„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 28. Juni 2023

Verkehrsteilnehmer und Verkehrsinteressen

Vor zwei Tagen habe ich mich angesichts der Behauptung des Bundesverkehrsministers (FDP), daß die „Leichtigkeit des Verkehrs“ Verfassungsrang habe und sich vor allem auf die Freiheitsrechte von Autofahrern im Straßenverkehr bezieht, gefragt, ob das nicht eine Verfassungsklage rechtfertigt. Ich möchte auf eine der im erwähnten Blogpost aufgeworfenen Fragen heute noch etwas detaillierter eingehen.

Dabei geht es mir vor allem um den Begriff des Straßenverkehrs, der an keiner Stelle des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) genauer definiert wird. Herr Wissing, der Bundesverkehrsminister, scheint davon auszugehen, daß es beim Straßenverkehr nur um Kraftfahrzeuge aller Art geht, aber Radfahrer und Fußgänger nicht mitgemeint sind. Insofern müßte man also davon ausgehen, daß Radfahrer und Fußgänger keine Verkehrsteilnehmer sind.

Wenn man sich anschaut, was es für Straßen gibt, hat dieser Gedanke etwas für sich. Es gibt auf den verschiedenen Straßen unterschiedlich privilegierte Verkehrsteilnehmer. Auf Autobahnen und Bundesstraßen dürfen nur Kraftfahrzeuge mit einer bestimmten Mindestgeschwindigkeit unterwegs sein, auf Landstraßen dürfen neben Autofahrern auch Radfahrer und Fußgänger unterwegs sein, und auf bestimmten Land- und Forstwirtschaftswegen dürfen außer land- und forstwirtschaftlichen Kraftfahrzeugen keine Autofahrer, aber dafür Radfahrer und Fußgänger unterwegs sein. Letztlich liegt es also in der Kompetenz des Gesetzgebers, welche Straßen er wie privilegiert; auch in geschlossenen Ortschaften.

Im StVG ist aber an den zentralen Stellen immer nur von „öffentlichen“ Straßen bzw. vom „öffentlichen“ Straßenverkehr die Rede. ,Öffentlich‛ bedeutet aber, daß alle Verkehrsteilnehmer Zugang zum Straßenverkehr haben, ohne Einschränkung. Zu klären wäre deshalb, wie der Straßenverkehr in verschiedenen Kontexten funktioniert, ohne dabei seinen Öffentlichkeitscharakter zu verlieren. So ist es z.B. offensichtlich, daß auf den Straßen im offenen Land andere Verkehrsverhältnisse herrschen (Tempo 100 und mehr) als innerhalb von Ortschaften (Tempo 50). Mich interessiert jetzt vor allem der Verkehr in geschlossenen Ortschaften.

In Ortschaften leben für gewöhnlich Menschen. Sie wohnen dort und manche arbeiten auch dort. Sie verbringen dort ihre Freizeit, und sie führen dort ihr Leben. „Öffentliche“ Straßen in einer geschlossenen Ortschaft haben einen anderen Öffentlichkeitscharakter als Straßen im offenen Land. Tempo 50 soll diesen anderen Öffentlichkeitscharakter des innerstädtischen Straßenverkehrs berücksichtigen. Die Frage ist lediglich, ob Tempo 50 reicht.

Viele Kommunen sehen das nicht so. Sie möchten innerorts flächendeckend Tempo 30 einführen. Damit wollen sie einen besseren Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Verkehrsinteressen der Einwohner und dem Durchgangsverkehr schaffen. Dazu gehört auch die Anerkennung der Einwohner als Verkehrsteilnehmer und ineins damit die Anerkennung ihrer Verkehrsinteressen. Nicht hilfreich ist dabei die Ausblendung eines erheblichen Teils der Straßenverkehrs zugunsten des Autoverkehrs.

Herr Wissing hat nun aber die Interessen des Autoverkehrs so radikal aufgewertet, daß es auf eine völlige Nivellierung der Interessen aller anderen Verkehrsteilnehmer hinausläuft. Damit hat er, ohne es zu wissen, die Verfassungswidrigkeit des von ihm zu verantwortenden StVG eingestanden.

Ein StVG, das darauf verzichtet, allererst die verschiedenen Interessen aller Verkehrsteilnehmer mit den verschiedenen Arten des Straßenverkehrs (Autobahnen, Bundesstraßen, Landstraßen, innerörtlicher Verkehr etc.) auf den Begriff zu bringen und entsprechend die mit diesen Interessen verbundenen Rechtsgüter zu berücksichtigen, um dann auf dieser Basis Regeln des Zusammenlebens zu formulieren, kann nach meiner laienhaften Einschätzung eigentlich nur verfassungswidrig sein.

Ein Blick ins Grundgesetz zeigt übrigens, daß es auch dort keine die Gesamtheit von Verkehrsteilnehmern und -interessen umfassende Definition des Straßenverkehrs gibt. Wo vom Straßenverkehr die Rede ist, wird vorausgesetzt, daß alle wissen, worum es dabei geht. Eine entsprechende Rückbindung des Straßenverkehrs auf Freiheitsrechte, wie sie in Artikel 2 (persönliche Entfaltung, körperliche Unversehrtheit) und 11 (Freizügigkeit) ausgeführt werden, bleibt ein Desiderat, das, denke ich, nur durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts behoben werden kann.

Das Bundesverfassungsgericht könnte selbst eine Definition vorschlagen oder die Politik damit beauftragen. Auf der Grundlage einer solchen Definition wäre es nicht mehr möglich, nur noch das Recht des Autobürgers auf freie Fahrt zu behaupten und den innerörtlichen Durchgangsverkehr mit Tempo 50 zur einzig legitimen Verkehrsform zu machen.

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