etwas mit Subjektivität zu tun. Beides, Wirklichkeit und Bedeutung, gehört aufs engste zusammen. Beides, Wirklichkeit und Bedeutung, beruht auf einem subjektiven Zugang zur Welt. Subjektivität ist das Fundament jeder Intersubjektivität.

Wirklichkeit beruht auf der subjektiven Fähigkeit, zwischen Innen und Außen zu unterscheiden. Bedeutung beruht auf der subjektiven Fähigkeit, zu meinen, was wir sagen; und auf der subjektiven Fähigkeit des Ungenügens an dem, was wir sagen. Keine Statistik kann Intersubjektivität ermöglichen. Nur das Subjekt.

Wenn wir nicht mehr zu sagen versuchen, wofür wir im Innersten brennen, mit Worten, die jeder angelernten Wortbedeutung spotten, wird nichts von dem, was wir sagen, für andere von Belang sein. Semantik und Statistik haben nichts miteinander zu tun.

Sonntag, 23. April 2023

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends (1979/81)

Nach der Lektüre von „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994) war ich noch mal neugierig auf „Kein Ort. Nirgends“ (1979), ein Büchlein von grademal 112 Seiten, das ich vor vierzig Jahren schon mal gelesen hatte. Es beschreibt einen einzigen Nachmittag in einem bürgerlichen Salon in Winkel am Rhein, wo Christa Wolf Karoline Günderrode und Heinrich Kleist einander begegnen läßt.

Schon beim ersten Mal, als ich das Buch in die Hand nahm, verstand ich den Titel als deutsche Übersetzung des Wortes ,Utopie‛. Jetzt, nach meiner zweiten Lektüre und nachdem ich „Tabou“ gelesen hatte, staune ich über den thematischen Gleichklang zwischen diesen beiden Büchern. In beiden Büchern geht es um das Gefühl, nicht dorthin zu gehören, wo man sich befindet, und nicht in die Zeit, in der man lebt.

Noch radikaler: Christa Wolf führt am Beispiel Kleists den radikalen Zweifel daran vor Augen, daß es überhaupt irgendwo in dieser Welt einen Ort geben könnte, an dem das Leben lebbar wäre: „Unlebbares Leben. Kein Ort, nirgends.“ (Wolf 1981, S.108)

Kleist zur Seite stellt Christa Wolf eine Frau, die Günderrode, die schon qua Geschlecht in keine der Gesellschaften paßt, die von Männern geschaffen wurden. Beide, Günderrode und Kleist, begingen Selbstmord.

Trotz dieses historischen und kulturellen Hintergrunds ist doch klar, daß die eigentliche kritische Stoßrichtung des Buches auf die DDR zielt, als der kulturellen Nachfolgerin Preußens, von dem es im Buch heißt, daß Kleist ihm „freudig seine Jugend geopfert“ habe. (Vgl. Wolf 1981, S.66) Noch deutlicher wird die Kritik an der DDR, wenn es von Preußen heißt, daß es sich nicht um ein „wirkliche(s) Gemeinwesen“, sondern nur um die „Idee von einem Staat“ gehandelt habe. (Vgl. ebenda)

Auch Christa Wolf hatte an diese Idee geglaubt. Bei der Stasi hatte man ihr das Pseudonym „Doppelzunge“ gegeben, weil es diesen Leuten über den geistigen Horizont ging, daß jemand Kommunistin und trotzdem nicht einverstanden mit der DDR-Politik sein konnte.

In diesem Buch jedenfalls, so mein Eindruck, ist Christa Wolf auf der Höhe der Revolution von 1989 zehn Jahre später. Es ist mir unerfindlich, wie es zu den Angriffen westdeutscher Intellektueller gegen ihre Person hatte kommen können.

Wie in „Tabou“ verbindet Christa Wolf das Gefühl der geistigen und existenziellen Unzugehörigkeit mit der Frage nach dem Status des geschriebenen Wortes. Was wäre, wenn man den Leuten ihre Gedanken an der Stirn ablesen könnte? (Vgl. Wolf 1981, S.10) In die gleiche Richtung zielt Kleists Zweifel am Wort als Ausdruck der Seele. (Vgl. Wolf 1981, S.40) Was die Günderrode befürchtet, daß das unter den Menschen zu Mord und Totschlag führen könnte ‒ ein anderer macht an der Unlesbarkeit von Gedanken die Gedankenfreiheit fest ‒, läßt Kleist regelrecht verzweifeln: er „glaubt, niemals mehr schreiben zu dürfen“. (Vgl. Wolf 1981, S.40)

Wir haben es hier wieder, wie schon in „Tabou“, mit der Differenz von Meinen und Sagen zu tun; und auch hier geht es nicht um eine anthropologische Dimension, sondern um einen politischen und psychologischen Zustand: was nicht sagbar ist, ist auch nicht lebbar. Es bleibt nur die Hoffnung, daß es einmal in der Zukunft einen Ort gibt, eine Nachwelt, wo Menschen wie Kleist oder Günderrode verstanden werden und ihrem Leben so, im Nachhinein, Sinn gegeben würde. ‒ Kleist: „Ach diese Unart, immer an Orten zu sein, wo ich nicht lebe, oder in einer Zeit, die vergangen oder noch nicht gekommen ist.“ (Wolf 1981, S.29)

Inzwischen gibt es keine DDR mehr. Aber wie wir aus „Tabou“ wissen, ist die neue BRD keineswegs der Ort geworden, in dem ein Kleist sich zuhause fühlen könnte. Doch nach Me-too und Gendersprechexperimenten könnte das vielleicht Günderrode etwas anders empfinden. Stimmt da nicht zumindest die Richtung?

Christa Wolf formuliert einen Satz, der ein Zögern zum Ausdruck bringt: „Er nicht ganz Mann, sie nicht ganz Frau ...“ (Wolf 1981, S.95)

Ich erinnere mich an einen Fragebogen in meinem Studium, den wir damals in einem Pädagogikseminar ausfüllten. Es ging um Persönlichkeitsmerkmale. Als der Dozent die Ergebnisse der Auswertung unter uns verteilte, fügte er noch eine Warnung hinzu: es handle sich nicht um unveränderliche, ein für allemal festliegende Merkmale. Menschen entwickelten sich ständig weiter, so der Dozent. In meiner Auswertung wurde mir bescheinigt, daß ich eine weibliche Persönlichkeitsstruktur hätte. Das war für mich kein Problem. Und ich habe auch nicht den Eindruck, daß ich mich in dieser Hinsicht ,weiter‛ entwickelt hätte.

Zum Schluß erzählt Kleist der Günderrode von seinem Dramaprojekt. (Vgl. Wolf 1981, S.115f.) Ein Normanne namens Robert Guiscard will in Griechenland ein Normannenreich errichten. Wir haben es also wieder mit der „Idee von einem Staat“ zu tun. Ein Orakel warnt den Herzog davor, nach Jerusalem zu gehen, weil er dort sein Ende finden würde. ‒ Jerusalem, ein weiterer idealer Staat.

Guiscard fühlt sich sicher, denn vor Griechenland ist er ja nicht gewarnt worden. Dann aber stirbt er plötzlich auf Korfu, wo „einst eine Stadt mit Namen Jerusalem (lag)“. (Vgl. Wolf 1981, S.116)

So verschmilzt also des Herzogs Wunsch, in Griechenland ein Normannenreich zu errichten, mit der Warnung vor Jerusalem, was gleichsam über alle Versuche, eine ideale Gesellschaftsform zu verwirklichen, einen Fluch verhängt: kein Ort. Nirgends.

Mittwoch, 19. April 2023

Christa Wolf: Auf dem Weg nach Tabou (1994)

Bei Christa Wolfs Buch „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994) handelt es sich um einen Sammelband mit 29 Einzeltexten aus den ersten vier Jahren des ,wiedervereinigten‛ Deutschland, unter denen sich insgesamt drei Briefe von Jürgen Habermas, Günter Grass und Volker Braun befinden. Alle übrigen, von der Autorin selbst verfaßten Texte kreisen um die Frage nach dem Volk; insbesondere dem Volk des untergegangenen deutschen Teilstaats DDR. Zugleich stellt Christa Wolf die Frage nach dem Volk, das die alte DDR in einer friedlichen Revolution überwand und in ihr, Wolf, die Hoffnung auf eine neue DDR geweckt hatte. Und sie fragt nach dem Volk der neuen BRD mit ihren vier bis fünf neuen Bundesländern.

Dabei erweist sich das Wort ,Volk‛ als zu unergiebig, um alle Fragen, die die Autorin bedrängen, stellen zu können. Es braucht noch ein anderes Wort, ein Wort, das nicht exkludiert. Zu dem sich Menschen bekennen können, auch wenn sie aus dem Land fliehen mußten, das sie lieben. Es ist eben dieses Wort, ,Land‛, das, obwohl so viele es in seiner Geschichte verlassen mußten, weil sie vertrieben wurden, aus politischen, religiösen und ,rassistischen‛ Gründen, offen genug dafür ist, dennoch von ihnen weiterhin geliebt zu werden, auch wenn es sie so unermeßlich leiden machte. Dazu später mehr.

Zunächst zum ,Volk‛:

Gleich am Anfang ist von „Staatsvolk der DDR“ die Rede. (Vgl. Wolf 1994, S.9) Dieses Volk hatte einmal die Arbeiterklasse sein sollen (vgl. Wolf 1994, S.262), und Christa Wolf hatte damit, nach dem Nazi-Deutschland, ihre erste Hoffnung auf ein anderes, besseres Deutschland verbunden. Eine Hoffnung, die ihr in den siebziger Jahren verlorenging, als sie ihre offiziellen Funktionen als Repräsentantin der DDR-Literatur niederlegte und begann, sich politisch vor allem darauf zu konzentrieren, sich für bedrängte Kolleginnen und Kollegen einzusetzen. Ihre zweite Hoffnung waren dann die Menschen, die 1989 auf die Straße gingen und „tausendfach“ skandierten: „Wir ‒ sind ‒ das ‒ Volk!“ (Wolf 1994, S.9)

Ihr Weg nach „Tabou“ besteht in dem Versuch, zu ergründen, warum sich auch diese Hoffnung nicht erfüllen sollte.

Immer wieder versucht Christa Wolf, zu differenzieren, inwiefern ihr Volk, das Volk, auf das sie ihre Hoffnung gesetzt hatte, eine besondere „Menge“ oder „Masse“ gewesen ist. Denn wie bei jedem Volk, das sich auf die Straße begibt, haben wir es ja mit einer „Massenbewegung“ zu tun. (Vgl. Wolf 1994, S.217) Und zur Massenbewegung gehört eine „Massenpsychologie“, wie in Kalifornien, wo sich die Autorin ein Jahr aufhält und wo sie Fernsehprediger sieht, die die Massen in religiöse Verzückung versetzen. (Vgl. Wolf 1994, S.236)

Aber das 1989er Volk, auf das sie ihre zweite Hoffnung setzte, war anders, auch massenhaft, aber „gutgelaunt“, „zwanglos“ und vor allem „souverän“. (Vgl. Wolf 1994, S.43) Bis dann im ,wiedervereinigten‛ Deutschland „jugendliche Horden“ Häuser anzündeten, und Städtenamen, Hoyerswerda, Solingen, Mölln, zu Symbolen eines Rückfalls in die Barbarei wurden. Und Christa Wolf muß gestehen: „Gleichwohl sind sie unsere Kinder.“ (Wolf 1994, S.249) ‒ Wieso also folgte der souveränen Masse eine braune Masse nach? Oder ist vielleicht doch jede Masse tendenziell faschistisch?

Diese letzte Frage stelle ich, nicht Christa Wolf. Sie wagt es nicht, sie zu stellen. Obwohl alle ihre Gedanken um dieses unausgesprochene Problem kreisen. Ihr Volk, das Volk einer möglichen neuen, besseren DDR, das zusammen mit der alten DDR untergegangen ist, war ein gleichermaßen „übermütiges“ wie „selbstironisches Volk“ gewesen, das sich selbst als Masse in Bewegung reflektierte, als es 1989 grüßend an einem spontan von Schauspielern improvisierten Politbüro vorbeimarschierte und es so auf gleichermaßen anschauliche wie vergnügliche Weise zu Grabe trug. (Vgl. Wolf 1994, S.320)

„... der Souverän ging auf die Straße und lachte seine angemaßten Lenker und Leiter weg: ,Tschüß!‛ Wann gab es das in diesem Deutschland? Wann waren Deutsche als Masse so undeutsch: humorvoll, heiter, unverbissen, locker, voller Lebensfreude ...“ (Wolf 1994, S.321)

War es wirklich so gewesen? Waren sie wirklich ausnahmslos alle, als Masse eben, so humorvoll und locker, so voller Lebensfreude gewesen? Oder hatte es nicht vielleicht doch einige in dieser Masse gegeben, oder sogar viele, die aus einem glücklichen Massenbewußtsein heraus, mit berauschtem, vernebeltem Verstand, mitgelacht, sich mit gefreut haben mit den anderen, ohne im mindestens zu der Reflexionsleistung fähig zu sein, wie sie die das Politbüro improvisierende Schauspielertruppe an den Tag gelegt hatte? Oder die vielen Transparente mit ihren klugen und sensiblen, fröhlichen Sprüchen: wer hat sie erdacht? Wer hat sie formuliert? Das Volk?

Wie kam es, daß dieselben Leute, die Wir-sind-das-Volk! skandiert hatten, plötzlich „Wir ‒ sind ‒ ein ‒ Volk!“ skandierten?

Zum ,Land‛:

Diese Frage stellt sich letztlich auch Christa Wolf. Aber zunächst weicht sie ihr aus. Sie stellt nicht mehr die Frage nach dem Volk, sondern die Frage nach dem Land. Sie zitiert Anna Seghers, die jüdische Emigrantin, die nach ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland in den Teilstaat DDR zurückkehrte, auf der Suche nach dem Land, das sie liebte. Mit Bezug auf Günderrode, Hölderlin, Büchner, Kleist, Lenz und Bürger schreibt Seghers: „Diese deutschen Dichter schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wund rieben. Sie liebten gleichwohl ihr Land.“ (Zitiert nach: Wolf 1994, S.222)

Für Intellektuelle ist es leichter, ein Land und seine Kultur zu lieben, als das Volk, das meist nichts von ihnen wissen will. Man könnte es so auflösen: sie liebten ihr Land und litten an ihrem Volk. Auch Christa Wolf träumt von einer Utopie, das ein Land ist, in dem es sich zu leben lohnt. Ein besseres Land. Ein besseres Deutschland. So wie Anna Seghers sich für das „deutsche Teilland“, das die DDR gewesen ist, verantwortlich gefühlt hatte, auf der Suche nach einer „Gerechtigkeit“, die ihr als Jüdin versagt geblieben war und die sie nun der „Jugend“ in der DDR nahezubringen versuchte. (Vgl. Wolf 1994, S.227) Auch hier und immer wieder spricht aus jeder Zeile von Christ Wolfs Buch die Frage nach ihrer Verantwortung für das zweifache Scheitern, das der alten DDR ‒ „Wir haben dieses Land geliebt“ (Wolf 1994, S.273) ‒ und das der neuen Hoffnung von 1989: „Wir hätten“, gibt die Autorin ihre Antwort auf eine Publikumsfrage nach einer Lesung in indirekter Rede wieder, „für einen kurzen geschichtlichen Augenblick an ein ganz anderes Land gedacht, das keiner von uns je sehen werde. Und das eine Illusion ist, was ich damals schon wußte.“ (Wolf 1994, S.292)

Christa Wolf kommt um die unvermeidliche Einsicht nicht herum. Die Masse läuft Illusionen hinterher, die aus ihrem Rausch hervorgehen. Das Volk, das Land, ist so eine Illusion, ein Phantom: „Ich finde, es ist an der Zeit, im Osten wie im Westen Deutschlands von dem Phantom Abschied zu nehmen, welches das je andere und damit auch das eigene Land lange für uns waren. Zur Sache, Deutschland!“ (Wolf 1994, S.337)

Zur Sprache:

Was heißt das, dieses „Zur Sache, Deutschland!“? Wen ruft Christa Wolf hier zum Dialog auf? Wohl kaum das Volk. Aber vielleicht all die anderen, die immer schon von dem Volk Ausgegrenzten, die dennoch dieses Deutschland geliebt hatten und immer noch lieben, als Teilland oder als wiedervereinigt?

Sie liebten ein Phantom, ein Phantom, über das bereits „alles gesagt“ ist, wie es gleich zu Beginn des letzten Sammelbandtextes heißt: „Über Deutschland ist alles gesagt.“ (Wolf 1994, S.313) ‒ Und zwar von allen. Von extrem rechts bis extrem links. Und irgendwo dazwischen von den Intellektuellen.

So wie das Volk eine Masse bildet, haben wir es auch mit Wortmassen zu tun. Wortmassen, die einen Wortbrei bilden, der „blubberte, zischte, überkochte“; ein Brei, der „nicht mehr zu bändigen“ war und ist: „er ergießt sich über Herd und Küche, aus dem verunreinigten Haus hinaus auf die Gasse, in alle Straßen unserer deutschen Städte.“ (Vgl. Wolf 1994, S.313)

Wie hatte es zu dieser Vermassung, zur Breiwerdung von Sprache, kommen können? Wie hatte aus den Tagebüchern, Erzählungen, Romanen deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller so ein Wortbrei werden können? Wieso kann Christa Wolf ihrer eigenen „Mit-Schrift“ (Wolf 1994, S.9) nicht mehr trauen? Wieso steht ihr alles, was sie beobachtet, an sich und ihrem Land, in dem Moment, wo sie es aufschreibt, unter dem Verdacht, verfälscht zu sein? ‒ „(A)ber“, so Christa Wolf resignierend, „was führte nicht zur Verfälschung?“ (Vgl. Wolf 1994, S.285)

Wieso verwandelt sich gerade ihr Wunsch, „alles zu sagen“ ‒ gleichgültig, ob schon alles gesagt worden ist oder nicht ‒ in die „Scheu“, ein „Geheimnis“ zu verletzen? (Vgl. Wolf 1994, S.175) ‒ Ist das verletzte Geheimnis schuld an der Breiwerdung des Wortes?

Plessner könnte aus seiner anthropologischen Perspektive einiges zur Differenz von Meinen und Sagen anmerken. Aber Christa Wolfs Problem ist nicht anthropologischer, sondern politischer, sozialer und psychologischer Natur. Es sind die Stasiakten; also ,Mit-Schriften‛ anderer Art als die Texte der DDR-Autoren und die nichtsdestotrotz zur Verfälschung und wortwörtlichen Vermassung von Sprache geführt haben. In die berufsbedingte Selbstbeobachtung der Schriftstellerin mischte sich die Fremdbeobachtung der Stasi, so daß es für Christa Wolf schließlich schwierig wurde, zwischen echten und verfälschten Wörtern zu unterscheiden: „Die Akten enthalten nicht ,die Wahrheit‛, weder über den, zu dessen Observation sie angelegt wurden, noch über diejenigen, die sie mit ihren Berichten füllten.“ (Wolf 1994, S.294)

So wurde für Christa Wolf ihre eigene Mitschrift verdächtig, Teil des Wortbreis zu sein, der sich auf die Straßen ergoß. Die Vermengung dieses Breis setzte sich im wiedervereinigten Deutschland fort, wo die Westdeutschen glaubten, Gesinnungen und Taten ihrer ostdeutschen Mitbürger aus den Stasiakten ablesen zu können. Christa Wolf mußte erfahren, „wie schwierig es sein kann, sich ehrlich und angemessen damit (mit der eigenen Vergangenheit ‒ DZ) auseinanderzusetzen, wenn in der deutschen Öffentlichkeit ‚Vergangenheitsbewältigung‛ weithin als Skandalchronik stattfindet, reduziert wird auf das Blättern in Akten, die ihrerseits eine Reduktion von Lebensläufen auf ein Ja-Nein-Schema, auf schwarz-weiß, schuldig-unschuldig darstellen und nur auf diese Fragestellung Auskunft geben können.“ (Wolf 1994, S.330)

Zur Volksseele:

Was also hat es, massenpsychologisch gesehen, mit der „Menge“, der „Masse“, dem „Volk“ auf sich? Was soll man sich unter der „Volksseele“ (Wolf 1994, S.315), was unter einem „frei flottierenden Nationalgefühl“ (Wolf 1994, S.324) vorstellen?

Ich wünschte, Christa Wolf wäre noch am Leben, so daß ich ihr meine Sicht dazu mitteilen könnte. Ich wäre auf ihre Entgegnung gespannt. Meiner Ansicht nach kann diese ominöse Volksseele nichts anderes sein als die Lebenswelt, in die wir alle eingebettet sind. Eingebettet wie in Sedimentschichten übereinandergelagerte „Gerippe“ (Wolf 1994, S.239). Denn alle Menschen bestehen aus Schichten, und wir alle haben ‒ qua Lebenswelt ‒ Leichen im Keller, von denen wir nichts wissen wollen, die aber jederzeit wieder lebendig werden können.

Das Bild von den übereinandergelagerten Gerippen, habe ich aus Christa Wolfs Buch, das zurecht den Namen „Tabou“ im Titel führt. Auch ein anderes Bild aus ihrem Buch weist in diese Richtung. Sie schreibt von übereinanderbelichteten Erfahrungsbildern, und wie bei einem mehrfach belichteten Photo geistern gespensterhafte Gestalten durchs Bild, die voneinander nichts wissen, die aber, ebenfalls ein von Christa Wolf entworfenes Bild, sich plötzlich wie durch eine geöffnete Schleuse in unsere Köpfe hineinergießen wie ein starker, andersherum fließender Bewußtseinsstrom. (Vgl. Wolf 1994, S.206) So daß wir nachts im Traum im rasenden Fall „durch Schichten von immer dichterer Konsistenz / Luft Wasser Morast Geröll / steckenzubleiben“ und „zu ersticken“ drohen. (Vgl. Wolf 1994, S.279)

Die ,Volksseele‛, aber eigentlich unsere Lebenswelt, besteht aus solchen Schichten, und ganz tief unten befindet sich der „Bodensatz“. In jeder und jedem von uns.

Brot statt Blut:

Wo also ‒ zwischen Mensch und Erde, zwischen Erde und Planet ‒ befindet sich das Volk? Ist es ein Organismus? Verstoffwechselt es das Blut jener, die sich ihm zugehörig fühlen und für es zur Ader gelassen werden?

Es ist wohl doch nur ein Phantom, von dem im letzten Text des Sammelbandes die Rede ist. Denn der Volksseele, dem frei flottierenden Nationalgefühl, läßt sich keine Substanz zuordnen, kein pseudoorganisches Ganzes aus Menschen, die sich zu einer Menge zusammenfinden und auf der Straße Parolen skandieren. Sie besteht lediglich aus einigen unteren Schichten des „Intelligenzgewebes“, wie Christa Wolf die menschlichen Körperzellen nennt (vgl. Wolf 1994, S.132f.), und darüber sich erhebend ein reflektierendes Ich, souverän und selbstironisch, ein Mensch, der sich selbst zu einem freien Denken, zu einer freien Rede ermächtigt, zu einer Mitschrift von allem, was aus den verschiedenen Schichten, den Sedimenten, dem Bodensatz aufsteigt ins wache Bewußtsein.

Diese Phantome dingfest zu machen, sie handhabbar zu machen, sie zu verstoffwechseln und auszuscheiden, dazu sind Mitschriften wie Christa Wolfs Buch über ihren Weg nach Tabou da. Am Ende wird dann das Blut, das wir für das Volk hatten vergießen sollen, zum Brot, das uns, „zusammen mit Wein, zum Gespräch (anregt), zu Vertrautheit, Freundschaft, Gastfreundschaft“. (Vgl. Wolf 1994, S.339)

Das wäre doch mal eine Utopie, die sich zu leben lohnt. Kein Volk ist dafür nötig; nur Gemeinschaft, du und ich und noch einige. Aber niemals viele.

Dienstag, 18. April 2023

,Selbsternannt‛

Zum Wochenende sind neue Aktionen der Letzten Generation in Berlin angekündigt. Ganz Berlin solle lahmgelegt werden, heißt es im DLF, nicht ohne die Letzte Generation mit dem herabsetzenden Attribut ,selbsternannt‛ zu versehen. Anschließend darf der Generalsekretär der CDU im Interview höhere Strafen für Aktivisten fordern und die üblichen Desinformationen zur angeblich klimafreundlichen Politik seiner Partei verbreiten. Vor allem aber: die ,CDU‛ ist natürlich überhaupt nicht ,selbsternannt‛. Auch CSU und FDP dürfen sich einer nicht herabsetzenden Namensnennung im DLF erfreuen. Warum eigentlich? Sind sie etwa nicht selbsternannt? Wer hat ihnen ihre Parteinamen verliehen? Irgendjemand anders, als sie sich selbst?

Natürlich fällt kein einziges Wort, weder in der DLF-Berichterstattung noch im Interview, darüber, wie die FDP jede vernünftige Klimapolitik blockiert und darüber hinaus in der Ampel verkehrs- und wirtschaftspolitische Maßnahmen fordert und durchsetzt, die die Klimakrise zusätzlich verschärfen. Kein Wort darüber, daß keine friedliche Demonstration von Fridays for Future sie bislang daran zu hindern vermochte. Zuletzt haben sich die Fridays sogar von den Aktionen der Letzten Generation distanziert.

Dafür werden sie sehr geschätzt, denn sie tun niemand weh. Und natürlich sind sie auch nicht ,selbsternannt‛.

Aber wer sind wir denn, wir alle, ob Aktivistin, SUV-Panzerfahrer oder Mütter und Väter, Omas und Opas? ‒ Wir alle sind die letzte Generation. Die letzte, die noch etwas tun kann, bevor es endgültig zu spät ist. Dazu brauchen wir uns nicht zu ,ernennen‛. Es ist eine einfache Beschreibung dessen, was wir sind.

Höhere Strafen für Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation? ‒ Wenn man jetzt schon eingesperrt werden kann, weil man bloß die Absicht hat, Straßen zu blockieren, dann sperrt mich bitte auch ein! Ich bin zwar noch nicht zur Tat geschritten, aber ein geistiger Mittäter bin ich auf jeden Fall.

Mittwoch, 12. April 2023

Technologieoffene Innovationsverweigerer

Ich überlege, was mich an der FDP so fürchterlich ärgert. Jetzt wieder besonders, wo FDP-Politiker, choral begleitet von der CDU/CSU, wenige Tage vor dem endgültigen Auslaufen der letzten Atomkraftwerke ihre Lügen über das Klima und die Atomkraft verbreiten. Ich schreibe hier ,Lügen', weil ich es leid bin, mich auf das Niveau einer vorgetäuschten ,Argumentation‛ einzulassen, die aus nichts anderem besteht als aus beliebig austauschbaren rhetorischen Versatzstücken.

Warum also rege ich mich über die FDP mehr auf als über die AfD? Bestimmt nicht, weil ich beide einander gleichsetze. Ich bezweifle keineswegs, daß die FDP auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Sie bekämpft nicht die Demokratie. Nur jede vernünftige Politik, die etwas gegen den Klimawandel unternimmt.

Der eigentliche Aufreger ist für mich, daß die FDP in der Regierung sitzt und skrupellos ihre Machtposition für ihre eigenen egoistischen Parteiinteressen ausnützt.

Warum ,egoistische Parteiinteressen‛? Tun das nicht alle? Sicher ist das so. Aber weder CDU/CSU noch die AfD sind Teil der Bundesregierung. Das ist es, was mich an der Politik der FDP so aufregt. Was mich wünschen läßt, daß sie bei der nächsten Bundestagswahl an der 5-Prozent-Hürde scheitert. Denn wenn sie es wieder schaffen sollte, wird sie wieder in der nächsten Bundesregierung dabei sein. Und alles bleibt, wie es ist.

Ich befürchte, daß letzteres genau das ist, was sich ein relevanter Teil meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger wünscht.

PS (14.04.2023): Ich habe heute morgen den bayrischen Ministerpräsidenten hysterisch über das bevorstehende Aus der Atomkraft in Deutschland hetzen hören. Natürlich ist diese üble Stimmungsmache dem bayrischen Landtagswahlkampf geschuldet. Das ist so ermüdend, desillusionierend. Natürlich ist die Lage ernst; aber immer auf andre Weise, als es diese Pseudopolitiker ihre Wählerinnen und Wähler glauben machen wollen.

Freitag, 7. April 2023

Kleine Karfreitagspredigt

Ich gehe mit diesem Blogpost ein Wagnis ein. Ich will als alter weißer Mann über Diskriminierung schreiben, also gewissermaßen wie ein Blinder über Farben. Wobei auch diese Bemerkung schon wieder eine Diskriminierung beinhaltet.

Ich vergrößere mein Wagnis sogar noch, indem ich mich weigere, zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen zu unterscheiden. Ich will alle Diskriminierungen einander gleichsetzen. Dabei gestehe ich allerdings zu, daß es ältere und jüngere Formen der Diskriminierung gibt: die Diskriminierung der Frauen ist die älteste, so alt wie das Patriarchat, und reicht ca. drei bis vier Tausend Jahre zurück.

Warum gehe ich dennoch von einer prinzipiellen Gleichheit aller Formen der Diskriminierung aus? ‒ Weil die Diskriminierungserfahrung Teil der sozialen Natur des Menschen ist.

Jean-Jacques Rousseau hat es auf den Punkt gebracht: es geht letztlich um unser Gerechtigkeitsempfinden. Ungerechtigkeit löst immer dann die größte Empörung aus, wenn sie uns von unseren Mitmenschen zugefügt wird. Ein Naturereignis, so sehr es uns schadet, würde niemals als Ungerechtigkeit empfunden, schreibt Rousseau.

Natürlich beklagen Menschen immer das ihnen widerfahrene Unglück, auch wenn es sich um Naturkatastrophen handelt. Aber um sich beklagen zu können, richten sie sich wie Hiob gegen Gott, den sie verantwortlich machen können. Oder sie verbrennen Hexen. Sie versuchen Personen verantwortlich zu machen, auch wenn es die schwarze Pest ist, die sie sterben läßt.

Wo wir gerade bei Gott sind. Am heutigen Karfreitag ist es vor allem Judas, der von allen, von Gott und seinen Gläubigen, diskriminiert wird: als einer, der von Anfang an dafür vorgesehen war, der Schuldige zu sein; und der einzige zu sein, dem nicht vergeben werden kann.

Um welche Diskriminierungen geht es mir also heute? Um diejenigen, die strukturell bedingt sind. Und dabei denke ich zwar auch ans Patriarchat, aber eben nicht nur an den ,Rassismus‛ oder an den Sexismus. Ich denke an die Infrastruktur einer Gesellschaft, die über die Dazugehörigkeit von Menschen entscheidet. Und ich denke daran, wie sehr diese Infrastruktur Teil unserer Persönlichkeitsstruktur geworden ist. Wofür ich auf das Smartphone verweise: als nicht mehr wegzudenkender Bestandteil unserer Persönlichkeit.

Mir ist beim Lesen von Christa Wolfs „Auf dem Weg nach Tabou“ (1994) aufgefallen, daß die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die political correctness schon sehr alt ist. Sie reicht viele Generationen zurück ins 20. und 19. Jhdt. Die heutige Genderdebatte bildet nur eine weitere Variante der political correctnesss. Man kennt noch die vielen Variationen des N-Wortes, wie man Menschen mit anderer Hautfarbe korrekt bezeichnen darf, bis wir irgendwann verstanden, daß jeder Blick auf die Hautfarbe rassistisch ist: daß es da keine korrekte Bezeichnung für gibt, weshalb das diskriminierende Ursprungswort nur noch mit seinem Anfangsbuchstaben ausgesprochen werden darf.

Bei Christa Wolf fiel mir auf, was ich fast schon wieder vergessen hatte, daß es auch im Umgang zwischen Ost- und Westdeutschland solche sprachlichen Strukturen gibt, aus denen wie aus einem Myzel Pilzwörter aufpoppen, ,Beitrittsgebiet‛, ,Jammerossi‛, ,Provinz‛, ,Buschzulage‛, ,Evaluation‛, ,Kommandowirtschaft‛; Pilzwörter, die die strukturelle Diskriminierung explizit machen: „Da helfen nur noch mühsame, schmerzhafte, oft verletzende Sprachübungen in kleineren und größeren Kreisen, aus denen wir alle vielleicht verändert herauskommen.“ (Wolf 1994, S.57)

Interessant ist, daß Christa Wolf diese Sprachübungen „schmerzhaft“ nennt. Political correctness ist wie eine Operation am lebendigen, schmerzempfindlichen Leib. Und dabei hatte Wolf bei all ihrem politisch wachen Bewußtsein für die Notwendigkeit ihrer schriftstellerischen Arbeit am geschriebenen und gesprochenen Wort noch nichts von der Genderakrobatik von heute geahnt.

Ich verstehe die Notwendigkeit, die Sprache zu reformieren. Das ist die tägliche Arbeit unserer Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Auch ich empfinde mein Schreiben als Arbeit am Wort. Aber diese Sprache ist auch die Sprache, die ich täglich spreche. Und ich spreche sie, weil ich denke und fühle. Ich spreche, wie ich die Luft ein- und ausatme.

Es ist wie mit den zahlreichen gescheiterten Reformen unseres Bildungssystems. Da werden nicht einfach nur irgendwelche Institutionen reformiert, wie etwa Verwaltungsstrukturen, oder Gebäude instandgesetzt, wie ein Schulgebäude, was sowieso selbstverständlich und notwendig ist. Bei den ständig scheiternden Bildungsreformversuchen experimentieren wir vielmehr mit unseren Kindern! Und was die Kinder betrifft, sind nur die Experimente ethisch zu rechtfertigen, die ihnen unmittelbar nützen und nicht erst Jahre später, wenn sie erwachsen sind; also wenn es zu spät ist.

So empfinde ich für die Sprache, meine Sprache: wo ich keine Wörter mehr habe, die ich unmittelbar in Gespräche einbringen kann, muß ich verstummen. Da nutzt es weder mir noch meinen Gesprächspartnern etwas, daß ich beim Versuch, die politisch korrekten Wörter zu finden, ins Stammeln und Stottern gerate. Wo mir sowieso schon die freie Rede schwerfällt und ich lieber Texte schreibe.

Für mich ist ChatGPT jedenfalls nicht entwickelt worden. Ich hätte gut darauf verzichten können. Tatsächlich fühle ich mich gekränkt von dieser Technologie. Eine tiefe, verletzende Kränkung. Tatsächlich empfinde ich die allgemeine Wertschätzung der KI als eine persönliche Diskriminierung. Als eine Geringschätzung der menschlichen Fähigkeit zu denken.

Persönlichkeitsstrukturen sind ein Mix aus im einzelnen Menschen inkarnierten gesellschaftlichen Konventionen und individuellen Gewohnheiten. Plessner würde das „Körperleib“ nennen, aber es fehlt dem auf der Grenze zwischen Innen und Außen schwankenden Selbst die Neutralität. Im Gegenteil sind unsere Sprech- und Lebensgewohnheiten mit Wertungen aufgeladen, denen wir in unseren Interaktionen nicht entkommen können. Alles das läßt sich zusammenfassen in dem Wort ,Infrastruktur‛. Es umfaßt das volle Gewaltpotenzial aller zur Infrastruktur gehörenden Einrichtungen bis hin zur Digitalisierung aller Lebensbereiche und bis hin zum täglichen Straßenverkehr, dem wir tagtäglich ausgesetzt sind, sobald wir die Wohnung verlassen und einen Fuß auf die Straße setzen. Überall wird diskriminiert. Nicht nur in der Sprache. Die Infrastruktur zerstört nicht nur Landschaften, sondern auch Möglichkeiten, anders zu leben, anders zu sein als die anderen. Anders als die, die dazugehören im Unterschied zu allen, die draußen bleiben, die Unbehausten und Wohnungslosen.

Diese Infrastruktur ist unsere Menschenwelt, aber zugleich ist sie ununterscheidbar von der Naturwelt geworden. Die Diskriminierung ist also naturförmig geworden. Vielleicht ist es das, was unsere Empörungsbereitschaft ins Grenzenlose steigert? Ist die Diskriminierungserfahrung also auch eine den endlos fortschreitenden technologischen Innovationen geschuldete Grundbefindlichkeit des heutigen Menschen?

Diskriminierung ist überall, und nirgends ist sie gerechtfertigt. Dennoch arbeiten wir weiterhin fleißig daran, diese Diskriminierungen nicht nur nicht abzuschaffen, sondern auch noch auszubauen. Inzwischen diskriminieren wir sogar Menschen, die noch gar nicht leben, weil wir ihre künftigen Lebensgrundlagen zerstören, um es uns auf verquere Weise ,gut‛ gehen zu lassen. Weil wir, die wir uns selbst überall diskriminiert fühlen, wie die Autofahrer im von Aktivisten der Letzten Generation verursachten Stau, schadlos halten wollen an unserem Anteil von einem Kuchen, von dem nur noch Krümel übrig sind. Ein Kuchen, den wir nicht neu backen können.

Es gibt keine Rangordnung der Diskriminierung. Wir alle sind diskriminiert, weil wir uns diskriminiert fühlen. Ungerecht behandelt. Von unseren Mitmenschen.

Dafür gehen wir auf die Barrikaden. Dafür finden sich die Wissings und Lindners dieser Welt, um ein paar Wählerstimmen zu fischen, mit denen sie es vielleicht noch mal knapp über die fünf Prozent schaffen.

Ich habe gerade wiedermal ein Lied von Rio Reiser gehört. Darin heißt es: „Du sagst, Du willst die Welt nicht ändern!“ ‒ Und Reiser fragt: „Wie schaffst Du das bloß?“ ‒ Und dann singt er den Vers: „Mit jedem Bissen, den Du ißt, ist die Welt eine andre als zuvor!“

Wie das? Wie kann ein Bissen die Welt ändern? ‒ Dieser Vers macht nur dann einen Sinn, wenn man versteht, daß jede und jeder von uns auch ein Teil der Welt ist. So kann ein Bissen, der unsere Lebenskraft erhält und stärkt, auch die Welt erhalten und stärken.

Das funktioniert natürlich nur, wenn jede und jeder einzelne sich ihrer und seiner Verantwortung für diese Welt bewußt ist. Ansonsten stärkt zwar jeder Bissen unsere Lebenskraft, schwächt aber zugleich die Welt.

Montag, 3. April 2023

„Judas“ (2023)

Die beiden Comicautoren Jeff Loveness (Autor) und Jakub Rebelka (Zeichner) haben die Erzählung von Christi Auferstehung vom Dogma befreit und in einen Mythos zurückverwandelt. Und sie haben mit dem Mythos gemacht, was wir mit allen Mythen tun: ihn weitererzählt. Nicht mehr Jesus, sondern Judas spielt die Hauptrolle, als Erlöser Jesu. Wie Loveness und Rebelka erzählen, hat Judas Jesus nicht einfach verraten. Er ist ihm infolge seines Verrats nur um ein weniges vorangegangen, um ihm in der Hölle wiederbegegnen zu können.

Es war ihm von Anbeginn bestimmt gewesen, Jesus zu verraten. Es war ihm von Anbeginn bestimmt gewesen, der einzige zu sein, dem nicht vergeben werden kann. Aber als Jesus ihm in die Hölle folgt, ist er auch der einzige, der ihm dort beisteht. Am Ende hätte es Jesu Himmelfahrt ohne Judas nicht gegeben.

Mir gefällt dieser Gedanke. Mir gefällt, daß beide einander vergeben. Es macht Ostern menschlicher.

Samstag, 1. April 2023

Flix/Kissel: „Münchhausen“ (2016)

Flix alias Felix Görmann und Bernd Kissel haben einen neuen Münchhausen kreiert. Einen Münchhausen, von dem wir die „Wahrheit übers Lügen“ lernen können, wie es im Untertitel heißt. Denn Münchhausen besteht darauf, daß er niemals lügt! Unter keinen Umständen!

Was also habe ich übers Lügen gelernt? Ich befürchte nicht viel, und ich habe den Eindruck, daß das auch gar nicht Flixens Absicht gewesen ist. Alles, was uns Sigmund Freud ‒ denn Freud ist es, der den offensichtlich verwirrten, aus der Zeit gefallenen Baron behandelt ‒ über seinen Patienten zu erzählen weiß, endet im Abgründigen. Nicht einmal der Mord am Bruder und der Familie, für den Münchhausen zum Tode verurteilt worden ist, wird wirklich aufgeklärt, und am Ende liegen sich die beiden Brüder auf der Rückseite des Mondes in den Armen und man fragt sich: Warum?

Freud ist ein Mondmensch, wie mir aufgefallen ist. Es heißt, Mondmenschen steigen vom Mond, wo alles farbig ist, herab, um den Menschen auf der Erde, wo alles schwarz, weiß und grau ist, zu helfen. Nach der Behandlung von Münchhausen stirbt Freud. Er löst sich in Luft auf und verschwindet als Rauch durch den Schornstein.

Der für mich wichtigste Satz des Comics stammt von Freud: „Was andere denken, ist selten die Wahrheit und meistens nur Konsens.“ (Flix/Kissel 2016, S.167)

Da kann man in zwei Richtungen weiterdenken. Einmal könnte man denken: auf der gesellschaftlichen Seite ist alles nur Konsens. Wahrheit suchen wir da vergeblich. Wahrheit ist eine Sache in Bezug auf mich selbst, als Individuum. So muß Münchhausen vielleicht lernen, seine Fixierung auf die Wahrheit zu überwinden und den Gedanken zuzulassen, daß er vielleicht doch ein Mörder sein könnte. Das könnte vielleicht der Sinn seines letzten Satzes auf der letzten Seite des Comics sein: „Ich habs geschafft!“ (Flix/Kissel 2016, S.190) ‒ Vielleicht umarmen sich die beiden Brüder deshalb. Und es ist wieder alles farbig.

Man könnte es auch so sehen, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt. Denn was sollte Wahrheit sein: eine metaphysische Einsicht in das Wesen und Geschick des Menschen? Oder halten wir uns an die sogenannten Fakten, an das, was wir mit unseren eigenen Augen sehen oder was die Wissenschaft herausgefunden hat? Beides bringt uns kein Stück weiter. Was die Fakten betrifft, müssen sie immer interpretiert werden, und schon kommt wieder die subjektive Willkür ins Spiel. Da liegt ein toter Mensch. Das ist ein Faktum. Aber was bedeutet dieses Faktum? Ist er an Herzversagen gestorben? Ist er getötet worden? Wenn man dem Baron glaubt, war ein Hirsch schuld. Solche Fragen lassen sich beliebig weiter entwickeln und beziehen sich doch immer auf ein und dasselbe Faktum.

Gibt es also Wahrheit?

Oder müssen wir nur auf richtige Weise lügen, um der Wahrheit näher zu kommen?