„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 28. Juni 2023

Verkehrsteilnehmer und Verkehrsinteressen

Vor zwei Tagen habe ich mich angesichts der Behauptung des Bundesverkehrsministers (FDP), daß die „Leichtigkeit des Verkehrs“ Verfassungsrang habe und sich vor allem auf die Freiheitsrechte von Autofahrern im Straßenverkehr bezieht, gefragt, ob das nicht eine Verfassungsklage rechtfertigt. Ich möchte auf eine der im erwähnten Blogpost aufgeworfenen Fragen heute noch etwas detaillierter eingehen.

Dabei geht es mir vor allem um den Begriff des Straßenverkehrs, der an keiner Stelle des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) genauer definiert wird. Herr Wissing, der Bundesverkehrsminister, scheint davon auszugehen, daß es beim Straßenverkehr nur um Kraftfahrzeuge aller Art geht, aber Radfahrer und Fußgänger nicht mitgemeint sind. Insofern müßte man also davon ausgehen, daß Radfahrer und Fußgänger keine Verkehrsteilnehmer sind.

Wenn man sich anschaut, was es für Straßen gibt, hat dieser Gedanke etwas für sich. Es gibt auf den verschiedenen Straßen unterschiedlich privilegierte Verkehrsteilnehmer. Auf Autobahnen und Bundesstraßen dürfen nur Kraftfahrzeuge mit einer bestimmten Mindestgeschwindigkeit unterwegs sein, auf Landstraßen dürfen neben Autofahrern auch Radfahrer und Fußgänger unterwegs sein, und auf bestimmten Land- und Forstwirtschaftswegen dürfen außer land- und forstwirtschaftlichen Kraftfahrzeugen keine Autofahrer, aber dafür Radfahrer und Fußgänger unterwegs sein. Letztlich liegt es also in der Kompetenz des Gesetzgebers, welche Straßen er wie privilegiert; auch in geschlossenen Ortschaften.

Im StVG ist aber an den zentralen Stellen immer nur von „öffentlichen“ Straßen bzw. vom „öffentlichen“ Straßenverkehr die Rede. ,Öffentlich‛ bedeutet aber, daß alle Verkehrsteilnehmer Zugang zum Straßenverkehr haben, ohne Einschränkung. Zu klären wäre deshalb, wie der Straßenverkehr in verschiedenen Kontexten funktioniert, ohne dabei seinen Öffentlichkeitscharakter zu verlieren. So ist es z.B. offensichtlich, daß auf den Straßen im offenen Land andere Verkehrsverhältnisse herrschen (Tempo 100 und mehr) als innerhalb von Ortschaften (Tempo 50). Mich interessiert jetzt vor allem der Verkehr in geschlossenen Ortschaften.

In Ortschaften leben für gewöhnlich Menschen. Sie wohnen dort und manche arbeiten auch dort. Sie verbringen dort ihre Freizeit, und sie führen dort ihr Leben. „Öffentliche“ Straßen in einer geschlossenen Ortschaft haben einen anderen Öffentlichkeitscharakter als Straßen im offenen Land. Tempo 50 soll diesen anderen Öffentlichkeitscharakter des innerstädtischen Straßenverkehrs berücksichtigen. Die Frage ist lediglich, ob Tempo 50 reicht.

Viele Kommunen sehen das nicht so. Sie möchten innerorts flächendeckend Tempo 30 einführen. Damit wollen sie einen besseren Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Verkehrsinteressen der Einwohner und dem Durchgangsverkehr schaffen. Dazu gehört auch die Anerkennung der Einwohner als Verkehrsteilnehmer und ineins damit die Anerkennung ihrer Verkehrsinteressen. Nicht hilfreich ist dabei die Ausblendung eines erheblichen Teils der Straßenverkehrs zugunsten des Autoverkehrs.

Herr Wissing hat nun aber die Interessen des Autoverkehrs so radikal aufgewertet, daß es auf eine völlige Nivellierung der Interessen aller anderen Verkehrsteilnehmer hinausläuft. Damit hat er, ohne es zu wissen, die Verfassungswidrigkeit des von ihm zu verantwortenden StVG eingestanden.

Ein StVG, das darauf verzichtet, allererst die verschiedenen Interessen aller Verkehrsteilnehmer mit den verschiedenen Arten des Straßenverkehrs (Autobahnen, Bundesstraßen, Landstraßen, innerörtlicher Verkehr etc.) auf den Begriff zu bringen und entsprechend die mit diesen Interessen verbundenen Rechtsgüter zu berücksichtigen, um dann auf dieser Basis Regeln des Zusammenlebens zu formulieren, kann nach meiner laienhaften Einschätzung eigentlich nur verfassungswidrig sein.

Ein Blick ins Grundgesetz zeigt übrigens, daß es auch dort keine die Gesamtheit von Verkehrsteilnehmern und -interessen umfassende Definition des Straßenverkehrs gibt. Wo vom Straßenverkehr die Rede ist, wird vorausgesetzt, daß alle wissen, worum es dabei geht. Eine entsprechende Rückbindung des Straßenverkehrs auf Freiheitsrechte, wie sie in Artikel 2 (persönliche Entfaltung, körperliche Unversehrtheit) und 11 (Freizügigkeit) ausgeführt werden, bleibt ein Desiderat, das, denke ich, nur durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts behoben werden kann.

Das Bundesverfassungsgericht könnte selbst eine Definition vorschlagen oder die Politik damit beauftragen. Auf der Grundlage einer solchen Definition wäre es nicht mehr möglich, nur noch das Recht des Autobürgers auf freie Fahrt zu behaupten und den innerörtlichen Durchgangsverkehr mit Tempo 50 zur einzig legitimen Verkehrsform zu machen.

Montag, 26. Juni 2023

„Die Leichtigkeit des Verkehrs“

Zum StVG: Es gibt ein neues Straßenverkehrsgesetz (StVG), das den Kommunen mehr Freiheiten bei der Gestaltung des innerörtlichen Verkehrs geben soll. Aber an der zulässigen innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit ändert das StVG nichts. Tatsächlich ist von ihr im StVG auch gar nicht die Rede. Da muß man in der StVO nachschauen. Dazu später mehr.

Der Bundesverkehrsminister (FDP) ist bei der Vorstellung des StVG dadurch aufgefallen, daß er der „Leichtigkeit des Verkehrs“ den Rang eines Verfassungsguts, der „Freiheit“, eingeräumt hat und diese Freiheitsgarantie ausdrücklich nur auf den Autoverkehr, den er mit dem Verkehr schlechthin gleichsetzt, bezieht. Im innerörtlichen Straßenverkehr sollen Autofahrer nicht auf ihre gewohnten 50 km/h verzichten müssen. Auch dazu später mehr, wenn ich auf die Straßenverkehrsordnung (StVO) eingehe.

In der StVG ist nur an vier Stellen von der „Leichtigkeit des Verkehrs“ die Rede. Hauptsächlich geht es dabei um das Aufstellen von Verkehrsschildern und um die „Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen“ (§6, Abs.2 StVG). Bei dem Verfassungsgut, von dem Herr Wissing, besagter Bundesverkehrsminister, spricht, wird es wohl kaum um Verkehrsschilder gehen. Was aber hat es mit der Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auf sich? Geht es dabei vielleicht um Gefahren, die der angeblich grundgesetzlichen Freiheitsgarantie, die Herr Wissing mit dem Recht, 50 km/h fahren zu dürfen, identifiziert, von den anderen Verkehrsteilnehmern drohen?

Dann müßte an erster Stelle einmal geklärt werden, wie der Straßenverkehr vom sonstigen Leben von Bewohnern einer Ortschaft und von Anwohnern einer Straße ‒ und niemand ist kein Anwohner einer Straße ‒ unterschieden werden kann. Inwiefern ist also der Straßenverkehr eine innerörtliche Verkehrspraxis sui generis, die sich von allen anderen Verkehrsformen von Bewohnerinnen und Bewohnern einer Ortschaft unterscheidet?

Dann müßte die Frage beantwortet werden, wie die verschiedenen grundgesetzlich garantierten Rechtsgüter von Anwohnern und Autoverkehr zu einem Ausgleich gebracht werden können, um dann zum Schluß zu klären, was das für die innerörtliche Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h bedeutet. Ich nehme nicht an, daß Herr Wissing in dieser Hinsicht irgendeine Rechtsgüterabwägung getroffen hat. In der StVG gibt es jedenfalls keine einzige Stelle zu dieser Frage.

Zur StVO: Ich bin kein Autofahrer. Ich bin Fußgänger und Radfahrer. Wenn also die zulässigen 50km/h laut Aussage von Herrn Wissung ein Verfassungsgut darstellen, das, wie ich implizit daraus schließen muß, nicht mit meinen ebenfalls grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern abgewogen wurde, muß ich davon ausgehen, daß sich die StVO gegen mich wendet. Mich meint sie nicht. Meine Freiheit ist irrelevant. Schauen wir uns die StVO noch mal genauer an.

In der StVO ist auch von der „Leichtigkeit des Verkehrs“ die Rede. Aber da wird nicht weiter zwischen der Leichtigkeit (Freiheit) der Autofahrer und der Leichtigkeit der Radfahrer und Fußgänger differenziert. Vom Grundgesetz steht da auch kein Wort. Stattdessen geht es um den Abstand zwischen Verkehrszeichen und dem Beginn ihrer Geltung, im Interesse der „Leichtigkeit oder der Sicherheit des Verkehrs“. (Vgl. StVO §§ 41 und 42)

Allerdings ist in §2, Absatz 2, davon die Rede, daß „(o)hne triftigen Grund Kraftfahrzeuge nicht so langsam fahren (dürfen), dass sie den Verkehrsfluss behindern“. Und in Absatz 3 heißt es, daß „die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch unter günstigsten Umständen () innerhalb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 km/h (beträgt)“.

Was ist damit gemeint, daß „(o)hne triftigen Grund Kraftfahrzeuge nicht so langsam fahren (dürfen), dass sie den Verkehrsfluss behindern“? Welcher Verkehrsfluß ist damit gemeint: der der Kraftfahrzeuge oder der der Fußgänger oder der der Radfahrer? Da die StVO anscheinend was gegen Langsamfahren hat, ist damit wohl nicht die Geschwindigkeit von Radfahrern und schon gar nicht von Fußgängern gemeint. Letztere kommen eher als Behinderung des Verkehrsflusses in Betracht. Tatsächlich muß die betreffende Stelle sogar so verstanden werden, daß jeder Autofahrer, der langsamer als 50 km/h fährt, gegen die StVO verstößt.

Was die Höchstgeschwindigkeit der Autofahrer betrifft, wird ihr aber nirgendwo in der StVO der Rang eines Verfassungsguts zuerkannt; sie ist lediglich ‒ und zwar nur unter günstigsten Umständen ‒ „zulässig“.

So weit also die StVO. Wie ist es aber nun mit dem Standpunkt des Bundesverkehrsministers? Tatsächlich fehlt in seinem Straßenverkehrsgesetz der kommunale Freiraum, innerorts flächendeckend Tempo 30 einzuführen. Und die StVO legt noch einmal extra fest, daß 50 km/h gesetzlich „zulässig“ sind. Alles andere, also das situationsangemessene Fahren ohne dabei die körperliche Unversehrtheit von nicht motorisierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu bedrohen ist ganz der Kompetenz von Autofahrerinnen und Autofahrern überlassen. Die verhalten sich dabei allerdings tatsächlich gerne so, als ginge es vor allem um die Durchsetzung der ihnen zustehenden 50 km/h im Sinne eines Rechts auf Freiheit.

Ich bin Radfahrer. Meine Freiheit, unversehrt und unbedroht durch Autofahrer durch eine Ortschaft zu radeln, ist nach Ansicht des Herrn Wissing in der eigentlich nur den Abstand von Verkehrszeichen regulierenden „Leichtigkeit des Verkehrs“ nicht inbegriffen. Geschweige denn die Freiheit aller anderen Nicht-Autofahrer, unversehrt und unbedroht zu wohnen, einzukaufen, zu spielen, spazierenzugehen etc.

Wenn das die Quintessenz der StVO ist, sind sie und die StVG offensichtlich grundgesetzwidrig. Oder aber die Auslegung der StVO durch den Bundesverkehrsminister ist grundgesetzwidrig.

Frage: bin ich als potenziell Geschädigter einer fehlenden Rechtsgüterabwägung im StVG und der damit verbundenen Auslegungspraxis der StVO berechtigt, beim Verfassungsgericht dagegen zu klagen? Wenn schon nicht gegen die StVO, so doch vielleicht gegen Herrn Wissing?

Mittwoch, 21. Juni 2023

Platons Phaidon: „zu sterben und tot zu sein“

Joseph Jacotot (1770-1840): „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ (In: „Der unwissende Lehrmeister“ (Jacques Ranciére 2007), S.66) ‒ Sokrates: „Wenn Seele und Leib beisammen sind, weist die Natur dem letzteren das Dienen und Gehorchen, der ersteren das Befehlen und Herrschen zu.“ (79/80 St. / 28. Kap.)

Zu Jacotot habe ich einen Blogpost verfaßt. Das Zitat von Sokrates stammt aus dem Dialog „Phaidon“ (nach der von Otto Apelt übersetzten und kommentierten, im Felix Meiner Verlag erschienenen Ausgabe (1993)). Gegensätzlicher können zwei philosophische Axiome kaum sein, denn wenn Platons Sokrates (wie ich ihn jetzt immer nennen will), von ,Seele‛ spricht, ist in begrifflich unscharfer Diktion mal von Bewußtsein, von Geist oder von Intelligenz die Rede. Wenn ich die beiden Zitate so gegeneinander stelle, steht Jacotots Axiom für eine demokratische Gesellschaftsform, und das Axiom von Platons Sokrates steht für eine Sklavenhaltergesellschaft. Denn der ,Leib‛ umfaßt die Gesamtheit unserer Begierden, Gefühle und Leidenschaften, und diese werden in diesem Dialog vor allem Kindern, Tieren und Sklaven zugeordnet.

Vom eigentlichen Ziel der Philosophie: Die zentrale These des Dialogs, in dem der zum Tode verurteilte Sokrates Auskunft über die Unsterblichkeit der Seele gibt, besteht darin, daß der Tod das eigentliche Ziel jeder recht verstandenen Philosophie sei: „Alle, die sich in rechter Weise mit der Philosophie befassen, haben es im Grunde auf nichts anderes abgesehen als darauf, zu sterben und tot zu sein ...“ (64 St. / 9. Kap.)

Denn, argumentiert Sokrates, also Platon, es komme ja nur auf die Seele an, und nicht auf die „Pflege des Leibes“. (Vgl. ebenda) Der „Philosoph“, so Platons Sokrates, sei „bemüht (), seine Seele so viel wie möglich von der Gemeinschaft mit dem Körper zu lösen“. (Vgl. 65 St. / 9. Kap.) Der Körper sei nur ein Hindernis für die „Vernunfterkenntnis“ bzw. für das „reine Denken“: „Sie (die Seele ‒ DZ) denkt aber dann am besten, wenn nichts Körperliches sie stört. Weder Gehör noch Gesicht noch ein Schmerzgefühl noch ein Lustgefühl, sondern wenn sie sich so viel wie möglich auf sich selbst beschränkt ohne Rücksicht auf den Körper und möglichst ohne Gemeinschaft und Berührung mit ihm dem wirklich Seienden zustrebt.“ (65 St. / 10. Kap.)

Die „wahre Erkenntnis“ kommt dem „Ding“ an sich bzw. der Wahrheit immer dann am nächsten, wenn sie auf jede Begleitung durch unsere „Sinneswahrnehmung“ verzichtet. (Vgl. 65/66 St. / 10. Kap.) ‒ Wir haben es also in der Philosophie ausschließlich mit Begriffen zu tun, denen jede (sinnliche) Anschauung fehlt. Kant bezeichnet solche Begriffe als blind. Von ,Erkenntnis‛ im ursprünglichen Sinne, nämlich von einer auf den Menschen und seine Welt gerichteten Erkenntnis, kann hier nicht mehr die Rede sein. ,Reine‛ bzw. leere Erkenntnis kann zwar logisch, aber dennoch weder wahr noch falsch sein.

Mehr wäre dazu nicht zu sagen. Auch nicht zu Platons Ansinnen, er habe mit seiner Abwertung jeder sinnlichen Anschauung eine zwingende Begründung für seine These geliefert, daß der Philosoph tot zu sein wünsche. Angesichts seiner Argumentation hat er natürlich recht. Aber wen interessiert’s?

Entgegengesetztes entsteht aus Entgegengesetztem: Die Argumentationsweise von Platons Sokrates hat erstaunlich wenig Niveau. Sie besteht aus einer reduktionistischen Logik, suggestiven Unterstellungen und vagen, unpräzisen Begriffen. Zum Beispiel setzt er die These in den Raum, daß alles Werden, alle Entwicklung darin besteht, daß Entgegengesetztes aus Entgegengesetztem hervorgeht. So folge der Tag auf die Nacht und dann die Nacht wieder auf den Tag, und der Schlaf folge der Wachheit und die Wachheit dem Schlaf. (Vgl. 16. und 17. Kapitel)

Daraus, daß alles Entgegengesetzte auseinander entsteht, folgert Platons Sokrates logisch völlig korrekt, daß auch Leben und Tod auseinander entstehen. (Vgl. 71 St. / 16. Kap.) Der Tod sei nur ein Übergang zu neuem Leben.

Die Argumentation mit Gegensatzpaaren erinnert an „Das wilde Denken“ (1962/1973) von Claude Levi-Strauss, der die Sprache und mit ihr das Denken auf bedeutungsstiftende Gegensatzpaare zurückführt. Letztlich beruht jeder Strukturalismus auf Denken in Gegensätzen; also auf binärem Denken. Auch Aristoteles definiert in der „Nikomachischen Ethik“ Tugend als die Mitte zwischen zwei Extremen. Dieses Denken hat etwas Manichäisches (gut/böse) und ist ein Grundprinzip des Platonischen Idealismus (wahre Ideen / falsche Sinneswahrnehmungen). Wieder einmal erkenne ich hier, in Platons Sokrates wie zuvor schon in der „Nikomachischen Ethik“, die Wurzeln der christlichen Weltanschauung.

Wenn Levi-Strauss von ,wildem Denken‛ spricht, dann läuft das auf eine Art Zwangsneurose hinaus. Ich möchte den logischen Reduktionismus, mit dem Platons Sokrates seine Zuhörer manipuliert, in diesem Sinne als magische Logik bezeichnen. Der Übersetzer und Kommentator Otto Apelt spricht ganz ähnlich von einem „logischen Mystizismus“ und meint damit Platons Verwechslung des Begriffs mit dem „Ding selbst“. (Vgl. „Platon sämtliche Dialoge“ (1993), Anmerkung 103) Ich halte aber die Assoziation von ,Magie‛ und ,Denkzwang‛ für naheliegender.

Unpräzise Begriffe, suggestive Unterstellungen:
Dabei arbeitet Platons Sokrates auch noch mit äußerst unpräzisen Begriffen: wenn man ihm vielleicht noch darin zustimmen könnte, daß aus „dem Toten“ „das Leben und die Lebenden“ entstehen (vgl. 71 St. / 16. Kap.), bedeutet das noch lange nicht, daß aus demselben Toten auch dasselbe Lebende wiederersteht. Genau das schlußfolgert Platons Sokrates aber, wenn er „unseren Seelen“ ein „Sein“ zuspricht. (Vgl. ebenda)

Platons Sokrates greift im Dialog Phaidon zu allen rhetorischen Mitteln. Nicht nur Logik, auch Suggestion muß die fehlende Anschauung ersetzen. Die Suggestion geht von der Anschauung des Sterbens aus ‒ Platons Sokrates fragt, ob nicht „das Sterben ein ganz deutlicher Vorgang sei“ (vgl. 71 St. / 16. Kap.) ‒ und veranlaßt so Kebes, einen seiner Gesprächspartner, nach seiner Zustimmung auch das „Wiederlebendigwerden“, zu dem jede Anschauung fehlt, als durch Anschauung belegt zu akzeptieren, obwohl es nur unter der Voraussetzung gilt, daß es zu allem ein Entgegengesetztes geben muß, also auch zum Sterben. Dem Gesprächspartner wird eine Anschauung untergeschoben, die nur für den Sterbeprozeß gilt, nicht aber für das Wiederlebendigwerden. Kurz: die Suggestion besteht darin, daß das Wiederlebendigwerden, das bisher nur ein logischer, aus der Entgegensetzung erschlossener Begriff gewesen ist, nun auch den Status einer Anschauung erhält.

Seele als ,Seele‛ und als ,Geist‛: Platons Sokrates unterscheidet zwischen „zwei Arten von Dingen“, den sichtbaren und den unsichtbaren Dingen, womit er zwischen Gegenständen unterscheidet, die wir nur denken können, und Gegenständen, die wir nur (sinnlich) wahrnehmen können. (Vgl. 79 St. / 25. Kap.) Von den unsichtbaren Dingen heißt es, rhetorisch gefragt, also nur zustimmend beantwortbar: „Kann man diese Dinge nicht befühlen oder mit den Augen oder mit sonst einem Sinne wahrnehmen, während man jene sich immer gleichen Dinge nicht anders als mit dem überlegenden Verstand fassen kann, da sie unsinnlich und nicht sichtbar sind?“ (79 St. / 26. Kap.)

Entsprechend diesen zwei Arten von Dingen, Gedankendinge und Wahrnehmungsdinge, ordnet Platons Sokrates der Seele zwei verschiedene Modi zu; Seele als (animalische) ,Seele‛ und Seele als (reiner) ,Geist‛. Als Seele ist sie Teil des Körperleibs, also etwas Animalisches, das sich, so Platons Sokrates, immer im Zustand des Schwankens, der Verwirrung, des trunkenen Taumelns befindet. Sie wechselt, da sie sich nur mit den Körperdingen befaßt, ständig ihre Zustände. Sie ist also gewissermaßen ,trunken‛. Als Geist aber ist sie vom Körper getrennt und beschäftigt sich nur mit sich selbst. Sie ist ,rein‛, ,ewig‛, ,unsterblich‛ und, nur mit sich selbst befaßt, immer die gleiche. (Vgl. 79 St. / 27. Kap.)

Als Geist ist die Seele also nur ein leerer, sich selbst spiegelnder Spiegel: woraus sich logisch gesehen ein infiniter Regreß ergibt. Wohin sie auch blickt, sieht sie immer nur sich selbst. Zu dieser letzten logischen Konsequenz dringt Platons Sokrates allerdings nicht vor.

Fazit: Ich bin von diesem Sokrates, Platons Sokrates, enttäuscht. Ich hatte mir den Phaidon vorgenommen, weil eine Bemerkung von Olof Gigon in seiner Einleitung zur „Nikomachischen Ethik“ mich neugierig gemacht hatte. Aber dieser Sokrates, der ja nur eine von Platon geschaffene Version des historischen Sokrates bildet, von dem es keine schriftlichen Zeugnisse gibt, hat mich enttäuscht. Seine ganze Argumentation beruht auf der suggestiven Manipulation seiner Zuhörer. Der gesellschaftliche Hintergrund dieser Philosophie ist überdeutlich. Da denkt jemand nicht mehr um seiner selbst willen, sondern um einer Gesellschaft willen, die ihm zwar den Schierlingsbecher zu trinken gibt, aber mit der er in jeder Hinsicht nur allzu einverstanden ist.

Samstag, 10. Juni 2023

Die Welt ist ein globales gallisches Dorf

Zur Zeit findet ein evangelischer Kirchentag in Nürnberg statt. Aktueller Präsident ist Thomas de Maizière. Mir ist er mit seinen abschätzigen Bemerkungen zur Letzten Generation aufgefallen. Andere schließen sich ihm darin an. Sogar Robert Habeck meint sich dem Vorwurf anschließen zu müssen, die Aktivisten würden die Bürgerinnen und Bürger vom Klimaschutz abschrecken. Damit sind wohl die Bürgerinnen und Bürger gemeint, die sich in den einen Umfragen mehrheitlich für strengere Maßnahmen gegen den Klimawandel aussprechen und sich gleichzeitig in anderen Umfragen mehrheitlich gegen jede politische Maßnahme wenden, die ihre bisherige Lebensführung beeinträchtigen könnte.

Ich war 1980 auf einem Katholikentag in Berlin dabei gewesen. Wir waren damals voller Eifer und Glauben an eine Veränderung der Gesellschaft, an die Möglichkeit von Reformen gewesen. Damals begann mir das Ausmaß der globalen Umweltverschmutzung bewußt zu werden. Es war damals überall vom Waldsterben die Rede. Ich weiß nicht mehr, ob das Waldsterben schon ein Thema des Katholikentages gewesen ist. Aber es war doch das Jahr, wo überall davon geredet wurde. Jedenfalls verließ ich damals den Katholikentag mit der Gewißheit, daß ich Teil von vielen, vielen anderen Menschen war, die jetzt nach ihrer Rückkehr nach Hause, in ihren Wohnvierteln und Familien, daran arbeiten würden, daß die Welt eine bessere würde.

Noch weiter zurück: Ich war zwölf Jahre alt, als ich 1971 im letzten Panel von „Asterix bei den Schweizern“ las: „... ja, zum allerersten Mal nimmt ein Römer an dem traditionellen Festmahl teil, das zur Feier der Rückkehr unserer Freunde veranstaltet wird. Asterix und Obelix sind glücklich und stolz, weil sie feststellen, dass jede ihrer Reisen sie an Wissen und Erfahrung ein Stück weiterbringt ...“

Alle Bewohner des liebenswerten gallischen Dorfes feiern dieses historische Ereignis mit, und sogar der wie üblich an einen Baum gefesselte Barde schmunzelt stolz in sich hinein. Ich weiß noch, wie dem Zwölfjährigen beim Lesen dieser Zeilen das Herz aufging. Das klang so unendlich verheißungsvoll, und ich freute mich schon auf die kommenden Folgen, in denen sich das gallische Dorf und die römische Welt weiterentwickeln würden. Ich fühlte den Wunsch und die Bereitschaft in mir, mich selbst auch bei der Lektüre dieser künftigen Comicalben weiterzuentwickeln.

Diese Alben erschienen mit der untrüglichen Sicherheit von Jahreszeiten: jedes Jahr ein neues Album. Aber die Bewohner des gallischen Dorfes blieben unverändert dieselben. Weiterhin bestand ihre Lieblingsbeschäftigung im Verprügeln von römischen Legionären, und ihre Denk- und Lebensweise hielt zäh an allen liebenswerten Vorurteilen und Eigentümlichkeiten fest, die sich immer und immer wieder als falsch erwiesen, ohne daß irgendjemand auch nur das geringste daraus lernte.

Gewiß paßten sie sich modischen Gewohnheiten an, zum Beispiel was den sich erhöhenden Anteil der Frauen am dörflichen Geschehen betraf. Aber auch die Frauen standen letztlich ihren Männern, was Beschränktheit, Engstirnigkeit und Liebenswürdigkeit betrifft, in nichts nach.

Als Leser bin ich dem Goscinny-Uderzo-Universum treu geblieben. Was die neueren Alben ihrer Nachfolger betrifft: warten wirs ab! ‒ Sie sind jedenfalls vielversprechend. Vor allem, was den Humor betrifft. Aber sicher nicht, was den Charakter unserer gallischen Helden betrifft. Der wird sich wohl auch beim neuen Autorengespann nicht mehr ändern.

Ich befürchte, diese Comics sind nur allzu realitätsnah. Die Menschen ändern sich nicht freiwillig. Vor allem nicht, wenn es ihnen gut geht. Schon gar nicht von heute auf morgen. Außerdem steht ihnen ja ein Zaubertrank zur Verfügung: die allseits gepriesene Technologie und die Digitalisierung. Letztlich fürchten sie sowieso nur eines: daß ihnen der Himmel auf den Kopf fallen könnte.

Das wird wohl auch passieren. Aber es hat ja noch Zeit.

Freitag, 2. Juni 2023

Aristoteles: der Zirkel des Scheins

Ich habe mir diesmal ein Buch aus meinem Regal gegriffen, daß schon seit den 1990er Jahren ungelesen darin vor sich hin alterte: „Die Nikomachische Ethik“ (1967/91) von Aristoteles. Ich habe aus Respekt vor dem bei den Scholastikern einfach als ,der Philosoph‛ bezeichneten Autor immer einen großen Bogen um ihn gemacht und mich einfach nicht an ihn rangetraut. Ähnlich war es mir mit Platon ergangen. Aber aufgrund der Nähe einiger seiner Texte zu meiner Fachrichtung, der Erziehungswissenschaft, hatte ich mich dann doch genötigt gesehen, mich doch mit wenigsten zwei Dialogen gründlicher zu befassen: mit dem „Protagoras“ und dem „Menon“. Zur Sklavenszene im Menon habe ich in diesem Blog auch einen Post geschrieben.

Nach der Lektüre des für mich überraschend lesbaren Textes habe ich dann noch die Einleitung des Übersetzers Olof Gigon gelesen, die mir meine Leseeindrücke weitgehend bestätigte, so z.B. die sich über mehr als hundert Seiten erstreckende Liste von Tugenden, die ich ziemlich übertrieben fand. Gigon spricht von der „ganze(n) große(n) Masse von Tugenden“ (vgl. Gigon 1991, S.5-102: 93), die nach einem immer gleichen Schema abgehandelt werden: es gibt immer die Extreme schlechten Verhaltens links und rechts von einer Mitte, die die Tugend ist. Bei der Tapferkeit sind diese Extreme Feigheit und Tollkühnheit. Ich habe die vielen verschiedenen Tugenden, die Aristoteles aufzählt, nicht gezählt. Gefühlt sind es ein halbes Hundert.

Gigon bestätigt auch meinen Eindruck, daß Aristoteles alle Tugenden auf Gewohnheiten und Traditionen zurückführt, was einen Zirkel des Scheins ergibt. Hierzu Aristoteles selbst: „Gelten dürfte in allen diesen Fällen, das, was dem Tugendhaften so erscheint. Wenn dies richtig ist, wie es scheint, und in jedem Falle die Tugend und der Tugendhafte das Maß sind, sofern er tugendhaft ist, so wird auch Lust sein, was ihm scheint, und angenehm das, woran dieser sich freut.“ (Nikomachische Ethik (1991), S.342)

Mit anderen Worten: Tugend ist das, was der Tugendhafte tut, so wie auch umgekehrt das Laster daran erkennbar ist, daß es der Lasterhafte tut. Die Gewöhnung an das, was gemäß dieser Tautologie Tugend sein soll, letztlich die jeweils gerade geltende Sitte, ist deshalb der erste Schritt einer Erziehung zur Tugend. Wenn man dabei berücksichtigt, daß die vorherrschende Sitte der Zeit, in der Aristoteles gelebt hat, die griechische Antike, trotz demokratischer Strukturen eine Sklavenhaltergesellschaft gewesen ist und auch die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern patriarchal organisiert gewesen ist, wundert man sich nicht mehr über manche Tugenden, die Aristoteles aufzählt: „Freigebigkeit“ (Nikomachische Ethik (1991), S.177f.), „Großartigkeit“ (Nikomachische Ethik (1991), S.183ff.), „Großgesinntheit“ (Nikomachische Ethik (1991), S.193ff.) und andere mehr.

Diese Tugenden richten sich vor allem an jene, die über die finanziellen und gesellschaftlichen Mittel verfügen, alle diese Tugenden leben zu können; und das sind gewiß nicht Sklaven und nur zu einem geringen Teil Frauen, die im Rahmen der patriarchalen Arbeitsteilung auf das Haus beschränkt sind, das aber wiederum in letzter Instanz vom Mann ,regiert‛ wird. Denn das Haus ist letztlich auch nur eine kleiner Staat.

Mit dem Begriff der Gewöhnung stellt sich Aristoteles in die Nähe der „Meinung“, wie sie Platon im „Menon“ der Tugend zuordnet. Allerdings ist bei Platon die Meinung im Ideenkosmos begründet, von dem wir nur noch vage Vorstellungen, aber keine genauen Kenntnisse haben, so daß uns die Erfahrung zuhilfe kommen muß. Deshalb eben nur Meinung. Gleichzeitig hält Aristoteles Distanz zu Platons Ideenkosmos, indem er die Gewöhnung auf die Sitte, nicht auf den Kosmos zurückführt.

Daß Aristoteles zufolge der Tugendhafte Freude an der Tugend hat, führt, so wiederum Gigon, zu einer Antinomie in der Ethik: „Jede Ethik, die ihres Namens wert ist, erhält ihr imperativisches Gewicht vorzugsweise dadurch, daß ihre Sätze dem zuwiderlaufen, was der Mensch seiner Neigung nach tun möchte. Ethik ist in ihrem Wesen nicht Bestätigung dessen, was der Mensch ohnehin tut, sondern gerade der pathetische Widerspruch dazu.“ (Gigon 1991, S.65)

Antinomisch ist demnach die durch Gewöhnung geprägte Neigung, also eine zweite, erworbene Natur, zu einer Ethik, in der es darum geht, alle unsere Neigungen, also die natürlichen wie die erworbenen, zu kontrollieren. In Gigons Stellungnahme erkenne ich Kant wieder, der die Neigung, dem Freund zu helfen, nicht als Tugend anerkennen will, während Aristoteles darin eine unserer wertvollsten Tugenden sieht.

Obwohl also Aristoteles nicht dazu tendiert, den Tugendbegriff zu radikalisieren, trennt er doch den vernunftbegabten Teil des Menschen vom unvernünftigen, den Leidenschaften verfallenen Teil, den er, gemäß der Sitte seiner Zeit, den Kindern und Tieren zuordnet. Den vernunftbegabten Teil setzt er mit dem „Geist“ gleich, dessen „vollkommenste Tätigkeit“ sich als „Reflexion ... auf sich selbst“ vollzieht. (Vgl. Gigon 1991, S.93)

Wenn Gigon von Reflexion auf sich selbst spricht, frage ich mich, was mit dem ,auf sich selbst‛ eigentlich gemeint ist. Ist dieses ,sich selbst‛ noch mal wieder der Geist selbst oder handelt es sich dabei um das organische Ganze als Körperleib?

Im ersten Fall, das ist der Fall, den Aristoteles tatsächlich meint, haben wir es nur mit einer leeren Spiegelung zu tun, aus der sich alle Probleme eines regressus ad infinitum ergeben. Interessanterweise bringt Gigon hier das Beispiel vom „Spiegel des ihm gleichartigen Freundes“, in dem sich der ,Geist‛ wiedererkennan kann. (Vgl. Gigon 1991, S.93) Das klingt nach dem Ich = Du, also nach der Zweitpersonalität, von der in meinem Blog immer die Rede ist. Ich meine damit aber keine leere Spiegelung, sondern die Fülle der Verschiedenheit, in der wir Menschen uns aneinander wiedererkennen. Ich spreche eben nicht von Verwechselbarkeit. Dem für sich allein bloß leeren Geist wächst seine Fülle beim Körperleib aus dem Ganzen seiner Teile zu, und beim Ich = Du wächst ihm diese Fülle aus der Verschiedenheit des anderen Menschen zu. Nur aufgrund dieser Fülle verlieren wir uns nicht im regressus ad infinitum. Das Ich = Du ist meine Formel für Diversität.

Gigon spricht das Problem an, wenn er auf Platons Behauptung verweist, „daß das Gute, Gerechte usw. ewig mit sich selbst identische Wesenheiten seien und mathematisch erfaßbar sein müßten“. (Vgl. Gigon 1991, S.95) ‒ Eine solche Tugend, so Gigon, könne nur eine „reine“, also leere Form sein: „Es wird ihm (Platon) gerade darum nie gelingen, zu erklären, worin denn materiell dieses Gute und Gerechte eigentlich bestünden.“ (Gigon 1991, S.95)

Das Hauptproblem bei der Nikomachischen Ethik ist aber die Fixierung auf das Gute, das Aristoteles auf die verschiedenen Güter (Tugenden) verteilt. Damit fixiert er die Ethik auf ein Telos, auf ein Ziel oder auf einen Zweck, in dem sich alles menschliche Handeln erfüllt. Genau darin erkenne ich zweitausend Jahre Mißbrauch wieder: durch ein Christentum, das die Nikomachische Ethik nur allzu nützlich fand, um mit ihrer Hilfe den Begriff der Sünde zu begründen. Denn wer sich dem höchsten Gut, das Aristoteles übrigens mit der „Glückseligkeit“ gleichsetzte, verweigerte ‒ wer sich also letztlich der christlichen Auslegung dieser Glückseligkeit verweigerte, war verdammt; mit allen Konsequenzen, die der Kirche für solche Abtrünnigen zur Verfügung standen.

Letztlich liegt das Problem des Guten darin, daß es den philosophischen Blick immer auf das Ende richtet; auf die Erfüllung. Es ist das, was wir anstreben, also noch nicht haben. Und wenn wir es haben, ist unser Handeln zu einem gewissen Ende gekommen. Aristoteles löste dieses Problem, indem er das Gute nicht als einen Besitz, sondern selbst wiederum als ein Handeln verstand. Aber das halte ich für eine Scheinlösung; für Wortklauberei.

Meiner Ansicht nach kommt es nicht auf das Ende, sondern auf den Anfang an: auf das Wollen. Oder auch einfacher gesprochen: auf das Begehren und auf die Bedürfnisse. Mir sind diese beiden Begriffe lieber, weil sie weniger voraussetzungsreich sind als der Willensbegriff. Der letzte Zweck unseres Begehrens ist die Befriedigung und im weiteren Sinne der Frieden mit sich selbst und mit unseren Mitmenschen und ‒ heutzutage mehr denn je ‒ der Frieden mit der Natur. Anfang und Ende liegen also im Individuum und nicht in der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft hat ihre Legitimität überhaupt nur in der individuellen Erfüllung. Alles andere ist Mißbrauch der Gemeinschaft am Individuum.

Es klingt wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Was ist zuerst: der Wille oder der Zweck bzw. das Gut? Wollen wir, weil es ein Gut gibt, auf das sich unser Wille richten kann, oder gibt es das Gut, weil wir wollen?

Tatsächlich scheint es mir aber klar zu sein, was zuerst da sein muß. Wenn wir das menschliche Bewußtsein als Intentionalität fassen, dann ist das Begehren fundamental. Es gibt das Gut nur, weil wir wollen. Außerdem müßten wir uns eine Welt voller Güter, voller vorgegebener Zwecke denken, wenn das Gut zuerst da sein muß, damit wir wollen können. Es ist aber meiner Ansicht nach absurd, sich die Welt als ein solches riesenhaftes Magazin vorzustellen, in dem sich die Zwecke stapeln, als hätte alles nur auf uns Menschen gewartet, damit wir uns ihrer bedienen.

Allenfalls könnte man behaupten, daß die Güter schon in unserem Körper und seinen Organen eingefleischt sind. Sie sind es, unsere Organe, die ihre spezifischen Zwecke verfolgen. Wir haben es also mit dem Körperleib zu tun. Der Körperleib ist unser Begehren. Er ist das Ganze unserer Bedürfnisse. Unsere Tugend besteht darin, diese Bedürfnisse auf eine Weise zu organisieren, daß ihre Befriedigung weder uns noch unseren Mitmenschen schadet.