„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 2. Juni 2023

Aristoteles: der Zirkel des Scheins

Ich habe mir diesmal ein Buch aus meinem Regal gegriffen, daß schon seit den 1990er Jahren ungelesen darin vor sich hin alterte: „Die Nikomachische Ethik“ (1967/91) von Aristoteles. Ich habe aus Respekt vor dem bei den Scholastikern einfach als ,der Philosoph‛ bezeichneten Autor immer einen großen Bogen um ihn gemacht und mich einfach nicht an ihn rangetraut. Ähnlich war es mir mit Platon ergangen. Aber aufgrund der Nähe einiger seiner Texte zu meiner Fachrichtung, der Erziehungswissenschaft, hatte ich mich dann doch genötigt gesehen, mich doch mit wenigsten zwei Dialogen gründlicher zu befassen: mit dem „Protagoras“ und dem „Menon“. Zur Sklavenszene im Menon habe ich in diesem Blog auch einen Post geschrieben.

Nach der Lektüre des für mich überraschend lesbaren Textes habe ich dann noch die Einleitung des Übersetzers Olof Gigon gelesen, die mir meine Leseeindrücke weitgehend bestätigte, so z.B. die sich über mehr als hundert Seiten erstreckende Liste von Tugenden, die ich ziemlich übertrieben fand. Gigon spricht von der „ganze(n) große(n) Masse von Tugenden“ (vgl. Gigon 1991, S.5-102: 93), die nach einem immer gleichen Schema abgehandelt werden: es gibt immer die Extreme schlechten Verhaltens links und rechts von einer Mitte, die die Tugend ist. Bei der Tapferkeit sind diese Extreme Feigheit und Tollkühnheit. Ich habe die vielen verschiedenen Tugenden, die Aristoteles aufzählt, nicht gezählt. Gefühlt sind es ein halbes Hundert.

Gigon bestätigt auch meinen Eindruck, daß Aristoteles alle Tugenden auf Gewohnheiten und Traditionen zurückführt, was einen Zirkel des Scheins ergibt. Hierzu Aristoteles selbst: „Gelten dürfte in allen diesen Fällen, das, was dem Tugendhaften so erscheint. Wenn dies richtig ist, wie es scheint, und in jedem Falle die Tugend und der Tugendhafte das Maß sind, sofern er tugendhaft ist, so wird auch Lust sein, was ihm scheint, und angenehm das, woran dieser sich freut.“ (Nikomachische Ethik (1991), S.342)

Mit anderen Worten: Tugend ist das, was der Tugendhafte tut, so wie auch umgekehrt das Laster daran erkennbar ist, daß es der Lasterhafte tut. Die Gewöhnung an das, was gemäß dieser Tautologie Tugend sein soll, letztlich die jeweils gerade geltende Sitte, ist deshalb der erste Schritt einer Erziehung zur Tugend. Wenn man dabei berücksichtigt, daß die vorherrschende Sitte der Zeit, in der Aristoteles gelebt hat, die griechische Antike, trotz demokratischer Strukturen eine Sklavenhaltergesellschaft gewesen ist und auch die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern patriarchal organisiert gewesen ist, wundert man sich nicht mehr über manche Tugenden, die Aristoteles aufzählt: „Freigebigkeit“ (Nikomachische Ethik (1991), S.177f.), „Großartigkeit“ (Nikomachische Ethik (1991), S.183ff.), „Großgesinntheit“ (Nikomachische Ethik (1991), S.193ff.) und andere mehr.

Diese Tugenden richten sich vor allem an jene, die über die finanziellen und gesellschaftlichen Mittel verfügen, alle diese Tugenden leben zu können; und das sind gewiß nicht Sklaven und nur zu einem geringen Teil Frauen, die im Rahmen der patriarchalen Arbeitsteilung auf das Haus beschränkt sind, das aber wiederum in letzter Instanz vom Mann ,regiert‛ wird. Denn das Haus ist letztlich auch nur eine kleiner Staat.

Mit dem Begriff der Gewöhnung stellt sich Aristoteles in die Nähe der „Meinung“, wie sie Platon im „Menon“ der Tugend zuordnet. Allerdings ist bei Platon die Meinung im Ideenkosmos begründet, von dem wir nur noch vage Vorstellungen, aber keine genauen Kenntnisse haben, so daß uns die Erfahrung zuhilfe kommen muß. Deshalb eben nur Meinung. Gleichzeitig hält Aristoteles Distanz zu Platons Ideenkosmos, indem er die Gewöhnung auf die Sitte, nicht auf den Kosmos zurückführt.

Daß Aristoteles zufolge der Tugendhafte Freude an der Tugend hat, führt, so wiederum Gigon, zu einer Antinomie in der Ethik: „Jede Ethik, die ihres Namens wert ist, erhält ihr imperativisches Gewicht vorzugsweise dadurch, daß ihre Sätze dem zuwiderlaufen, was der Mensch seiner Neigung nach tun möchte. Ethik ist in ihrem Wesen nicht Bestätigung dessen, was der Mensch ohnehin tut, sondern gerade der pathetische Widerspruch dazu.“ (Gigon 1991, S.65)

Antinomisch ist demnach die durch Gewöhnung geprägte Neigung, also eine zweite, erworbene Natur, zu einer Ethik, in der es darum geht, alle unsere Neigungen, also die natürlichen wie die erworbenen, zu kontrollieren. In Gigons Stellungnahme erkenne ich Kant wieder, der die Neigung, dem Freund zu helfen, nicht als Tugend anerkennen will, während Aristoteles darin eine unserer wertvollsten Tugenden sieht.

Obwohl also Aristoteles nicht dazu tendiert, den Tugendbegriff zu radikalisieren, trennt er doch den vernunftbegabten Teil des Menschen vom unvernünftigen, den Leidenschaften verfallenen Teil, den er, gemäß der Sitte seiner Zeit, den Kindern und Tieren zuordnet. Den vernunftbegabten Teil setzt er mit dem „Geist“ gleich, dessen „vollkommenste Tätigkeit“ sich als „Reflexion ... auf sich selbst“ vollzieht. (Vgl. Gigon 1991, S.93)

Wenn Gigon von Reflexion auf sich selbst spricht, frage ich mich, was mit dem ,auf sich selbst‛ eigentlich gemeint ist. Ist dieses ,sich selbst‛ noch mal wieder der Geist selbst oder handelt es sich dabei um das organische Ganze als Körperleib?

Im ersten Fall, das ist der Fall, den Aristoteles tatsächlich meint, haben wir es nur mit einer leeren Spiegelung zu tun, aus der sich alle Probleme eines regressus ad infinitum ergeben. Interessanterweise bringt Gigon hier das Beispiel vom „Spiegel des ihm gleichartigen Freundes“, in dem sich der ,Geist‛ wiedererkennan kann. (Vgl. Gigon 1991, S.93) Das klingt nach dem Ich = Du, also nach der Zweitpersonalität, von der in meinem Blog immer die Rede ist. Ich meine damit aber keine leere Spiegelung, sondern die Fülle der Verschiedenheit, in der wir Menschen uns aneinander wiedererkennen. Ich spreche eben nicht von Verwechselbarkeit. Dem für sich allein bloß leeren Geist wächst seine Fülle beim Körperleib aus dem Ganzen seiner Teile zu, und beim Ich = Du wächst ihm diese Fülle aus der Verschiedenheit des anderen Menschen zu. Nur aufgrund dieser Fülle verlieren wir uns nicht im regressus ad infinitum. Das Ich = Du ist meine Formel für Diversität.

Gigon spricht das Problem an, wenn er auf Platons Behauptung verweist, „daß das Gute, Gerechte usw. ewig mit sich selbst identische Wesenheiten seien und mathematisch erfaßbar sein müßten“. (Vgl. Gigon 1991, S.95) ‒ Eine solche Tugend, so Gigon, könne nur eine „reine“, also leere Form sein: „Es wird ihm (Platon) gerade darum nie gelingen, zu erklären, worin denn materiell dieses Gute und Gerechte eigentlich bestünden.“ (Gigon 1991, S.95)

Das Hauptproblem bei der Nikomachischen Ethik ist aber die Fixierung auf das Gute, das Aristoteles auf die verschiedenen Güter (Tugenden) verteilt. Damit fixiert er die Ethik auf ein Telos, auf ein Ziel oder auf einen Zweck, in dem sich alles menschliche Handeln erfüllt. Genau darin erkenne ich zweitausend Jahre Mißbrauch wieder: durch ein Christentum, das die Nikomachische Ethik nur allzu nützlich fand, um mit ihrer Hilfe den Begriff der Sünde zu begründen. Denn wer sich dem höchsten Gut, das Aristoteles übrigens mit der „Glückseligkeit“ gleichsetzte, verweigerte ‒ wer sich also letztlich der christlichen Auslegung dieser Glückseligkeit verweigerte, war verdammt; mit allen Konsequenzen, die der Kirche für solche Abtrünnigen zur Verfügung standen.

Letztlich liegt das Problem des Guten darin, daß es den philosophischen Blick immer auf das Ende richtet; auf die Erfüllung. Es ist das, was wir anstreben, also noch nicht haben. Und wenn wir es haben, ist unser Handeln zu einem gewissen Ende gekommen. Aristoteles löste dieses Problem, indem er das Gute nicht als einen Besitz, sondern selbst wiederum als ein Handeln verstand. Aber das halte ich für eine Scheinlösung; für Wortklauberei.

Meiner Ansicht nach kommt es nicht auf das Ende, sondern auf den Anfang an: auf das Wollen. Oder auch einfacher gesprochen: auf das Begehren und auf die Bedürfnisse. Mir sind diese beiden Begriffe lieber, weil sie weniger voraussetzungsreich sind als der Willensbegriff. Der letzte Zweck unseres Begehrens ist die Befriedigung und im weiteren Sinne der Frieden mit sich selbst und mit unseren Mitmenschen und ‒ heutzutage mehr denn je ‒ der Frieden mit der Natur. Anfang und Ende liegen also im Individuum und nicht in der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft hat ihre Legitimität überhaupt nur in der individuellen Erfüllung. Alles andere ist Mißbrauch der Gemeinschaft am Individuum.

Es klingt wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Was ist zuerst: der Wille oder der Zweck bzw. das Gut? Wollen wir, weil es ein Gut gibt, auf das sich unser Wille richten kann, oder gibt es das Gut, weil wir wollen?

Tatsächlich scheint es mir aber klar zu sein, was zuerst da sein muß. Wenn wir das menschliche Bewußtsein als Intentionalität fassen, dann ist das Begehren fundamental. Es gibt das Gut nur, weil wir wollen. Außerdem müßten wir uns eine Welt voller Güter, voller vorgegebener Zwecke denken, wenn das Gut zuerst da sein muß, damit wir wollen können. Es ist aber meiner Ansicht nach absurd, sich die Welt als ein solches riesenhaftes Magazin vorzustellen, in dem sich die Zwecke stapeln, als hätte alles nur auf uns Menschen gewartet, damit wir uns ihrer bedienen.

Allenfalls könnte man behaupten, daß die Güter schon in unserem Körper und seinen Organen eingefleischt sind. Sie sind es, unsere Organe, die ihre spezifischen Zwecke verfolgen. Wir haben es also mit dem Körperleib zu tun. Der Körperleib ist unser Begehren. Er ist das Ganze unserer Bedürfnisse. Unsere Tugend besteht darin, diese Bedürfnisse auf eine Weise zu organisieren, daß ihre Befriedigung weder uns noch unseren Mitmenschen schadet.

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