„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 8. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Wenn Damasio die Kultur als eine erweiterte Homöostasevorrichtung beschreibt, die wie die Homöostase, die der biologischen Evolution zugrundeliegt, dem Überleben und dem Gedeihen des Menschen dient, bildet der Übergang von der Biologie zur Kultur eine Kontinuität:
„Indem wir die Kulturen mit Gefühlen und Homöostase in einen Zusammenhang bringen, stärken wir ihre Verbindung zur Natur und vertiefen die menschlichen Aspekte des kulturellen Prozesses. Gefühle und der kreative kulturelle Geist sind durch einen langen Prozess verbunden, in dem die genetische Selektion, die von Homöostase gelenkt wurde, eine herausragende Rolle spielte. Indem wir Kulturen mit Gefühlen, Homöostase und Genetik in Verbindung bringen, sorgen wir dafür, dass sich kulturelle Ideen, Praktiken und Objekte vom eigentlichen Lebensprozess nicht noch weiter ablösen.“ (Damasio 2017, S.15)
Dieses Zitat enthält durchaus schon eine verhaltene Kulturkritik, in der sich Damasio um die Abspaltung kultureller Praktiken vom „eigentlichen Lebensprozess“ sorgt. Was Damasio damit meint, kommt in seiner Kritik der Medizintechnik zum Ausdruck:
„Wenn man das Ziel hat, eine Krankheit zu beseitigen, die Leiden verursacht, besteht jede Rechtfertigung, es zu versuchen. Eine klassische Maxime der Medizin lautet: ‚vor allem keinen Schaden anrichten‘, und wenn diese Regel sorgfältig beachtet wird, sollte man die Eingriffe begrüßen. Wie aber sieht die Sache aus, wenn von vornherein überhaupt keine Krankheit vorliegt? Mit welcher Begründung lässt sich der Versuch rechtfertigen, die Gedächtniskapazität oder die intellektuelle Leistungsfähigkeit nicht durch praktische geistige Übungen zu verbessern, sondern mit genetischen Mitteln? Und wie steht es mit körperlichen Merkmalen – Augen- und Hautfarbe, Gesichtszüge, Körpergröße? Und was soll man von der Manipulation des Geschlechtsverhältnisses halten?“ (Damasio 2017, S.223)
Die Bevorzugung von technologischem Enhancement anstelle von „praktische(n) geistige(n) Übungen“ kritisiert Damasio, der sonst sehr positiv der technologischen Entwicklung gegenübersteht, auch an folgender Stelle:
„Tatsächlich ist ein beträchtlicher Anteil der hoch entwickelten Gesellschaften, in denen die moderne Wissenschaft und Technologie gefeiert werden, spirituell im säkularen wie im religiösen Sinn des Wortes bankrott.“ (Damasio, 2017, S.242)
Als ein zentrales Thema seines Buches bezeichnet Damasio deshalb die Suche nach einem Weg, „um das Leben der Menschen, wie wir es heute kennen ... mit dem Leben der Frühzeit vor bis zu 3,8 Milliarden Jahren in Verbindung zu bringen“. (Vgl. Damasio 2017, S.13)

Dennoch verhindert gerade dieser Fokus auf die Kontinuität, daß Damasio den eigentlichen Grund für die Krisenhaftigkeit des derzeit dominierenden europäisch-amerikanischen ‚way of life‘ nicht erkennen kann. Denn wenn der gegenwärtige Kulturprozeß tatsächlich in der Krise steckt, wie Damasio gegen Ende seines Buches diagnostiziert (vgl. Damasio 2017, S.241ff.), dann kann der Zweck der kulturellen Evolution, die Damasio in eine Linie mit der biologischen Evolution stellt, wohl kaum die Erhaltung eines den Bestand der Menschheit gewährleistenden Gleichgewichts sein; denn dann hätte sie ihren Zweck verfehlt, und das nicht erst seit heute. Außerdem dürfte es bei diesem Gleichgewicht nicht nur um das Wohlergehen einer regional begrenzten Population und innerhalb dieser Population einer bestimmten Generation gehen, sondern es müßte eine planetarische Perspektive beinhalten.

Damasio kommt letztlich nicht darum herum, sich zu fragen, warum kulturelle Prozesse schon immer so fragil sind und immer wieder ein abruptes Ende nehmen:
„Warum löschen Menschen in Abständen immer wieder zumindest teilweise die kulturellen Errungenschaften aus, die sie bis dahin erzielt haben?“ (Damasio 2017, S.194)
Um dieses betrübliche Phänomen zu erklären, unterscheidet Damasio zwischen kleinen Gruppen und großen Gruppen, zwischen Gemeinschaften und Zivilisationen. (Vgl. Damasio 2017, S.42, 249f.) Die „grundlegende Homöostase“ funktioniert nur innerhalb gewisser Grenzen. In der Biologie konzentriert sie sich auf den Erhalt eines einzelnen Organismusses, was zu einem Egoismus führt, der auf Kosten der Lebenserhaltung anderer Organismen geht. (Vgl. Damasio 2017, S.249f.) Dieser Egoismus läßt sich auf die eigene Familie und Freunde erweitern, aber bei ganzen Zivilisationen funktioniert das nicht mehr:
„Wer von einem großen, misstönenden Menschenkollektiv spontane homöostatische Eintracht erwartet, hofft auf das Unwahrscheinliche.“ (Damasio 2017, S.250)
Damasio weist auf einen wichtigen Aspekt der menschlichen Natur hin. Die Differenz zwischen kleinen und großen Gruppen ist anthropologisch fundamental, und Michael Tomasello beschreibt sie als die Differenz zwischen Zweitpersonalität und Drittpersonalität. An dieser Stelle zeigt sich aber zugleich auch, wie wichtig der Blick auf die individuelle Entwicklungslinie ist, die zwischen biologischen und kulturellen Prozessen changiert. Damasio weist einige Male implizit darauf hin, ohne es aber explizit zu thematisieren. So schreibt er z.B., daß es das Individuum ist, in dem sich biologische und kulturelle Prozesse ‚manifestieren‘. Und Bewußtsein, so Damasio, erwächst aus „interaktiven Verkettungen“, die mit dem Leben zusammenhängen. (Vgl. Damasio 2017, S.177) Hier hätte es nur eines kleinen weiteren Gedankenschritts bedurft, um das Individuum als zentralen Ort dieser interaktiven Verkettungen zu würdigen und in den Rang einer eigenständigen individuellen Entwicklungslinie zu erheben, die den anderen biologischen und kulturellen Entwicklungslinien gleichgestellt ist.

Tatsächlich aber wertet Damasio das Individuum angesichts des vielfältigen Scheiterns von Kulturen sogar ab. Damasio spricht von der Notwendigkeit einer „zivilisationsbedingten Eindämmung“ des individuellen Temperaments, das von den „Triebe(n) und Emotionen in einem Individuum“ abhängt, die „in einem Individuum angelegt sind“. (Vgl. Damasio 2017, S.254) Letztlich macht Damasio also die Individuen für das „immer wiederkehrende Scheitern von Kulturen“ verantwortlich. (Vgl. Damasio 2017, S.255)

Es geht an der Natur des Menschen vorbei, die Individuen für ein Phänomen verantwortlich zu machen, das auf dem Antagonismus von Biologie und Kultur selbst beruht. Kulturen bilden kein Kontinuum mit der Biologie. Vielmehr ist es die Differenz zwischen genetischer Vererbung und kultureller Tradition, und nicht die Kontinuität, die zum sich regelmäßig wiederholenden Scheitern von Kulturen führt. Die materielle Basis, auf der sich Kulturen tradieren, beruht nicht auf Genen – noch nicht einmal auf Epigenetik –, sondern auf der Geburtlichkeit von Individuen. Mit jeder Generation betreten neue Individuen eine Welt, in der sie sich aufs Neue orientieren müssen. Es sind nicht die Gene und nicht die Instinkte, die ihnen das ermöglichen, sondern die Fürsorge ihrer Eltern und ihrer Gemeinschaft.

Das hat Hunderttausende von Jahren gut funktioniert: in Wildbeutergesellschaften. Aber mit der neolithischen Revolution und dann erst recht mit der Erfindung der Schrift ist dieses Generationenverhältnis aus dem Gleichgewicht geraten. Der Wandel trat an die Stelle der Kontinuität. Und der Wandel beschleunigt sich bis heute, wo jährliche und monatliche Innovationen im Bereich der Technologie alle Gewißheiten über den Haufen geschmissen haben. Was kulturell ‚eingedämmt‘ werden muß, sind nicht die individuellen „Triebe und Emotionen“, sondern der blinde Innovationsmechanismus, der alles überrollt. Es ist nicht mehr das Alte, das sich vor dem Neuen rechtfertigen muß, sondern umgekehrt. Obwohl das in dieser Pauschalität natürlich nicht richtig ist. Denn was angesichts des gegenwärtigen technologischen Irrsinns als vernünftig erscheint, wäre ‚neu‘, während der Irrsinn trotz aller Innoviererei selbst längst veraltet ist.

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Donnerstag, 7. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Die Gefühle informieren uns Damasio zufolge über die inneren Zustände unseres Organismusses, also über den Zustand der verschiedenen Organe und Organsysteme, Immunsystem, Kreislauf, Hormone etc. Hinzu  kommt die „Welt der Bakterien“ u.a. im Darm:
„Vielleicht die faszinierendste neue Erkenntnis, über die ich hier berichten kann, (ist) aber die enge Beziehung zwischen der Welt der Bakterien und dem Darm. ... nirgendwo ist ihre Zahl höher als im Darm: Dort geht sie in die Milliarden, das heißt, die Zahl der Einzelorganismen ist höher als die der menschlichen Zellen im gesamten Organismus. Die Frage, wie sie direkt oder indirekt die Welt der Gefühle beeinflussen, ist ein faszinierendes Thema für die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts.()“ (Damasio 2017, S.158)
Nicht zuletzt liefern uns unsere Sinnesportale ebenfalls von Gefühlen begleitete Informationen über unsere Außenwelt. Im Neusprech der Informationsgesellschaft: wir werden ständig mit einer Unmenge von ‚Daten‘ bombardiert, und zwar zum größten Teil auf einer unbewußten Ebene, denn nicht alle Affekte dringen als bewußte Gefühle in den Fokus unserer mentalen Aufmerksamkeit vor. „Big Data“ gibt es deshalb nicht nur im Internet der Dinge oder bei Facebook. „Big Data“ wird schon lange von den Lebensprozessen selbst produziert. Damasio zufolge ist die „umfangreiche Überwachung der Funktionen im Organismus“ im Dienste einer umfassenden Homöostase „der natürliche Vorläufer der ‚Big Data‘-Überwachungstechnologie, auf deren Erfindung die Menschen so schamlos stolz sind“. (Vgl. Damasio 2017, S.72)

Für die biologische Big-Data-Variante nimmt Damasio zurecht den Begriff der Intuition in Anspruch. Die ‚Intuition‘ steht für die innere ‚Anschauung‘ bzw. ‚Wahrnehmung‘, also einer Form der Achtsamkeit, die wir nicht nur in der Meditation praktizieren und die sich von den Überwachungstechniken und Auswertungsroutinen von Facebook, Amazon oder Google qualitativ unterscheidet:
„Wenn wir Menschen beispielsweise intuitiv spüren, was bei einer bestimmten Diskussion herauskommt, bedienen wir uns in großem Umfang anderer ‚Big-Data‘-Hilfssysteme, die Gedächtnisaufzeichnungen aus früherer Zeit überblicken und Vorhersagealgorithmen verwenden.“ (Damasio 2017, S.275)
Wenn ich auch, wenn es um das menschliche Bewußtsein geht, nicht viel von solchen technologischen Vergleichen halte, bringt der Vergleich von Big Data mit der menschlichen Intuition doch recht gut die ungeheure Komplexität zum Ausdruck, in die unser Bewußtsein eingebettet ist. Jeder Versuch, diese Komplexität auf einzelne neuronale Netzwerke im Gehirn oder gar bloß auf einzelne feuernde Neuronen zu reduzieren, wirkt angesichts dieser Komplexität lächerlich.

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Mittwoch, 6. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Matthew B. Crawford kritisiert in seinem Buch „Die Wiedergewinnung des Wirklichen“ (2016) den Begriff der „geistigen Repräsentation“, weil das die Vorstellung einer inneren Kinoleinwand hervorrufe, vor der ein kleines Männchen sitze. (Vgl. meinen Blogpost vom 16.01.2017) Nun kann man schlecht auf diesen Begriff verzichten, wenn man wie der Rezensent die Differenz von Innen und Außen für bewußtseinskonstitutiv hält. So unterscheidet auch Helmuth Plessner zwischen einem präsentativen und einem repräsentativen Bewußtsein, was in etwa der Differenz zwischen Emotion und Kognition entspricht. Auf jeden Fall haben wir es beim Begriff der geistigen Repräsentation mit einer Verdopplung der Welt zu tun: der realen und der repräsentierten Welt. Und dieser Verdopplung entspricht eine Verdopplung des Ichs: einem beteiligten und einem beobachtenden Ich. Und schon stehen wir mittendrin in der Homunkulusproblematik, vor der Damasio so eindringlich warnt, wenn er vom drohenden unendlichen Regreß spricht:
„Kein Homunculus, kein Homunculus im Homunculus, keine unendliche Regression der philosophischen Legende.“ (Damasio 2017, S.167)
Helmuth Plessner hat diesem drohenden Regreß, in dem ein Ich sich dabei beobachtet, wie es sich dabei beobachtet, wie es die Welt um ihn herum beobachtet, einen Riegel vorgeschoben, indem er das Ich exzentrisch positioniert:
„Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann.“ („Stufen des Organischen“ (1929/1975), S.292)
Auch Damasio hatte in seinen früheren Büchern in Gestalt des Dirigenten, der von Nirgendwoher vor seinem Orchester erscheint und nach dem Konzert ins Nirgendwohin verschwindet, so eine Regreß-Bremse eingebaut. Auch in seinem aktuellen Buch spielt die Orchestermetapher eine wichtige Rolle; aber den imaginären Dirigenten erwähnt Damasio nicht mehr. Stattdessen spricht Damasio von einem cartesianischen Theater und konzipiert somit den menschlichen Geist als einen Aufführungs- und Projektionsraum, in dem sich ein „Publikum“ ein Theaterstück anschaut:
„Es gibt ein Publikum, nämlich uns selbst. Wir sehen uns selbst nicht. Wir spüren oder fühlen ganz einfach, dass vor der Theateraufführung auf der Bühne eine Art Ich sitzt, das Subjekt und Publikum der Show, das einen Raum vor der undurchdringlichen vierten Wand der Bühne einnimmt. ... gelegentlich haben wir unter Umständen sogar das Gefühl, dass ein anderer Teil von uns, nun ja, das Ich beobachtet, während dieses die Aufführung beobachtet.“ (Damasio 2017, S.166)
Allenfalls der „Raum vor der undurchdringlichen vierten Wand“ erinnert noch an das Nirgendwo des Dirigenten. Dennoch eröffnet Damasio mit dieser Beschreibung des ‚Geistes‘ trotz seiner gegenteiligen Behauptung die Homunkulusproblematik, die unweigerlich dazu verleitet, nach ‚Modulen‘ oder ‚Schaltkreisen‘ im Gehirn zu suchen, die die Funktion eines solchen Homunkulus ausüben. Eine Vorstellung, vor der Damasio warnt:
„Die Vorstellung von einem ‚Gehirnmodul‘, das die emotiven Reaktionen und das nachfolgende Gefühl des Genusses auslöst, während ein anderes Modul Abscheu erzeugt, ist ebenso wenig richtig wie der Gedanke an ein emotives Steuerpult mit Knöpfen für jede Emotion.“ (Damasio 2017, S.132)
Obwohl also Damasio um die Gefahren der Homunkulusproblematik weiß, verfällt er ihr in seinen Beschreibungen von Bewußtseinsfunktionen, die mit den Gehirnfunktionen nicht identisch sind. Insofern muß man Crawford unbedingt zustimmen, wenn er vor dem Begriff der „geistigen Repräsentation“ warnt. Deshalb muß man aber nicht unbedingt auf diesen Begriff verzichten. Man sollte ihn aber mit äußerster Vorsicht verwenden.

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Dienstag, 5. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Wo Kant von der Notwendigkeit spricht, daß wir unsere Erlebnisse und Wahrnehmungen mit einem „Ich denke“ begleiten können müssen, damit sie uns bewußt werden, behauptet Damasio dasselbe von den Gefühlen. Man könnte hier in Analogie zu Kants „transzendentaler Apperzeption“ von einer ‚pathischen‘ Apperzeption sprechen. Mit einem – mit Blick auf die Homunkulusproblematik – zwar verfänglichen, aber dennoch durchaus brauchbaren Bild spricht Damasio von einer Gefühlsspur, die wie die Tonspur auf einem Zelluloidfilm die Bilder unserer inneren und äußeren Wahrnehmungen begleitet und sie unablässig als gut oder schlecht bewertet. (Vgl. Damasio 2017, S.87, 105, 168f.)

Tatsächlich gibt es nicht nur eine Parallelspur, denn wir haben es mit zwei verschiedenen Gruppen von Bildern zu tun, den Bildern aus der alten Innenwelt der ‚Eingeweide‘ und den Bildern des Skelettgerüsts und der in ihm eingebetteten Sinnesportale, die uns mit Bildern von der Außenwelt versorgen. (Vgl. Damasio 2017, S.93, 97f.) Bei beiden Gruppen haben wir es mit Gefühlen zu tun, also mit Gefühlen, die Gefühle begleiten. Damasio spricht von „schichtweise aufgebauten“ Gefühlszuständen und bezeichnet sie als „ein typisches Kennzeichen des menschlichen Geistes“. (Vgl. Damasio 2017, S.135)

Hinzu kommt eine „verbale Spur“, die die parallel laufende Bilderzeugung in Worte und Sätze übersetzt (vgl. Damasio 2017, S.168). Diese Spur entspricht dem Kantischen „Ich denke“ noch besser und bildet eine gewissermaßen ‚verbale‘ Apperzeption.

Entsprechend dieser breitgefächerten Apperzeption besteht unser mentales Erleben darin, daß wir uns fortwährend Geschichten erzählen:
„Heute erzählen wir sowohl in nonverbaler quasi filmischer Weise als auch mit Worten unaufhörlich Geschichten und Bruchstücke von Geschichten. Wir erzählen sie ununterbrochen ganz privat und auch anderen.“ (Damasio 2017, S.168f.)
Über die verbale Spur werden die ‚Bilder‘ unseres inneren Erlebens für andere mitteilbar. Und auch für uns selbst werden sie so allererst verständlich. Die Zelluloidmetapher hat auch den Vorteil, daß sie die chronologische Ordnung, den Zeitpfeil, deutlich hervorhebt. Die Zeit bildet Kant zufolge den inneren Sinn des Menschen. Sie ordnet unser inneres Erleben so, wie die drei Dimensionen des Raumes unsere äußeren Wahrnehmungen ordnen. Die Arbeit an dieser chronologischen Zeitlinie ähnelt tatsächlich der Arbeit mit „filmähnliche(n) Sequenzen“, in die unser Gedächtnis ständig eigene Bilder, wie Damasio schreibt, ein-‚streut‘ (vgl. Damasio 2017, S.178), so daß wir uns das Erleben der Gegenwart „im Kontext der Erinnerungen an die Vergangenheit und der Vorstellungen von Zukunft ... unaufhörlich zurechtlegen“ (vgl. Damasio 2017, S.15).

Helmuth Plessner spricht angesichts dieser ‚ungenauen‘ Gedächtnisleistung von einer vermittelten Mitte. Die Menschen leben anders als die Tiere nicht im unmittelbaren Vollzug aus Aktion und Reaktion. Sie müssen sich ihre Mitte vermitteln. Auch dafür steht die Filmmetapher, mit der Damasio arbeitet. Allerdings schwankt Damasio bei der Darstellung dieser Gedächtnisleistung, indem er sie mal als Aneinanderreihung von Bildern, also als Narration beschreibt und mal als abstrakten Code. So werden Damasio zufolge die Gedächtnisinhalte als Code abgespeichert:
„Die Codes werden in den Assoziationsfeldern der Scheitel-, Schläfen-, Hinterhaupts- und Frontalregionen beider Gehirnhälften gespeichert. ... während des Erinnerungsprozesses rekonstruieren wir eine mehr oder weniger originalgetreue Annäherung an das ursprüngliche Bild; dazu nutzen wir die in umgekehrter Richtung verlaufenden Nervenbahnen, die von den Regionen mit den gespeicherten Codes ausgehen und in Arealen, die erstmals explizite Bilder zusammensetzen, ihre Wirkung erzielen – ein Prozess, den wir als Retroaktivierung bezeichnet haben.()“ (Damasio 2017, S.112)
Wo die analoge Metapher des Zelluloidfilms den Bildcharakter der Erinnerungen hervorhebt und Damasio dabei das Zusammenfügen von „Bruchstücken“ thematisiert, assoziieren wir mit dem „Code“ üblicherweise digitale Muster. Natürlich lassen sich auch Bilder codieren. Aber für „Berichte über den Lebenszustand im Inneren eines Organismus“ lehnt Damasio diese Assoziation an andereren Stellen explizit ab. (Vgl. Damasio 2017, S.122; vgl. auch S.127 u.ö.)

Das beste Bild für das Zusammenspiel der verschiedenen Bewußtseinsfunktionen liefert weder das Kino noch der Computer, sondern der Konzertsaal. Damasio vergleicht das Bewußtsein mit einer Orchesteraufführung, in der die Musik aus „aus dem Gedächtnis abgerufenen Gegenstände(n) und Ereignisse(n) in der Welt rund um unseren Organismus“ besteht, und in der die verschiedenen Instrumentengruppen „aus den wichtigsten Sinnesvorrichtungen“ bestehen, „mit deren Hilfe die Welt außer- und innerhalb eines Organismus mit dem Nervensystem in Wechselbeziehung tritt“. (Vgl. Damasio 2017, S.101)

Vom Dirigenten spricht Damasio an dieser Stelle, anders als in seinen früheren Büchern, nicht. In seinen früheren Büchern tritt dieser Dirigent von nirgendwoher an den Pult und verläßt ihn nach der Aufführung, niemand weiß wohin. Aber wenn der Dirigent den Taktstock ergreift, nimmt er das Orchester in Besitz und sorgt dafür, daß aus dem Klangchaos ein musikalisches Ereignis wird. Dieses Nirgendwoher und Nirgendwohin erinnert an Plessners exzentrische Positionalität und verhindert das Homunkulusmißverständnis.

Die Inbesitznahme des Orchesters durch den Dirigenten ist wiederum nichts anderes als Kants transzendentale Apperzeption. Damasio bezeichnet sie als subjektive „Perspektive“ bzw. als „Blickwinkel“ oder auch als „Standpunkt“. (Vgl. Damasio 2017, S.165, 171f.) Mit dieser subjektiven Zutat nimmt der Mensch die Welt in seinen Besitz. Er wird sich der Welt in seinem Innern und außen um ihn herum bewußt:
„Unter normalen Umständen, wenn wir wach und aufmerksam sind und uns weder aufregen noch angestrengt nachdenken, haben die Bilder, die uns durch den Kopf gehen, einen Blickwinkel: unseren. Wir erkennen uns spontan selbst als Subjekt unseres mentalen Erlebens.“ (Damasio 2017, S.165)
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Montag, 4. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Wenn Antonio Damasio von der Substratabhängigkeit der Gefühle spricht, also von der Unaustauschbarkeit des „Nährbodens“, in dem sie gedeihen (vgl. Damasio 2017. S.229f.), dann ist das ein Hinweis darauf, was mit „Physiologie der Wertigkeit“ (Damasio 2017, S.145) gemeint ist:
„Wenn man das Substrat der Gefühle ändert, ändert man das, was wechselseitig abgebildet werden soll und dadurch die Gefühle selbst. Kurz gesagt, spielt der Nährboden eine Rolle, weil der mentale Prozess, um den es hier geht, ein mentaler Bericht über diesen Nährboden ist. Phänomenologie ist wichtig.“ (Damasio 2017, S.230)
Dabei hat Damasio eine eigene, nicht ganz unproblematische, aber durchaus bemerkenswerte Sicht auf das, was er ‚Phänomenologie‘ nennt. Er stellt mit diesem Begriff, ganz entsprechend zur von Edmund Husserl begründeten phänomenologischen Tradition, das Gefühl ins Zentrum seiner neurophysiologischen Forschung. Damasio spricht explizit von einer „Phänomenologie der Gefühle“. (Vgl. Damasio 2017, S.229) Dabei definiert er das Gefühl als „mentale(n) Ausdruck“ der Homöostase (vgl. Damasio 2017, S.14), der uns über den inneren Zustand unseres Organismusses informiert:
„Ohne dass ein einziges Wort gesprochen wird, teilen Gefühle dem Geist unter normalen Umständen in jedem Augenblick mit, ob der Lebensprozess in dem zugehörigen Körper in eine gute oder schlechte Richtung verläuft.“ (Damasio 2017, S.20)
Allerdings hat Damasios Verwendung des Wortes ‚Phänomenologie‘, wie schon angedeutet, auch eine problematische Seite. Die Art, wie Damasio die ‚Berichte‘ beschreibt, mit denen uns die Gefühle über unsere inneren Befindlichkeiten informieren, ist merkwürdig ambivalent. Zum einen handelt es sich Damasio zufolge um nonverbale „Berichte“, ein Wort, das er vor allem in früheren Publikationen verwendet. Auch im aktuellen Buch soll es ein „mentaler Bericht“ sein, der uns über den „Nährboden“ informiert. (Vgl. Damasio 2017, S.230) Er selbst weist dann auf das naheliegende Mißverständnis hin, zu dem ein solcher Wortgebrauch verleitet:
„Man ist leicht versucht, die Vorstellung eines Berichts in Seiten einer Onlinedatei zu übersetzen, die man eine nach der anderen überfliegen kann, um daraus etwas über diesen oder jenen Teil des eigenen Körpers zu erfahren. Aber saubere, leblose, gleichgültige, digitalisierte Seiten sind keine annehmbare Metapher für Gefühle ...“ (Damasio 2017, S.122)
‚Bericht‘ ist also keine besonders brauchbare Beschreibung für das, was Gefühle leisten. Ein anderes von Damasio häufig verwendetes Wort für Gefühle ist „Bilder“. Gefühle liefern ‚Bilder‘ von unseren inneren Zuständen, so wie Wahrnehmungen Bilder von unserer Außenwelt liefern. Dieses Wort hat den Vorteil, den nonverbalen Aspekt unserer inneren Erlebnisse besser zu beschreiben. Zugleich hebt es den phänomenologischen Charakter von Damasios Arbeit deutlicher hervor; denn in der Phänomenologie haben wir es immer mit Oberflächen zu tun, also mit ‚Bildern‘ (Phänomenen), und bei diesen Bildern steht wiederum der Gestaltcharakter im Zentrum des phänomenologischen Interesses. Das Wort ‚Bild‘ ist also definitiv brauchbarer als das Wort ‚Bericht‘.

Dennoch ist Damasios Gebrauch des Wortes ebenfalls ambivalent. Zum einen verleitet das Wort ‚Bild‘ dazu, auf Metaphern wie ‚Kino‘ und ‚Film‘ zurückzugreifen. Damasio beschreibt die innere Präsentation von Bildern als „nonverbale, filmähnliche Sequenzen“ (vgl. Damasio 2017, S.87), wobei man unwillkürlich an ein kleines, im Inneren des Kopfes sitzendes menschenähnliches Männchen denkt, das auf eine Kinoleinwand starrt (vgl. Damasio 2017, S.167). Damasio selbst bringt dieses Beispiel, um sich dann gleich davon zu distanzieren.

Abgesehen von dieser Distanzierung von der Homunkulusproblematik geht er aber nicht weiter auf den Bildcharakter von Gefühlen ein. Stattdessen vergrößert er die Verwirrung um das ‚Bild‘, indem er – und das ist das andere Problem bei seinem Gebrauch dieses Wortes – von „Karten“ spricht, aus denen die Bilder bestehen sollen. Schon in seinen früheren Publikationen habe ich immer nicht verstanden, was genau das eigentlich heißen soll, wenn Damasio etwa davon spricht, daß in unserem Gehirn Erlebnisse und Wahrnehmungen „kartiert“ werden:
„Nervensysteme machten einen Prozess möglich, durch den die Welt um sie herum – eine Welt, die im Innern des Organismus beginnt – vieldimensional kartiert werden konnte, sodass ein Geist und innerhalb dieses Geistes auch Gedanken und Gefühle möglich wurden. Die Kartierung bediente sich verschiedener sensorischer Fähigkeiten; am Ende waren das Geschmack, Geruch, Tasten, Hören und Sehen.“ (Damasio 2017, S.37)
Aus dieser ‚Kartierungsleistung‘ bauen sich also Damasio zufolge die mentalen Bilder auf, die wir bewußt wahrnehmen. Damasio fordert seine Leser dazu auf, sich vorzustellen, daß die neuronalen „Schaltkreise“ flächig angeordnet seien, wie bei einer „Landkarte“. (Vgl. Damasio 2017, S.90) Die ‚Kartierung‘ bestünde dann darin, daß diese ‚Schaltkreise‘ die Innen- und Außenwelt zweidimensional ‚nachzeichnen‘, entsprechend der „räumlichen Anordnung von Gegenständen und Ereignissen“:
„Das geordnete, allmähliche Hinzufügen vieler solcher Punkte lässt Linien entstehen, die sich verbinden oder überschneiden können und eine Landkarte darstellen. ... Die Linien in solchen Gehirn-Landkarten geben die Anordnung eines Objekts, seine sensorischen Eigenschaften, seine Bewegungen oder seine Lage im Raum wieder. Es muss sich dabei nicht um eine ‚fotografische‘ Wiedergabe handeln, dies ist aber möglich.“ (Damasio 2017, S.91)
Obwohl wir es also bei der Landkarte mit einer eindeutig Zweidimensionalität suggerierenden Metapher zu tun haben, heißt es an anderer Stelle aber dennoch, daß sie die „Welt ... im Innern des Organismus“ „vieldimensional kartiert“. (Vgl. Damasio 2017, S.37)

Wahrscheinlich meint Damasio mit ‚Vieldimensionalität‘ die verschiedenen oben genannten sensorischen Modalitäten „Geschmack, Geruch, Tasten, Hören und Sehen“, so daß wir es mit verschiedenen ‚Karten‘ zu tun hätten, die ‚vieldimensional‘ zusammengefügt werden. Dennoch kann ich mit dieser Analogie nicht viel anfangen. Der Bildcharakter der ‚Berichte‘ unserer Gefühle besteht also darin, daß sie aus ‚Landkarten‘ zusammengesetzt sind? – Mit Phänomenologie hat das wenig zu tun; schon deshalb nicht, weil Landkarten mehr einem sprachlichen Bericht gleichen als einer nonverbalen Anschauung, die unsere inneren ‚Bilder‘ Damasio zufolge ja eigentlich sein sollen. Denn den Landkarten liegt eine ähnliche Übersetzungsleistung zugrunde wie verbalen Berichten: reale Landkarten bilden die äußere Welt ähnlich symbolisch ab wie Wörter und Sätze. Sie übertragen deren Merkmale in eine andere Struktur, und zwar mithilfe einer Analyseleistung, die von der ursprünglichen Wahrnehmung abstrahiert.

Mir selbst fallen bei ‚Karten‘ vor allem Karteikästen ein, vor allem deshalb, weil Damasio ja behauptet, daß die ‚Bilder‘ aus ‚Karten‘ zusammengesetzt seien (vgl. Damasio 2017, S.90), die Karten also eine Art Stichwortsammlung bilden, die zu Berichten bzw. vollständigen ‚Bildern‘ erst zusammengefügt werden müssen. Letztlich ist aber Damasios Versuch, Phänomenologie und Physiologie zusammenzudenken dennoch anerkennenswert. Damasio weist hier einen Weg auf, für den es wünschenswert ist, daß er Nachfolger findet.

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Sonntag, 3. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Der Körper und seine Physiologie werden in den Neurowissenschaften gerne bloß als „Nährboden“ für das Gehirn dargestellt, das angeblich hinsichtlich all seiner wesentlichen Funktionen autark sein soll. So ist z.B. Adrian Owen (2017) davon überzeugt, daß bei einer Gehirntransplantation die Persönlichkeit eines Menschen im fremden Körper völlig unverändert bliebe. (Vgl. meinen Blogpost vom 01.03.2018) Damasio sieht das ganz anders:
„Die Werte, die unsere Kultur in Form von Kunst, Religion, Justiz und gerechter Staatsführung feiert, wurden auf der Grundlage von Gefühlen geformt. Würden wir den derzeitigen chemischen Nährboden für Leiden und sein Gegenteil – Freude und Gedeihen – beseitigen, beseitigen wir damit auch die natürliche Grundlage für unsere derzeitigen Moralsysteme.“ (Damasio 2017, S.231)
Ich denke man kann Damasios auf die kulturelle Evolution bezogene Feststellung ohne weiteres auch auf die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit eines Menschen beziehen.

Eng mit der verbreiteten neurowissenschaftlichen Mißachtung des Körpers zusammen hängt der Fokus auf Codes und Algorithmen, mit denen die Neurowissenschaftler das Funktionieren eines Gehirns zu beschreiben versuchen. Die derzeit beliebteste Metapher zur Beschreibung eines Gehirns ist der Computer. (Vgl. Damasio 2017, S.78, 227, 291) Dazu bemerkt Damasio:
„Interessanterweise eignen sich rein intellektuelle Abläufe gut für eine Beschreibung mit Algorithmen, und vom Nährboden sind sie anscheinend nicht abhängig. Das ist der Grund, warum gut ausgedachte KI-Programme in der Lage sind, Schachgroßmeister zu schlagen, im Go-Spiel hervorragende Leistungen zu erbringen und Autos zu fahren.“ (Damasio 2017, S.230)
Für intellektuelle Prozesse eignen sich Algorithmen Damasio zufolge deshalb so gut, weil diese Prozesse im Unterschied zu Gefühlen tatsächlich substratunabhängig sind, also unabhängig von einem spezifischen, unaustauschbaren ‚Nährboden‘. An dem Gedanken, daß dies auch für den menschlichen Organismus so gelten könnte, „berauschen sich“, schreibt Damasio, „die Welten der künstlichen Intelligenz, der Biologie und sogar der Neurowissenschaft“. (Vgl. Damasio 2017, S.229)

Damasio führt drei Gründe dafür an, daß sich dieser Mainstream irrt. Auf den ersten Grund, die „Phänomenologie des Gefühls“ (Damasio 2017, S.229), werde ich im folgenden Blogpost eingehen. Im Kern geht es dabei darum, daß Gefühle im Unterschied zu Algorithmen substratabhängig sind. Der zweite Grund besteht darin, daß Algorithmen nicht flexibel genug sind: wenn die Ausführungsbedingungen gegeben sind, müssen sie zur Anwendung kommen. Der Mensch hingegen hat immer die Freiheit, sich anders zu entscheiden:
„Selbst wenn wir alle Vorsicht in den Wind schlagen und das menschliche Gehirn freigebig zum ‚Algorithmus‘ erklären, sind die Dinge, die Menschen tun, keine Algorithmen, und wir sind nicht zwangsläufig vorhersagbar.“ (Damasio 2017, S.233)
Der dritte Grund besteht Damasio zufolge darin, daß eine reduktionistische Position keine ästhetische Sensibilität und keine Humanität zuläßt. Sie verletzt die Würde des Menschen:
„Wenn man Erklärungen für das Menschsein findet, die scheinbar die Würde des Menschen mindern, bringt man die Sache des Menschen auch dann nicht voran, wenn man die Würde gar nicht mindern will.“ (Damasio 2017, S.233)
Damasio ist, wenn ich das hier mal in dieser zugespitzten Form sagen darf, wohl der einzige Neurowissenschaftler, der mit der Würde des Menschen argumentiert!

Damasio lehnt allerdings den Begriff des Algorithmusses für biologische und kulturelle Prozesse nicht generell ab. Als Beispiele führt er den genetischen Code und die menschliche Sprache an:
„Der genetische Code sorgt mit seinem Alphabet der Nucleinsäuren dafür, dass Lebewesen auf der Grundlage anderer Lebewesen zusammengesetzt werden können, und steuert ihre Entwicklung; verbale Sprachen liefern uns ein Alphabet, mit dem wir unendlich viele Wörter zusammensetzen und damit unendlich viele Gegenstände, Tätigkeiten, Beziehungen und Ergebnisse benennen können, wobei die Regeln der Grammatik über die Reihenfolge der Wörter bestimmen.“ (Damasio 2017, S.227f.)
Was die verbale Sprache betrifft, sieht Damasio ihre wesentliche Leistung darin, daß die ‚Bilder‘ – auf den Begriff des Bildes werde ich im folgenden Blogpost noch einmal extra eingehen – aus dem Inneren des Organismusses für andere Menschen kommunizierbar gemacht werden. Wir haben es mit einer Übersetzungsleistung zu tun, bei der Bilder, gemeint sind hier Gefühle, in Wörter und Sätze übertragen werden. (Damasio 2017, S.107) Damasio geht weder an dieser Stelle noch an einer anderen Stelle in seinem Buch darauf ein, was bei dieser Übersetzungsleistung verloren geht, also auf die Differenz von Sagen und Meinen. Wenn nämlich der „verbale Code“ tatsächlich einen Algorithmus bilden würde, dann bestände das Verhältnis zwischen Bildern/Gefühlen und der verbalen Sprache in einem 1:1-Verhältnis. Die Wörter wären eineindeutig definiert, was man von Gefühlen wohl nicht so einfach behaupten kann.

Bei aller Anerkennung des philosophischen Hintergrunds von Damasio – philosophisch begründet Damasio sein Konzept mit dem Panpsychismus von Spinoza (Vgl. Damasio 2017, S.47f.) – bleibt doch festzuhalten, daß Damasio hier die eigentliche Bedeutung der individuellen Entwicklungslinie ein weiteres Mal verfehlt.

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Samstag, 2. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Während Helmuth Plessner mit dem „Körperleib“ eine Anatomie der gebrochenen Intentionalität entwickelt, geht Antonio Damasio mit dem für seinen Ansatz grundlegenden Begriff der Homöostase von einer „Physiologie der Wertigkeit“ (Damasio 2017, S.145) aus. Damasios Begriffe des Bewußtseins und des Geistes stehen deshalb in der Kontinuität einer biologischen und kulturellen Evolution, die ihren Ausgang nimmt von den ersten kernlosen Einzellern (Prokaryonten) und die voranschreitet zu Lebensformen mit zentral gesteuerten genetischen und neurologischen Apparaten. (Vgl. Damasio 2017, S.39f.)

Dennoch steht Damasios physiologisch begründete Intentionalität in der Tradition eines phänomenologischen Denkens, für das Emotionen und Gefühle schon immer ein zentrales Thema gewesen sind; und sie steht meiner Ansicht nach auch in der Tradition des Plessnerschen Körperleibs, zu dem Damasio mit seinem Fokus auf die Körperchemie und das enterische Nervensystem einiges zu ergänzen und beizutragen weiß. Die Gefühle sind Damasio zufolge der „mentale Ausdruck“ einer die körperlichen Stoffwechselprozesse stabilisierenden und damit das Überleben und das Gedeihen des Organismusses sicherstellenden Homöostase. (Vgl. Damasio 2017, S.14 und S.50f.) Die Homöostase gewährleistet darüberhinaus einen kontinuierlichen Evolutionsprozeß von den „frühen Lebensformen“ hin zu einer bis heute gültigen „außergewöhnlichen Partnerschaft von Körper und Nervensystem“. (Vgl. Damasio 2017, S.14)

Es ist diese „Partnerschaft zwischen Körper und Nervensystem“, die Plessners Körperleib entspricht, nämlich als Gegenüberstellung von Körper und Gehirn, in dem das Gehirn ein Organ unter Organen und gleichzeitig den übrigen Organen als etwas Besonderes gegenübergestellt ist. So schreibt auch Damasio:
„Die Geschichte über die Beziehungen zwischen Körper und Nervensystem muss neu erzählt werden. Der Körper, mit dem wir im Vergleich zu dem hochfliegenden Geist häufig so locker oder geradezu abschätzig umgehen, ist Teil eines ungeheuer komplexen Organismus aus kooperierenden Systemen, die aus kooperierenden Organen bestehen, die aus kooperierenden Zellen bestehen, die aus kooperierenden Molekülen bestehen, die aus kooperierenden Atomen bestehen, die schließlich aus kooperierenden Teilchen aufgebaut sind.“ (Damasio 2017, S.81f.)
„Physiologie der Wertigkeit“ (Hervorhebung DZ) meint, daß die Gefühle als mentaler Ausdruck der Homöostase uns über den inneren Zustand unseres Organismusses unterrichten. Alles, was im Organismus vor sich geht, wird von ihnen als gut oder als schlecht bewertet, als dem Überleben und Gedeihen förderlich oder hinderlich:
„Die Wertigkeit übersetzt den Lebenszustand unmittelbar von Augenblick zu Augenblick in mentale Begriffe.“ (Damasio 2017, S.120)
Die Wertigkeit ist Damasio zufolge „das definierende Element der Gefühle“. (Vgl. Damasio 2017, S.120) Letztlich vermittelt sie uns „ein Gefühl der Existenz“:
„Das vollständige Fehlen von Gefühlen wäre eine Aufhebung des Seins.“ (Damasio 2017, S.118)
Es gibt vor allem zwei Gruppen von Gefühlen, von denen die einen zur alten Innenwelt und die anderen zur neuen Innenwelt gehören. (Vgl. Damasio 2017, S.97f.) Zur alten Innenwelt zählt Damasio Herz, Lunge, Darm und Haut und die glatte Muskulatur; die zu ihr gehörenden Gefühle vermitteln uns Informationen vom Inneren unseres Organismusses. Zur neuen Innenwelt zählt er das Knochenskelett, die daran haftende quergestreifte Muskulatur und die darin eingebetteten „Sinnesportale“, also die klassischen Sinnesorgane, die uns Informationen von der Außenwelt vermitteln. (Vgl. Damasio, S.98ff., 147, 168, 178)

Diese Signalübermittlung funktioniert in beiden Innenwelten auf völlig verschiedenen Wegen; beide Innenwelten stehen aber in Wechselwirkung zueinander. In der alten Innenwelt beruht die Signalübermittlung auf chemischen Prozessen und auf dem enterischen Nervensystem, das Ähnlichkeiten mit den Nervennetzen von niederen Organismen wie etwa der Hydra hat (vgl. Damasio 2017, S.73ff.). Das enterische Nervensystem wird von Neurowissenschaftlern auch gerne als „zweites Gehirn“ bezeichnet. Damasio zieht es allerdings vor, vom „ersten Gehirn“ zu sprechen, weil es älter ist als das zentrale Nervensystem. (Vgl. Damasio 2017, S.74 und S.156f.) Außerdem ist es vom zentralen Nervensystem völlig unabhängig:
„Das Zentralnervensystem gibt an das enterische System keine Anweisungen, was es tun oder wie wie es sich verhalten soll, kann aber dessen Tätigkeit beeinflussen. Kurz gesagt, besteht ein ständiges ‚Zwiegespräch‘ zwischen enterischem Nervensystem und Zentralnervensystem, der Kommunikationsfluss verläuft größtenteils vom Darm zum Gehirn.“ (Damasio 2017, S.156)
Mithilfe des enterischen Nervensystems, aber auch über im Blut zirkulierende chemische Moleküle gelangen Informationen über den inneren Zustand des Organismusses direkt ins Gehirn. Nicht alle Teile des Gehirns sind durch die Blut-Hirn-Schranke vom Rest des Körpers abgetrennt. (Vgl. Damasio 2017, S.148) Zu diesen Bereichen gehören die „Area postrema“ auf der Ebene des Hirnstamms, die zirkumventrikulären Organe im Endhirn und die Spinalganglien:
„Diesem Befund zufolge übertragen die Neuronen selbst zwar periphere Signale an das Zentralnervensystem, sie sind mit dieser Tätigkeit aber nicht allein. Vielmehr haben sie Hilfe: Sie werden unmittelbar von Molekülen beeinflusst, die im Blut kreisen.“ (Damasio 2017, S.152)
Zu den Neuronen, die Informationen über den inneren Zustand an das Gehirn übermitteln, gehören die „C-Fasern“ des enterischen Nervensystems, die sich von Axonen des zentralen Nervensystems anatomisch unterscheiden: sie sind nicht myelinisiert. Die Myelinschicht um die Neuronen der neuen Innenwelt herum sorgt für eine effektive Isolierung der Fasern, so daß der bio-elektrische Prozeß beschleunigt wird:
„Myelin ist eine wichtige Errungenschaft der Evolution. es isoliert die Axone und schafft die Möglichkeit, dass sie Signale sehr schnell übertragen, weil am Axon entlang keine elektrischen Ströme verloren gehen. Unsere Wahrnehmung der Umwelt – was wir sehen, hören und berühren –, befindet sich nun in den gut isolierten, schnellen, sicheren Händen der myelinisierten Axone.“ (Damasio 2017, S.153)
Die nicht-myelinisierten Fasern des enterischen Nervensystems sind also langsamer. Nun könnte man natürlich sagen, sie seien veraltet wie etwa der Blinddarm. Damasio hingegen glaubt, daß die C-Fasern nicht myelinisiert sind, weil sie so für die Physiologie der Wertigkeit funktionaler sind:
„Unmyelinisierte Fasern bieten tatsächlich Voraussetzungen, die für die Erzeugung von Gefühlen so unentbehrlich sind, dass die Evolution es sich nicht leisten konnte, die kostbarsten Kabel zu isolieren und diese Gelegenheiten fahren zu lassen.“ (Damsio 2017, S.154)
Damasio vergleicht die C-Fasern mit den Saiten von Streichinstrumenten. Sie können über ihre ganze Länge ‚gezupft‘ werden. Außerdem ermöglichen sie noch einen weiteren neurologischen Effekt, der den isolierten Neuronen des zentralen Nervensystems fehlt:
„Da ihnen die Isolierung fehlt, können nebeneinander angeordnete unmyelinisierte Fasern – und wenn sie einen Nerv bilden, sind sie zwangsläufig nebeneinander angeordnet – elektrische Impulse durch einen Prozess übertragen, der unter dem Namen der Ephapse bekannt ist. Dabei werden die Impulse seitlich in einer Richtung weitergegeben, die im rechten Winkel zum Verlauf der Faser steht.“ (Damasio2017, S.154)
Auf diese Weise können C-Fasern die Signalübermittlung untereinander verstärken.

Damasios Blick auf die menschliche Physiologie ist also nicht wie bei den anderen Neurowissenschaftlern auf das Gehirn als das angeblich alles überragende und dominierende Steuerungsorgan beschränkt. Über die Gefühle und ihre Physiologie reicht das Bewußtsein weit in die automatischen, unserer wachen Aufmerksamkeit entzogenen Bereiche des Körpers hinein. In diesem Zusammenhang macht es keinen Sinn mehr, zwischen ‚veralteten‘ und ‚modernen‘ Organen zu unterscheiden. Insofern macht Damasios Kontinuitätspostulat Sinn; zumindest auf organischer Ebene.

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Freitag, 1. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

In seinem Buch „Im Anfang war das Gefühl“ (2017) präsentiert der portugiesische Neurobiologe Antonio Damasio seine Sicht auf die Evolution von Bewußtsein und Kultur. Zwei Aspekte sind dabei aus der Perspektive des Rezensenten besonders bemerkenswert: zum einen distanziert sich Damasio entschieden von seinen neurowissenschaftlichen Kollegen, die bis heute das menschliche Bewußtsein in spezifischen Bereichen des Gehirns, insbesondere der Großhirnrinde zu lokalisieren versuchen und auf diese Weise mentale Phänomene einschließlich der menschlichen Kultur auf neuronale Strukturen reduzieren:
„Über das mentale Leben ... wird häufig so berichtet, als wären sie ausschließlich Produkte des Gehirns. In solchen Berichten ist das Nervensystem von Anfang bis Ende der große Held, aber das ist eine grobe, übermäßige Vereinfachung und ein Missverständnis. Es hört sich an, als wäre der Körper nur ein Zaungast, ein Gerüst für das Nervensystem, das Gefäß, in dem das Gehirn liegt. ... In den traditionellen Erklärungen, die das Nervensystem, das Gehirn oder sogar nur die Großhirnrinde in den Mittelpunkt stellen, fehlt aber die Tatsache, dass Nervensysteme zu Beginn ihres Daseins die Helfer des Körpers waren ...“ (Damasio 2017, S.80f.)
Hier befindet sich Damasio übrigens im Widerspruch zu „Selbst ist der Mensch“ (2011), wo er noch „mit voller Absicht“ das Gehirn als Akteur thematisiert. (Vgl. Damasio 2011, S.185)  Wie aus der gerade zitierten Textstelle seines aktuellen Buches deutlich wird, hält Damasio jetzt aber den menschlichen Körper – also, wenn man vom Gehirn absieht, den ‚Rest‘ des Organismusses – ganz und gar nicht bloß für den „Zaungast“ der Entscheidungen eines einsam handelnden Gehirns. Tatsächlich bildet der menschliche Körper nicht einfach nur den „Nährboden“ für das Gehirn, sondern er bildet das „Substrat“ der Gefühle (vgl. Damasio 2017, S.229f.), jenes mentalen Moments also, um das es zentral in seinem Buch geht. Die Gefühle sind Damasio zufolge älter als das Nervensystem und basieren zu einem großen Teil auf Chemie, also auf vom zentralen Nervensystem unabhängigen Stoffwechselprozessen im menschlichen Körper. Sie haben einen weitgespannten biologischen Hintergrund, in den sie in Form emotiver Reaktionen auf spontane oder provozierte Veränderungen des Organismusses eingebettet sind. In Wechselwirkung mit dem Nervensystem entstehen dann die im engeren Sinne mentalen Phänomene, die Damasio ‚Gefühle‘ nennt:
„Gefühle wurden nicht allein vom Gehirn hervorgebracht, sie sind vielmehr das Ergebnis einer partnerschaftlichen Kooperation von Körper und Gehirn, die mittels ungehindert fließender chemischer Moleküle und Nervenbahnen in Wechselbeziehung stehen.“ (Damasio 2017, S.20)
Damit kommen wir zum zweiten Aspekt, der für mich besonders interessant ist: Damasio versteht den menschlichen Körper – auch wenn er das Wort nicht explizit verwendet – ähnlich wie Plessner als ‚Körperleib‘. Körper und Gehirn bzw. Gefühle und Gehirn sind Partner, die nur zusammen funktionieren. Dabei bildet anders als bei Plessner bei Damasio aber nicht der Stoffwechsel, sondern die Homöostase die Grundlage dieser Partnerschaft. Gefühle und Gehirn haben dasselbe grundlegende Ziel, die Lebensfunktionen des menschlichen Organismusses im Gleichgewicht zu halten:
„Homöostase ist die leistungsfähige, ungedachte, unausgesprochene Notwendigkeit, deren Verwirklichung für alle Lebewesen, ob groß oder klein, nichts weniger ist als die Voraussetzung für ihr Bestehen und Gedeihen. ... (Sie) sorgt dafür, gewährleistet, dass das Leben innerhalb eines Bereichs reguliert wird, der nicht nur mit dem Überleben verträglich ist, sondern auch dem Gedeihen dient und eine Fortsetzung des Lebens in der Zukunft eines Organismus oder einer Spezies ermöglicht.“ (Damasio 2017, S.34)
Der Unterschied zwischen Damasio und Plessner, die Homöostase oder den Stoffwechsel ins Zentrum ihres jeweiligen Konzepts vom Körperleib zu stellen, geht darauf zurück, daß Plessner mit dem Stoffwechsel die Differenz zwischen Innen und Außen hervorhebt. Mit dieser Differenz geht Plessner zufolge nicht nur eine Diskontinuität der individuellen Intentionalität zur Umwelt bzw. Außenwelt, sondern auch des Individuums mit sich selbst einher: der Mensch wird sich seiner selbst bewußt und ist fortan mit sich selbst nicht mehr identisch.

Diese Pointe des menschlichen Selbstbewußtseins auf der Grenze zwischen Innen und Außen, die sich schon über den Stoffwechsel anbahnt, fehlt bei Damasio. Mit dem Homöostasebegriff zielt Damasio vor allem auf die Erhaltung von Gleichgewichtszuständen ab, die das Überleben des individuellen Organismusses sicherstellen. Auch das menschliche Bewußtsein dient Damasio zufolge allererst diesem Ziel. Auf das Selbstbewußtsein mit allen seinen Implikationen von Negativität und Reflexivität kommt er nirgendwo in seinem Buch zu sprechen. Es ist allererst die Homöostase, die einen Stoffwechsel ermöglicht, indem sie ihn stabilisiert. Erst so wird der Stoffwechsel zur „Triebkraft der Evolution“. (Vgl. Damasio 2017, S.54) Zugleich steuert die Homöostase, d.h. die aus der Erhaltung des Gleichgewichts hervorgehenden Notwendigkeiten, die „natürliche Selektion“ (vgl. ebenda), so daß Selektion und Mutation keine Zufallsereignisse bilden, sondern auf ein Ziel ausgerichtet sind. Die Homöostase bildet den „Wert hinter der natürlichen Selektion“, die ihr als Mittel zur beständigen Optimierung des Lebens dient. (Vgl. Damasio 2017, S.35)

Bei Damasio herrscht also der Kontinuitätsgedanke vor: die Kontinuität zwischen Biologie und Kultur und die Kontinuität zwischen Biologie und Bewußtsein. Damasio spricht nicht einfach von einem Körperleib, mit dem wir uns nach Plessner auch im Streit befinden können, sondern im Gegenteil von einer „Verschmelzung von Körper und Gehirn“. (Vgl. Damasio 2017, S.145)

Damasios Verwendung des Wortes ‚Verschmelzung‘ hat gute phänomenologische Gründe. Er weist damit auf den Unmittelbarkeitscharakter unserer Gefühle hin, wie sie vom Körper erzeugt und dem Gehirn ‚bewußt‘ werden:
„Es geht mir darum, dass im Erlebnis des Fühlens nur eine geringe oder gar keine anatomische und physiologische Distanz zwischen dem Objekt, das den entscheidenden Inhalt erzeugt, dem Körper(,) und dem Nervensystem besteht, das traditionell als Empfänger und Verarbeiter der Informationen betrachtet wird. Beide Seiten, Objekt/Körper und Verarbeiter/Gehirn, hängen natürlich zusammen und gehen auf vielerlei unerwartete Weise ineinander über.“ (Damasio 2017, S.145f.)
Aber obwohl Damasio den phänomenalen Charakter von Gefühlen korrekt beschreibt und den Informationsbegriff in diesem Zusammenhang zurecht kritisiert – Gefühle sind keine Informationen, sondern Werte –, hindert ihn sein Fokus auf diese mentalen Phänomene daran, die eigentliche Differenz des menschlichen Bewußtseins als Selbstbewußtsein zu erkennen. Dennoch muß man anerkennen, daß Damasios „Physiologie der Wertigkeit“ (Damasio 2017, S.145) eine bemerkenswerte Variation zum phänomenologischen Thema der Intentionalität darstellt. An die Stelle der Plessnerschen Anatomie des Körperleibs setzt Damasio eine Evolution der Physiologie, die bei den kernlosen Einzellern (Prokaryonten) beginnt (vgl. Damasio 2017, S.39f.) und von dort zu den zentralisierten Steuerungsmechanismen von genetischen und neurologischen Apparaten, den Zellkernen und Gehirnen, voranschreitet. Zwar spielt bei Damasio anders als bei Plessner die Differenz von Innen und Außen nicht die zentrale Rolle in der Bewußtseinsentwicklung des Menschen; aber dafür liefert er eine bemerkenswerte Differenzierung der Innenwelt in eine alte und eine neue Innenwelt:
„Im Inneren unseres Organismus gibt es zweierlei Welten. Wir können sie als die alte und die nicht so alte Welt bezeichnen.“ (Damasio 2017, S.97)
Die alte Innenwelt entspricht dem, was Plessner als „Zustand“ bezeichnet. Sie besteht aus den „Kernbestandteile(n) der Gefühle“ und wird weitgehend durch chemische Prozesse bestimmt. (Vgl. Damasio 2017, S.88f., 97) Hinzu kommt das enterische Nervensystem, das anatomisch ganz anders funktioniert als das moderne Nervensystem (die weniger alte Innenwelt), weil seine Fasern nicht oder nur wenig myelinisiert sind. (Vgl. Damasio 2017, S.74f., 152ff.) Ich werde darauf im folgenden Blogpost detaillierter zu sprechen kommen. Plessner bezeichnet die Instrumente der chemischen Nachrichtenübermittlung der alten Innenwelt als „Zustandssinne“.

Die weniger alte bzw. ‚moderne‘ Innenwelt besteht aus dem Skelettgerüst, der quergestreiften Muskulatur, den klassischen Sinnesorganen, die Plessner als „Gegenstandssinne“ bezeichnet, und natürlich aus dem modernen ‚zentralen‘ Nervensystem mit seinen durchgehend myelinisierten Nervenfasern. (Vgl. Damasio 2017, S.93, 97f., 102, 178, 153) Sie stellen die Verbindung zur Außenwelt her.

Beide Innenwelten stehen nun in einem interessanten Verhältnis zueinander, das man als ‚pathische Apperzeption‘ bezeichnen könnte. Immanuel Kant hatte als Grundmerkmal des menschlichen Bewußtseins postuliert, daß wir alle unsere Wahrnehmungen und Empfindungen mit einem „Ich denke“ begleiten können müssen. Er nannte das „transzendentale Apperzeption“. Damasio behauptet dasselbe von den Gefühlen. Die Bilder, die uns mit den Mitteln der weniger alten Innenwelt von der Außenwelt geliefert werden, müssen immer zugleich auch von ‚Bildern‘, sprich Gefühlen, aus beiden Innenwelten begleitet werden, damit sie uns bewußt werden können; und ‚bewußt werden‘ heißt wiederum, daß wir sie als unsere eigenen Wahrnehmungen in Besitz nehmen können.
„So gut wie jedes Bild in der großen Prozession, die wir Geist nennen, hat von dem Augenblick, in dem ein Element erstmals ins Rampenlicht der Aufmerksamkeit gerät, bis zu dem Zeitpunkt, da es die Bühne wieder verlässt, ein Gefühl an seiner Seite. ... Unter normalen Bedingungen gibt es kein Sein im eigentlichen Sinn des Wortes ohne das spontane, mentale Erlebnis des Lebens, ein Gefühl der Existenz. ... Das vollständige Fehlen von Gefühlen wäre eine Aufhebung des Seins.“ (Damasio 2017, S.118)
Als Beispiel verweist Damasio auf die Filmtechnik, in der die beweglichen Bilder von einer Tonspur begleitet werden; der innere ‚Film‘ besteht ebenfalls aus (mindestens) zwei Spuren, wobei die Tonspur aus einer Gefühlsspur besteht, die die von den Sinnesorganen gelieferten Außenweltbilder – die andere Spur – begleitet. (Vgl. Damasio 2017, S.93, 105)

Tatsächlich besteht dieser ‚Film‘, also das mentale Erleben, nicht nur aus zwei, sondern aus vielen ‚Spuren‘, weil nämlich unser ‚Geist‘ kein „Monolith“ ist, wie Damasio schreibt, sondern zusammengesetzt aus den vielen Organen und Organsystemen des menschlichen Körpers sowie aus den Narrativen und Schemata einer die biologische Evolution begleitenden sprachlich-kulturellen Evolution. (Vgl. Damasio 2017, S.167f.) Für diesen zusammengesetzten Geist verwendet Damasio ein wunderbares Bild, das man auch schon aus seinen früheren Büchern kennt: das Orchester. Das wache, aufmerksame, menschliche Bewußtsein bildet ein aus vielen ‚Instrumenten‘ zusammengesetztes Orchester, und die mentalen Erlebnisse bilden wiederum die Musik, die von diesem Orchester gespielt wird:
„Wer sind eigentlich die Musiker in diesem imaginären Orchester? Die Antwort: Die tatsächlich vorhandenen oder aus dem Gedächtnis abgerufenen Gegenstände und Ereignisse in der Welt rund um unseren Organismus, und auch die Objekte und Ereignisse der Innenwelt.“ (Damasio 2017, S.101)
Die Instrumente wiederum, mit denen die Musiker spielen, bestehen aus zwei Gruppen: „aus den wichtigsten Sinnesvorrichtungen, mit deren Hilfe die Welt außer- und innerhalb eines Organismus mit dem Nervensystem in Wechselbeziehung tritt“ und aus den „Vorrichtungen, die ständig emotiv auf die mentale Gegenwart jedes einzelnen Objekts oder Ereignisses reagieren“. (Vgl. Damasio 2017, S.101)

Es fällt auf, daß Damasio im Unterschied zu seinen früheren Büchern an dieser Stelle nur von den Musikern und von den Instrumentengruppen spricht, aber den Dirigenten nicht erwähnt. Ursprünglich hatte Damasio den Dirigenten als jemanden beschrieben, der pünktlich zur Aufführung vor dem Orchester erscheint und nach dem Ende wieder verschwindet, ohne daß jemand weiß, woher er kam und wohin er geht. (Vgl. „Selbst ist der Mensch“ (2011), S.35) Dieser Beschreibung entspricht die Funktion eines Selbstbewußtseins, das über bloße Bewußtheit hinaus geht. In seinem aktuellen Buch geht Damasio nicht mehr darauf ein.

Damasios Desinteresse am Selbstbewußtsein in seinem aktuellen Buch macht sich auch an der diffusen Begrifflichkeit von ‚Gefühl‘, ‚Bewußtsein‘ und ‚Geist‘ bemerkbar. Das Bewußtsein wird von Damasio vor allem als „Subjektivität“ und als „integriertes Erleben“ thematisiert. (Vgl. Damasio 2017, S.165ff.) Mit der „Subjektivität“ ist wiederum vor allem die subjektive Inbesitznahme von Erlebnissen und Wahrnehmungen gemeint, die ich weiter oben als pathische Apperzeption bezeichnet habe. Gegenüber den beiden Entwicklungslinien der Biologie und der Kultur spielt bei Damasio diese individuell-subjektive Ebene keine eigenständige Rolle, auch wenn er die Subjektivität selbst durchaus hoch einschätzt. (Vgl. Damasio 2017, S.171f.) Er räumt ihr aber keine eigenständige Entwicklungslinie ein.

Dem Geist hingegen schon. Ihn setzt Damasio mit der kulturellen Entwicklungslinie gleich, zu der die Individuen ihren subjektiven, aber insgesamt nur untergeordneten Beitrag leisten. Auch an dieser Stelle befindet sich Damasio im Widerspruch zu „Selbst ist der Mensch“ (2011), wo er die Bereiche, die er im aktuellen Buch dem Gefühl zuordnet, als dynamische Momente des Geistes beschreibt. (Vgl. Damasio 2011, S.37f.) Es fehlt eine klare begriffliche Differenzierung zwischen ‚Gefühlen‘ und ‚Geist‘. Es fehlt die individuelle Komponente zwischen der biologischen und der kulturellen Dynamik.

In seinem aktuellen Buch haben wir es also insgesamt nur mit zwei Entwicklungslinien zu tun, der biologischen, an derem Ende das Gehirn steht, und einer kulturell-geistigen Entwicklungslinie:
„Das Gehirn, mit dessen Hilfe die Menschen kulturelle Ideen, Praktiken und Instrumente erfanden, wurde durch genetische Vererbung zusammengefügt und unterlag über Jahrmillionen hinweg der natürlichen Selektion. Der kulturelle Geist der Menschen und die Menschheitsgeschichte dagegen wurden im Wesentlichen mit kulturellen Mitteln an uns weitergegeben und vorwiegend durch kulturelle Selektion gestaltet.“ (Damasio 2017, S.40)
Während Damasio bei den bewußten Gefühlen immer wieder die weitgehende Unabhängigkeit vom zentralen Nervensystem hervorhebt, bildet in diesem Zitat das Vorhandensein eines Gehirns die Voraussetzung für Kultur, und zugleich wird der Geist vor allem als kultureller Geist prädiziert, der, an anderer Stelle, mit einer eigenen überindividuellen „kreativen Intelligenz“ ausgestattet wird, die Damasio ausdrücklich von der „Schlauheit“ abgrenzt, „mit der sich zahlreiche Lebewesen einschließlich dem Menschen im Alltagsleben effizient, schnell und vorteilhaft verhalten können“. (Vgl. Damasio 2017, S.86) Diese ‚Schlauheit‘ ist also bloß etwas Individuelles, während der Geist mit seiner kreativen Intelligenz über diese Begrenzung weit hinausgeht.

Wenn dieser „Geist“ dennoch auch etwas mit der individuellen Selbstreflexion zu tun hat, dann als neurologische und kulturelle Bühne, auf der Bilder und Narrative erfunden und inszeniert werden:
„Im Theater unseres Geistes – unserem eigenen Cartesianischen Theater, warum denn nicht – ist der Vorhang hochgezogen; die Schauspieler stehen auf der Bühne, sprechen und bewegen sich; die Scheinwerfer sind ebenso eingeschaltet wie die Geräuscheffekte, und nun kommt der entscheidende Teil der Szene: Es gibt ein Publikum, nämlich uns selbst. ...  gelegentlich haben wir unter Umständen sogar das Gefühl, dass ein anderer Teil von uns, nun ja, das Ich beobachtet, während dieses die Aufführung beobachtet. “ (Damasio 2017, S.166)
Es ist diesem ‚Bild‘ eines cartesianischen Theaters geschuldet, daß Damasio immer wieder in die Homunkulusproblematik abrutscht: ein Beobachter beobachtet etwas und wird dabei selbst beobachtet. Damasio selbst weist dieses Problem von sich. Er glaube nicht, „dass in jedem Gehirn ein kleines Du oder Ich sitzt, das die Erlebnisse hat“:
„Kein Homunculus, kein Homunculus im Homunculus, keine unendliche Regression der philosophischen Legende.“ (Damasio 2017, S.167)
Im Folgenden werden wir sehen, daß es der fehlenden Differenzierung zwischen Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Geist und dem Desiderat einer eigenständigen individuellen Entwicklungslinie geschuldet ist, wenn man ihm diesen Vorwurf dennoch nicht ersparen kann.

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