„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 21. Juni 2023

Platons Phaidon: „zu sterben und tot zu sein“

Joseph Jacotot (1770-1840): „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ (In: „Der unwissende Lehrmeister“ (Jacques Ranciére 2007), S.66) ‒ Sokrates: „Wenn Seele und Leib beisammen sind, weist die Natur dem letzteren das Dienen und Gehorchen, der ersteren das Befehlen und Herrschen zu.“ (79/80 St. / 28. Kap.)

Zu Jacotot habe ich einen Blogpost verfaßt. Das Zitat von Sokrates stammt aus dem Dialog „Phaidon“ (nach der von Otto Apelt übersetzten und kommentierten, im Felix Meiner Verlag erschienenen Ausgabe (1993)). Gegensätzlicher können zwei philosophische Axiome kaum sein, denn wenn Platons Sokrates (wie ich ihn jetzt immer nennen will), von ,Seele‛ spricht, ist in begrifflich unscharfer Diktion mal von Bewußtsein, von Geist oder von Intelligenz die Rede. Wenn ich die beiden Zitate so gegeneinander stelle, steht Jacotots Axiom für eine demokratische Gesellschaftsform, und das Axiom von Platons Sokrates steht für eine Sklavenhaltergesellschaft. Denn der ,Leib‛ umfaßt die Gesamtheit unserer Begierden, Gefühle und Leidenschaften, und diese werden in diesem Dialog vor allem Kindern, Tieren und Sklaven zugeordnet.

Vom eigentlichen Ziel der Philosophie: Die zentrale These des Dialogs, in dem der zum Tode verurteilte Sokrates Auskunft über die Unsterblichkeit der Seele gibt, besteht darin, daß der Tod das eigentliche Ziel jeder recht verstandenen Philosophie sei: „Alle, die sich in rechter Weise mit der Philosophie befassen, haben es im Grunde auf nichts anderes abgesehen als darauf, zu sterben und tot zu sein ...“ (64 St. / 9. Kap.)

Denn, argumentiert Sokrates, also Platon, es komme ja nur auf die Seele an, und nicht auf die „Pflege des Leibes“. (Vgl. ebenda) Der „Philosoph“, so Platons Sokrates, sei „bemüht (), seine Seele so viel wie möglich von der Gemeinschaft mit dem Körper zu lösen“. (Vgl. 65 St. / 9. Kap.) Der Körper sei nur ein Hindernis für die „Vernunfterkenntnis“ bzw. für das „reine Denken“: „Sie (die Seele ‒ DZ) denkt aber dann am besten, wenn nichts Körperliches sie stört. Weder Gehör noch Gesicht noch ein Schmerzgefühl noch ein Lustgefühl, sondern wenn sie sich so viel wie möglich auf sich selbst beschränkt ohne Rücksicht auf den Körper und möglichst ohne Gemeinschaft und Berührung mit ihm dem wirklich Seienden zustrebt.“ (65 St. / 10. Kap.)

Die „wahre Erkenntnis“ kommt dem „Ding“ an sich bzw. der Wahrheit immer dann am nächsten, wenn sie auf jede Begleitung durch unsere „Sinneswahrnehmung“ verzichtet. (Vgl. 65/66 St. / 10. Kap.) ‒ Wir haben es also in der Philosophie ausschließlich mit Begriffen zu tun, denen jede (sinnliche) Anschauung fehlt. Kant bezeichnet solche Begriffe als blind. Von ,Erkenntnis‛ im ursprünglichen Sinne, nämlich von einer auf den Menschen und seine Welt gerichteten Erkenntnis, kann hier nicht mehr die Rede sein. ,Reine‛ bzw. leere Erkenntnis kann zwar logisch, aber dennoch weder wahr noch falsch sein.

Mehr wäre dazu nicht zu sagen. Auch nicht zu Platons Ansinnen, er habe mit seiner Abwertung jeder sinnlichen Anschauung eine zwingende Begründung für seine These geliefert, daß der Philosoph tot zu sein wünsche. Angesichts seiner Argumentation hat er natürlich recht. Aber wen interessiert’s?

Entgegengesetztes entsteht aus Entgegengesetztem: Die Argumentationsweise von Platons Sokrates hat erstaunlich wenig Niveau. Sie besteht aus einer reduktionistischen Logik, suggestiven Unterstellungen und vagen, unpräzisen Begriffen. Zum Beispiel setzt er die These in den Raum, daß alles Werden, alle Entwicklung darin besteht, daß Entgegengesetztes aus Entgegengesetztem hervorgeht. So folge der Tag auf die Nacht und dann die Nacht wieder auf den Tag, und der Schlaf folge der Wachheit und die Wachheit dem Schlaf. (Vgl. 16. und 17. Kapitel)

Daraus, daß alles Entgegengesetzte auseinander entsteht, folgert Platons Sokrates logisch völlig korrekt, daß auch Leben und Tod auseinander entstehen. (Vgl. 71 St. / 16. Kap.) Der Tod sei nur ein Übergang zu neuem Leben.

Die Argumentation mit Gegensatzpaaren erinnert an „Das wilde Denken“ (1962/1973) von Claude Levi-Strauss, der die Sprache und mit ihr das Denken auf bedeutungsstiftende Gegensatzpaare zurückführt. Letztlich beruht jeder Strukturalismus auf Denken in Gegensätzen; also auf binärem Denken. Auch Aristoteles definiert in der „Nikomachischen Ethik“ Tugend als die Mitte zwischen zwei Extremen. Dieses Denken hat etwas Manichäisches (gut/böse) und ist ein Grundprinzip des Platonischen Idealismus (wahre Ideen / falsche Sinneswahrnehmungen). Wieder einmal erkenne ich hier, in Platons Sokrates wie zuvor schon in der „Nikomachischen Ethik“, die Wurzeln der christlichen Weltanschauung.

Wenn Levi-Strauss von ,wildem Denken‛ spricht, dann läuft das auf eine Art Zwangsneurose hinaus. Ich möchte den logischen Reduktionismus, mit dem Platons Sokrates seine Zuhörer manipuliert, in diesem Sinne als magische Logik bezeichnen. Der Übersetzer und Kommentator Otto Apelt spricht ganz ähnlich von einem „logischen Mystizismus“ und meint damit Platons Verwechslung des Begriffs mit dem „Ding selbst“. (Vgl. „Platon sämtliche Dialoge“ (1993), Anmerkung 103) Ich halte aber die Assoziation von ,Magie‛ und ,Denkzwang‛ für naheliegender.

Unpräzise Begriffe, suggestive Unterstellungen:
Dabei arbeitet Platons Sokrates auch noch mit äußerst unpräzisen Begriffen: wenn man ihm vielleicht noch darin zustimmen könnte, daß aus „dem Toten“ „das Leben und die Lebenden“ entstehen (vgl. 71 St. / 16. Kap.), bedeutet das noch lange nicht, daß aus demselben Toten auch dasselbe Lebende wiederersteht. Genau das schlußfolgert Platons Sokrates aber, wenn er „unseren Seelen“ ein „Sein“ zuspricht. (Vgl. ebenda)

Platons Sokrates greift im Dialog Phaidon zu allen rhetorischen Mitteln. Nicht nur Logik, auch Suggestion muß die fehlende Anschauung ersetzen. Die Suggestion geht von der Anschauung des Sterbens aus ‒ Platons Sokrates fragt, ob nicht „das Sterben ein ganz deutlicher Vorgang sei“ (vgl. 71 St. / 16. Kap.) ‒ und veranlaßt so Kebes, einen seiner Gesprächspartner, nach seiner Zustimmung auch das „Wiederlebendigwerden“, zu dem jede Anschauung fehlt, als durch Anschauung belegt zu akzeptieren, obwohl es nur unter der Voraussetzung gilt, daß es zu allem ein Entgegengesetztes geben muß, also auch zum Sterben. Dem Gesprächspartner wird eine Anschauung untergeschoben, die nur für den Sterbeprozeß gilt, nicht aber für das Wiederlebendigwerden. Kurz: die Suggestion besteht darin, daß das Wiederlebendigwerden, das bisher nur ein logischer, aus der Entgegensetzung erschlossener Begriff gewesen ist, nun auch den Status einer Anschauung erhält.

Seele als ,Seele‛ und als ,Geist‛: Platons Sokrates unterscheidet zwischen „zwei Arten von Dingen“, den sichtbaren und den unsichtbaren Dingen, womit er zwischen Gegenständen unterscheidet, die wir nur denken können, und Gegenständen, die wir nur (sinnlich) wahrnehmen können. (Vgl. 79 St. / 25. Kap.) Von den unsichtbaren Dingen heißt es, rhetorisch gefragt, also nur zustimmend beantwortbar: „Kann man diese Dinge nicht befühlen oder mit den Augen oder mit sonst einem Sinne wahrnehmen, während man jene sich immer gleichen Dinge nicht anders als mit dem überlegenden Verstand fassen kann, da sie unsinnlich und nicht sichtbar sind?“ (79 St. / 26. Kap.)

Entsprechend diesen zwei Arten von Dingen, Gedankendinge und Wahrnehmungsdinge, ordnet Platons Sokrates der Seele zwei verschiedene Modi zu; Seele als (animalische) ,Seele‛ und Seele als (reiner) ,Geist‛. Als Seele ist sie Teil des Körperleibs, also etwas Animalisches, das sich, so Platons Sokrates, immer im Zustand des Schwankens, der Verwirrung, des trunkenen Taumelns befindet. Sie wechselt, da sie sich nur mit den Körperdingen befaßt, ständig ihre Zustände. Sie ist also gewissermaßen ,trunken‛. Als Geist aber ist sie vom Körper getrennt und beschäftigt sich nur mit sich selbst. Sie ist ,rein‛, ,ewig‛, ,unsterblich‛ und, nur mit sich selbst befaßt, immer die gleiche. (Vgl. 79 St. / 27. Kap.)

Als Geist ist die Seele also nur ein leerer, sich selbst spiegelnder Spiegel: woraus sich logisch gesehen ein infiniter Regreß ergibt. Wohin sie auch blickt, sieht sie immer nur sich selbst. Zu dieser letzten logischen Konsequenz dringt Platons Sokrates allerdings nicht vor.

Fazit: Ich bin von diesem Sokrates, Platons Sokrates, enttäuscht. Ich hatte mir den Phaidon vorgenommen, weil eine Bemerkung von Olof Gigon in seiner Einleitung zur „Nikomachischen Ethik“ mich neugierig gemacht hatte. Aber dieser Sokrates, der ja nur eine von Platon geschaffene Version des historischen Sokrates bildet, von dem es keine schriftlichen Zeugnisse gibt, hat mich enttäuscht. Seine ganze Argumentation beruht auf der suggestiven Manipulation seiner Zuhörer. Der gesellschaftliche Hintergrund dieser Philosophie ist überdeutlich. Da denkt jemand nicht mehr um seiner selbst willen, sondern um einer Gesellschaft willen, die ihm zwar den Schierlingsbecher zu trinken gibt, aber mit der er in jeder Hinsicht nur allzu einverstanden ist.

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