„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 2. Juni 2019

Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018

1. Fragmentierte Geschichtlichkeit
2. Traumata und Anachronismen

Christopher Clark fragt sich, ob es auf kollektiver Ebene mit der „gewaltsame(n) Zerstörung“ von „Machtstrukturen“ verbundene Traumata gibt, aus denen sich, ähnlich wie die zwanghaften Wiederholungsmuster auf individueller Ebene, „Narrative um eine rekursive und wiederholende ‚Zeitlichkeit des Traumas‘ herum“ bilden können. (Vgl. Clark 2018, S.235) Entsprechende Traumata in der deutschen Geschichte macht Clark an den in seinem Buch analysierten Epochen fest:
„Die Herrschaft des Kurfürsten war eine Flucht nach vorn, weg vom Chaos des Dreißigjährigen Krieges. Das Trachten Friedrichs II. nach Stasis basierte zum Teil auf seiner Sexualität und seiner Kindheitserfahrung. Bismarcks bipolare Geschichtlichkeit stützte sich auf seine ambivalente Wahrnehmung der Revolutionen von 1848. Und die tausendjährige Zeitlichkeit des Nationalsozialismus stand für eine einzigartige Zeitlichkeit des ‚Schreckens der Geschichte‘, den die Krise von 1918/19 ausgelöst und den Mircea Eliade voller Mitgefühl diagnostiziert hatte.“ (Clark 2018, S.236f.)
Ähnliche traumatisierende Geschichtsdaten findet Clark auch in der französischen Geschichte: 1815, 1871, 1914, 1940, wo wir es ausschließlich mit verlorenen Kriegen oder mit dem Erleiden von Angriffskriegen zu tun haben. (Vgl. Clark 2018, S.235) Bei den deutschen Geschichtsdaten handelt sich allerdings nur zur Hälfte um Kriege. Im Falle Friedrichs II. haben wir es nicht mit einem kollektiven, sondern mit einem individuellen Trauma zu tun. Und im Falle der 1848er Revolution stellt sich die Frage, ob man sie wirklich als Trauma bezeichnen kann. Schließlich haben wir es hier mit einem ersten zwar gescheiterten Experiment in Sachen Demokratie zu tun, das aber dennoch vor allem als positives Geschichtszeichen gewertet werden sollte.

Unbestreitbar ist jedoch, daß wir es bei dem Ersten Weltkrieg mit einer kulturellen Erschütterung epochalen Ausmaßes zu tun haben. Viele deutsche Intellektuelle, Wissenschaftler und Philosophen wandten sich 1918/19 von der dominanten aufgeklärten Tradition einer kontinuierlichen Fortschrittserzählung Hegelscher Prägung ab. Und hier haben wir tatsächlich eine Parallele zu unserer heutigen Gegenwart, wo auch wieder die Zahl der Rechtsintellektuellen ansteigt, die sich von den nach 1945 restaurierten humanistischen Werten verabschieden und auf verschiedene Weise ein Ende des Menschen verkünden, ausgerechnet zu einer Zeit, wo Geologen vom „Anthropozän“ sprechen, also von geologische Zeiträume umfassenden, den ganzen Planeten prägenden Hinterlassenschaften der menschlichen Kultur.

Zwei von Clark angesprochene Momente sind es, die den Rezensenten aufmerken lassen: einmal der apokalyptische Ton, der Verkündigungscharakter dieser, das Wiederaufleben rechtsextremer Strömungen unterstützenden Zeitgenossenschaft, und zum zweiten der Fokus auf das kulturelle ‚Erbe‘, also auf Trümmerlandschaften; in unserem Fall auf den Müll, das atomare und chemische Gift mit seinen gigantischen Dimensionen.

Schon Hitler schwärmte vor allem von den römischen Ruinen, die die Zeit überdauerten, und wollte sogar das nationalsozialistische Deutschland mit solchen kolossalen Bauwerken ausstatten, nicht etwa, um das Leben der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zu bereichern und zu beglücken, sondern um für eine Zeit, in der es keine Deutschen mehr geben würde, Erinnerungszeichen zu setzen:
„‚Die Architektur‘, merkt Eric Michaud in einer Formulierung an, die trefflich das Befremdliche dieser Vision einfängt, ‚sollte das deutsche Volk zu einem gemeinsamen Schicksal treiben, indem sie seine wahre Größe in Grabmonumenten enthüllte.‘()“ (Vgl. Clark 2018, S.224)
Zu dieser Vorliebe für eine Friedhofsarchitektur gehörte auch Hitlers Neigung zu einer Rhetorik, in der Endzeitszenarien beschworen wurden:
„Die traditionelle Vorliebe von Prophezeiungen für finale Zustände, für den Entwurf und die Verwirklichung von Endzeitszenarien prägte auch den Wortschatz des nationalsozialistischen Kampf- und Vernichtungsapparats: ‚Endkampf‘, ‚Endlösung‘, ‚Endsieg‘.“ (Clark 2018, S.224)
Hier wird noch einmal deutlich, wie ähnlich sich Heideggers Philosophie und Hitlers Politik sind. Nicht umsonst beinhaltet der Gedanke des „Seins zum Tode“ eine Zeitlichkeit, die eine erfüllte Lebendigkeit auf den Tod hin orientiert und sich dabei weigert, überhaupt noch vom ‚Menschen‘ zu sprechen. Und auch Heidegger vermied das Argument und die Analyse als Instrumente eines aufklärerischen Diskurses und bevorzugte die Prophetie als Mittel der Manipulation. (Vgl. meinen Blogpost vom 01.10.2017)

Dennoch kommt in dieser rechtsintellektuellen bis faschistoiden Konsequenz eine antiaufklärerische Zeitströmung zum Ausdruck, die zugleich eine kapitalismus- und technologiekritische Einsicht beinhaltet, die selbst nicht einfach mit einem amoralischen Antihumanismus gleichgesetzt werden darf. Anachronismus ist nicht gleich Anachronismus. Es gibt einerseits einen Anachronismus, der den Menschen wieder in sein Recht zu setzen versucht; und es gibt andererseits eine als Post- bzw. Transhumanismus auftretende Postmoderne, die sich als fortschrittliche Wissenschaft verkleidet, aber nicht weniger manipulativ ist als der grassierende Rechtspopulismus. Epochenbegriffe wie ‚Aufklärung‘ und ‚Moderne‘ machen deshalb zunehmend weniger Sinn:
„Mit Blick auf die Fülle der parallelen Geschichtlichkeiten (im Westen erleichtert durch die reduzierte Rolle des Staates bei der Konturierung der vorherrschenden Temporalitäten) und auf die beschleunigte Zersplitterung und den Wechsel der Erwartungshorizonte hat Jenny Andersson behauptet, dass die ‚großen Veränderungen‘, die Koselleck für die neuzeitliche Epoche umriss, nach der Zäsur von 1945 ‚nicht viel Sinn ergeben‘.() Das eigentlich Erstaunliche an dieser Epoche ist jedoch mit Sicherheit die Langlebigkeit des modernistischen Paradigmas als solchem. Die Idee, dass Geschichte sich immer noch in ein lineares Narrativ der ‚Modernisierung‘ einbetten ließ, überlebte die Enttäuschung über die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der Modernisierung.“ (Clark 2018, S.240)
So findet sich eine fortschrittskritische Einstellung nicht nur bei Alt- und Neonazis, sondern eben auch bei des Faschismusses unverdächtigen Denkern wie Fernand Braudel (1902-1985) und Mahatma Gandhi (1869-1948). Der Braudelsche Begriff der longue durée, der langen Dauer, „war als Gegensatz zu einer ereignisbasierten oder politischen Geschichte gedacht, die eine kurze Zeitspanne bevorzugt“. Sie bildete eine „Zuflucht vor dem unruhigen Treiben der Geschichte“. (Vgl. Clark 2018, S.235) Dieser Gedanke einer langen Dauer bildet für unsere heutige innovationssüchtige Zeit natürlich eine Provokation.

Zu Gandhi schreibt Clark:
„Mahatma Gandhis Hind Swaraj oder indische Selbstregierung, das er 1910 verfasste, um der terroristischen Politik radikaler Exil-Inder entgegenzutreten, zeigt eine ähnliche Verknüpfung. In diesem Schlüsseltext  verwirft Gandhi die Geschichte als bloßes ‚Dokument der Kriege in dieser Welt‘, in der kein Platz für eine generationsübergreifende Kontinuität der Seelenkraft sein könne. Geschichte war dieser Lesart zufolge ‚ein Dokument vielfältiger Unterbrechungen des gleichmäßigen Wirkens der Macht der Liebe‘ und damit auch des ‚Verlaufs der Natur‘. Sie war das Instrument, mit dem die Engländer versuchten, den Indern dauerhaft ihre eigene kulturelle Unterlegenheit vor Augen zu führen.()“ (Clark 2018, S.235f.)
Clark zieht deshalb ein für den Rezensenten, der sich seines eigenen Anachronismusses durchaus bewußt ist, erfreuliches Fazit:
„Das soll keineswegs heißen, dass der gewaltlose Antinationalist Gandhi oder überzeugte Demokrat Fernand Braudel in die Nähe der NS-Bewegung gerückt werden müssten!“ (Clark 2018, S.236)
Dieses Fazit gilt für anachronistische Tendenzen weltweit, für Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, „der nur Katastrophen erkennt, wo wir das Narrativ der Geschichte sich entfalten sehen“, wie auch für die „gewaltigen Unruhen der großen Revolution des 19. Jahrhunderts“ in China, die „eine überstürzte Hinwendung zur ‚modernen‘ linearen Zeit nach westlichem Muster“ auslösten. (Vgl. Clark 2018, S.236f.) Die jeweiligen konkurrierenden Geschichtlichkeitsregime als solche lassen sich nicht in ein binäres Schema von ‚gut‘ oder ‚böse‘ pressen. In der „Pluralität gleichzeitig bestehender Zeitlandschaften“ (Clark 2018, S.227) sollte immer die Frage nach dem Menschen im Vordergrund stehen. Denn ob wir nun den Humanismus selbst als ein weiteres Geschichtlichkeitsregime denunzieren oder ob er im Gegenteil technologiekritisch gewendet werden muß, wie ich es in diesem Blog vertrete: letztlich geht es nicht um eine ideologische Position, um einen weiteren ‚-ismus‘, sondern um die Zukunft des Menschen.

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Samstag, 1. Juni 2019

Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018

1. Fragmentierte Geschichtlichkeit
2. Traumata und Anachronismen

Christopher Clark, der Autor von „Die Schlafwandler“ (2012/2013), Professor für Neuere Geschichte am St. Catherine’s College in Cambridge, gibt seinem neuen Buch, „Von Zeit und Macht“ (2018), einen Titel, der nicht von ungefähr an Heideggers „Sein und Zeit“ erinnert, obwohl dieser nur an zwei Stellen kurz erwähnt wird und insgesamt keine große Rolle in diesem Buch spielt. (Vgl. Clark 2018, S.13 und S.17) Immerhin führt Clark einen der für sein Buch zentralen Begriffe, die „Zeitlichkeit“, auf Heidegger zurück. (Vgl. Clark 2018, S.17)

Clarks Verweis auf Heidegger beinhaltet zumindest das Eingeständnis, daß wir es hier trotz des machtpolitischen Fokusses auf zwei Monarchen, einen Staatsmann und eine gleichermaßen staats- wie menschenfeindliche Partei mit einem phänomenologischen Thema zu tun haben, nämlich mit „Veränderungsprozesse(n) ohne Akteur“ (vgl. Clark 2018, S.232); genauer: mit einer zwischen mal mehr pragmatischen, mal mehr reflektierten Selbstverortungen im „Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ und einem ungewissen, eher lebensweltlichen, intuitiv erfaßten „Zeitgefühl“ changierenden „Chronopolitik“ (vgl. Clark 2018, S.9 und S.25).

An den vier Machtzentren, mit denen sich Christopher Clark befaßt, der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620-1688), Friedrich II. (1712-1786), Otto von Bismarck (1815-1898) und die NSDAP, will er eine „ganz spezifische temporale Signatur“ sichtbar machen. (Vgl. Clark 2018, S.12) Diese ‚Signaturen‘ ergeben sich aus den unterschiedlichen Verschiebungen in den für das ganze Buch zentralen Begriffen der Geschichtlichkeit, der Zeitlichkeit und des Staates in einem rund 300 Jahre umfassenden Zeitraum:
„Zu den vielleicht ungewöhnlichen Merkmalen dieses Buches zählt, dass es eine langfristige Betrachtung bietet, indem es der gleichen angestammten territorialen Einheit (Brandenburg-Preußen) über mehrere aufeinanderfolgende politische Inkarnationen folgt.“ (Clark 2018, S.23)
Mit „Geschichtlichkeit“ meint Clark „keineswegs eine Lehre oder Theorie über den Sinn der Geschichtsschreibung, geschweige denn eine bestimmte Schule der historiographischen Praxis“, sondern eine spezifische aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geformte „Zeitlandschaft“, eine spezifische „Konfiguration“. (Vgl. Clark 2018, S.9) Von solchen Konfigurationen sind kulturelle Epochen und politische Regime geprägt, die mal mehr der Vergangenheit, mal mehr der Zukunft zugewandt sind oder die sich in einer mal dynamischen, mal statischen oder in einer heillos zerrissenen Gegenwart zurechtfinden müssen. Unter „Zeitlichkeit“ wiederum versteht Clark „etwas, das weniger reflektiert und spontaner ist: ein Empfinden des Fortgangs der Zeit“ (vgl. Clark 2018, S.14), also die primär phänomenologische Dimension eines subjektiven Zeitbewußtseins.

Für mich, den Rezensenten, ermöglicht Christopher Clark mit seinem Buch, den eigenen Anachronismus besser zu verstehen. Dazu gehören auch die Gefahren dieses Anachronismusses, wie sie vor allem an der nationalsozialistischen Ablehnung von Staat und Fortschritt deutlich werden. Darauf werde ich im folgenden Blogpost noch zu sprechen kommen.

Der Große Kurfürst
Ein großer Teil seines Lebens und die ersten acht Jahre seiner Regentschaft (1640-1688) waren vom Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) geprägt. Wegen dieses Krieges verbrachte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm einige dieser acht Jahre in Preußen, denn Berlin war nicht sicher genug. Es ist also verständlich, daß die Bewahrung des Westfälischen Friedens (1648) für ihn zur Staatsräson gehörte:
„Er war ein Mann, der sich an Fragen der Macht und Sicherheit orientierte, der nicht zu spekulativen Überlegungen oder zur Erörterung von Grundsatzfragen neigte.() Und ‚Geschichte‘ im heutigen Sinn, ein Abstraktum im Kollektivsingular, das einen allumfassenden, vielschichtigen Transformationsprozess bezeichnet, kannte man damals noch gar nicht. Das Wort hatte noch nicht den Prozess der Erweiterung und ‚Verzeitlichung‘ durchgemacht, der es zu einem der prägenden Begriffe der Moderne machen sollte.()“ (Clark 2018, S.31)
Obwohl der Große Kurfürst also noch keinen eigenen Begriff von Geschichte im heutigen Sinne hatte, hatte er ein sehr genaues und sensibles Gespür für die ständige Gefährdung des status quo, zumal Brandenburg-Preußen noch über keine ständige Armee verfügte und er sich im andauernden Kampf mit den ‚Ständen‘, den Städten und dem Landadel, um Gelder für die Aushebung von Streitkräften befand. Diese Stände waren Vertreter der alten Vorkriegsordnung, denen es vor allem um die Bewahrung ihrer althergebrachten Privilegien ging, während es dem Kurfürsten vor allem darum ging, die nach wie vor unsichere politische Lage zu sondieren und auf militärische Gefahren von gleichermaßen verbündeten wie gegnerischen Mächten sowohl militärisch als auch mit einer flexiblen, wechselhaften Bündnispolitik zu reagieren:
„... der Kurfürst und sein Regime besaßen, wie dieses Kapitel ausführt, etwas Intuitiveres, eine höchst eigenständige und dynamische Form der Geschichtlichkeit, die in dem Gespür dafür wurzelte, dass sich der monarchische Staat an einem exponierten Ort an der Schwelle zwischen einer katastrophalen Vergangenheit und einer Zukunft voller Gefahren befand.“ (Clark 2018, S.31)
Das wichtigste Argument im Kampf gegen die Stände war die „necessitas“, die Notwendigkeit der ständigen Gefahrenabwehr:
„Als der Begriff ‚necessitas‘ radikaler angewendet wurde und sich von einem spontanen Argument für temporäre Eingriffe zu einer allgemeinen Rechtfertigung für dauerhafte Instrumente der Zentralgewalt wandelte (ein neues und umfassenderes Steuerregime, ein stehendes Heer und so weiter), wurde er zugleich zeitlich erweitert. Er bezog sich immer weniger auf eine klare und akute Gefahr und immer stärker auf eine dauerhafte, vorausgreifende Haltung, einen Sicherheitsapparat, der auf künftige Eventualfälle ausgerichtet war.“ (Clark 2018, S.52)
Für den Großen Kurfürsten bildete die ‚Geschichte‘ ein offenes, durch die Vergangenheit nicht vorherbestimmtes Feld von Entscheidungsnotwendigkeiten, aus denen sich wiederum neue Entscheidungsnotwendigkeiten ergaben, so daß die politische Entwicklung auf längere Sicht unvorhersehbar blieb:
„Was den Leser (des Hofgeschichtsschreibers Samuel von Pufendorf (1632-1694) – DZ) an seiner Behandlung internationaler Beziehungen erstaunt, ist die Offenheit der Zwickmühlen, in denen die Staaten steckten. Wie die misslichen Lagen am Ende ausgehen, ist deshalb offen, weil sich das künftige Verhalten anderer Staaten in dem System niemals mit Bestimmtheit vorhersagen lässt. ... Die Interaktion zwischen Mächten im gleichen synchronen Zeitrahmen war exakt die Antithese zu Tradition und Kontinuität, weil die Interessen von Staaten und die dadurch implizierten möglichen Aktionen sich unablässig veränderten. ... die Gesetze, die dieses ‚System‘ lenkten, beschrieben lediglich Prozesse, sie sagten nicht deren Ausgang voraus.“ (Clark 2018, S.75f.)
Unter dem Großen Kurfürsten wurde das kleine, geographisch zerrissene Brandenburg-Preußen zu einer „Zeitmaschine“, „ein Apparat, der Geschichte geschehen“ ließ und die europäische Landschaft nachhaltig umgestaltete. (Vgl. Clark 2018, S.77) Am Ende seiner Regentschaft gab es ein stehendes Heer, und Brandenburg-Preußen war zu einer europäischen Macht geworden, mit der die anderen Großmächte rechnen mußten. Er hatte die an der Vergangenheit orientierten Stände entmachtet und ihrer Privilegien beraubt und sie durch einen zentral organisierten Staat ersetzt.

Friedrich II.
Friedrich II. war der Urgroßenkel des Großen Kurfürsten. Sein Großvater, also der Sohn des Großen Kurfürsten, wurde 1701 zum König gekrönt. Friedrich II. erbte ein konsolidiertes brandenburgisch-preußisches Reich, das als europäische Großmacht galt. Mit seinem Vater hatte Friedrich II aber weniger Glück. Er durchlebte unter seinem „brutalen und sadistischen Vater“ „eine traumatische Kindheit und Jugend“ – der Vater ließ seinen Jugendfreund, der ihm bei einem gescheiterten Fluchtversuch aus dem Einflußbereich seines Vater geholfen hatte, hinrichten –, was ein dauerhaft gebrochenes Verhältnis zur Macht hinterließ. (Vgl. Clark 2018, S.128) Er lehnte es ab, „zusammen mit seinen männlichen Vorfahren bestattet zu werden“, und er weigerte sich, mit der von seinem Vater bestimmten Ehefrau einen dynastischen Nachfolger zu zeugen. (Vgl. ebenda)

Er sah sich auch nicht als zentrale Autorität eines Staates, den er in seiner Person hätte verkörpern sollen, sondern er konzentrierte die Macht auf seine Person selbst:
„Im Gegensatz zum Großen Kurfürsten, der vor allem von seiner (staatlichen – DZ) ‚Souveränität‘ gesprochen hatte, verwies Friedrich häufig auf ‚den Staat‘, den er als transzendente Abstraktion heraufbeschwor; dabei erlebte seine Herrschaft in Wirklichkeit eine dezidierte Personalisierung der Macht.“ (Clark 2018, S.88)
Friedrich II. identifizierte sich mit der Macht, aber nicht mit dem Staat, was, wie Clark schreibt, „auch im zeitlichen Gefüge seiner Herrschaft“ Spuren hinterließ. Denn mit der „rhetorische(n) Selbstdistanzierung von den Strukturen des Staates“ (vgl. Clark 2018, S.88) distanzierte er sich auch von der Vorstellung einer dynamischen, zukunftsoffenen Geschichtlichkeit. Obwohl Friedrich II. zwei Kriege führte und die geopolitische Landschaft Mittel- und Osteuropas energisch und tatkräftig veränderte, zog er sich selbst in eine statische Welt zurück, hielt an künstlerischen Vorlieben seiner Jugend fest und arbeitete an historischen Werken, in denen er das antike Rom mit der Gegenwart verknüpfte, ohne die über tausendjährige Geschichte und ihre historischen Prozesse angemessen zu würdigen:
„Diese intensiv empfundene Wahlverwandtschaft mit dem alten Rom implizierte eine Geschichtlichkeit, die analog und rekursiv statt linear und entwicklungsorientiert war. Türen öffneten sich zwischen der Gegenwart und einer alten Vergangenheit; die Zeit war um die Analogie zwischen zwei verschiedenen Epochen herum gefältet; die Tyrannei der jüngsten Vergangenheit über die zeitgenössische Erfahrung, die für Pufendorf und den Großen Kurfürsten so axiomatisch gewesen war, wurde relativiert, wenn nicht ganz aufgehoben.“ (Clark 2018, S.123)
An der Zukunft interessierte Friedrich II. nur, wie er sich seinen Nachruhm sichern konnte. Er wollte das keiner künftigen Geschichtsschreibung überlassen, sondern lieber selbst für eine angemessene Deutung seines politischen und geistigen Wirkens sorgen:
„Das Trachten nach Ruhm, so erklärte er in einer 1734 komponierten ‚Ode auf den Ruhm‘, sei das Hauptmotiv der großen Helden des Altertums gewesen. ... Ein auffälliges Merkmal dieser Fantasien über den Ruhm, die den König sein Leben lang begleiteten, ist der Umstand, dass sie sich allein auf die Person des Königs selbst konzentrierten. Mit der Anweisung, seinen Leichnam nach antiker Art zu verbrennen und danach im Garten seiner ‚Villa‘ zu begraben, distanzierte sich Friedrich von der herkömmlichen Praxis der europäischen dynastischen Repräsentation seiner Epoche, die tendenziell nicht die Individualität des Monarchen in den Vordergrund rückte, sondern ihn oder sie in die Abfolge der Generationen einbettete. ... Auch in dieser Hinsicht wehrte sich Friedrich gegen die Eingliederung in ein Narrativ, das größer als er selbst war, und suchte stattdessen Zuflucht im zeitlosen Ansehen, das die Nachwelt einer einzigartigen Persönlichkeit schuldete.“ (Clark 2018, S.124f.)
Friedrich II. steht, so Clark, für eine „neoklassische Zeitlichkeit des Status quo“. Für ihn ist der Staat „nicht mehr Motor des historischen Wandels, sondern eine historisch unspezifische Tatsache und logische Notwendigkeit“. An die Stelle eines zukunftsoffenen, linearen Geschichtsprozesses treten „Zeitlosigkeit“ und „rekursive Wiederholung“. (Vgl. Clark 2018, S.10)

Otto von Bismarck
Ähnlich wie sich Friedrich II als Monarch vom Staat distanzierte und so eine souveräne Position abseits vom Staat beanspruchte, nutzte Bismarck sein Amt als direkt dem König verantwortlicher Ministerpräsident und dann als Reichskanzler für eine randständige Positionierung zum Staat:
„... er stand über dem Geschehen und strahlte eine Autorität aus, die von etwas Unveränderlichem ausging: der Macht der Krone. Für Bismarck verhinderte der monarchische Staat mit seinen beständigen Strukturen, dass die Veränderlichkeit der Geschichte zu einem reinen Chaos ausartete, und gewährleistete damit die Identität und Kontinuität des Gemeinwesens.“ (Clark 2018, S.136)
Zugleich erkannte Bismarck die durch die Revolution von 1848 eingetretenen Veränderungen im Verhältnis zwischen der Monarchie auf der einen Seite und dem Staat und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite unbedingt an. Zwei Metaphern, deren sich Bismarck gerne bediente, bringen diese gleichzeitige Distanzierung und Anerkennung anschaulich zum Ausdruck. Geschichtliche Ereignisse wie die Revolution von 1848 brechen wie eine Schicksalsgewalt über eine Gesellschaft herein. Hier ist der Staatsmann, so die erste Metapher, nur ein „Steuermann im Strom der Zeit“. (Vgl. Clark 2018, S.147) Er kann den Lauf des Stromes nicht verändern, nur auf ihm navigieren. Der Steuermann befindet sich also nicht auf dem sicheren Ufer, sondern mitten auf dem Strom. Diese Einsicht schreibt Bismarck nicht nur sich, sondern auch den anderen Vertretern der alten Ordnung zu:
„Man sucht daher die bisherige Ritterschaft als solche Leute zu bezeichnen, die den alten Zustand erhalten und zurückführen wollen, während die Rittergutsbesitzer wie jeder andre vernünftige Mensch sich selbst sagen, dass es unsinnig und unmöglich wäre, den Strom der Zeit aufhalten oder zurückdämmen zu wollen.“ (Zitiert nach Clark 2018, S.147)
Die andere Metapher beschreibt Bismarcks Position als Reichskanzler an der Seite des Königs, der die monarchische Struktur wie ein Schachbrett nutzt, auf dem er die verschiedenen, einander widerstreitenden gesellschaftlichen Interessen gegeneinander ausspielen kann. (Vgl. Clark 2018, S.160) Bismarck sah sich also selbst nicht als Teil dieser gesellschaftlichen Interessengruppen, sondern als Schachspieler, der sich der Schachfiguren bedient, ohne sich mit ihnen zu identifizieren:
„Bismarck distanzierte sich selbstbewusst von den ideologischen Vorgaben jeder Interessengruppe – kein Schachspieler, der für eine bestimmte Figur eine besondere Zuneigung empfinde, ... könne darauf hoffen, erfolgreich Schach zu spielen.()“ (Clark 2018, S.156f.)
Bismarck übernahm zwar im Großen und Ganzen den aufklärerischen Glauben seiner Zeit an die Geschichte als einem linearen, fortschrittlichen Entwicklungsprozeß, nahm aber den Monarchismus davon aus. Im Einklang mit seinem christlichen Glauben verhinderte Bismarcks Überzeugung zufolge der Monarchismus, „dass die Veränderlichkeit der Geschichte zu einem reinen Chaos ausartete“, und gewährleistete auf diese Weise „die Identität und Kontinuität des Gemeinwesens“. (Vgl. Clark 2018, S.177 und S.136)

Dieser Verbindung von Staat und Monarchismus entsprach eine quasi-religiöse Überhöhung der Geschichte als Ganzes, wie sie paradigmatisch von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) auf den philosophischen Begriff gebracht worden war. Monarchie, Staat und Geschichte verschmolzen zu einem Amalgam, in dem zunächst Brandenburg-Preußen und dann das deutsche Kaiserreich als Krönung und Erfüllung der Menschheitsgeschichte wahrgenommen wurden:
„Die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts war geprägt von einem starken Gefühl der Entwicklung, häufig als Weg durch eine Abfolge von ‚Stufen‘ oder ‚Stadien‘ konzipiert, die mit Heranwachsen, Reife und Vergreisung den Phasen des menschlichen Lebens ähnelten. ... Für Hegel, den Bismarck nach eigener Aussage als junger Mann gelesen, aber nicht verstanden hat, besaß Geschichte in diesem unergründlich tiefen Sinn eine fast schon theologische Würde, da sie die Zeichen der fortschreitenden Entfaltung der Vernunft oder des ‚Geistes‘ durch die Zeit offenlegte.“ (Clark 2018, S.134)
Nationalsozialismus
Wie Christopher Clark schreibt, brachte der Zusammenbruch des Kaiserreichs im Gefolge des Ersten Weltkriegs eine „Krise im historischen Bewusstsein“ hervor, „weil damit eine Form der Staatsmacht zerstört wurde, die zum Brennpunkt und Garanten des historischen Denkens und Bewusstseins geworden war“. (Vgl. Clark 2018, S.11) Große Teile der Bevölkerung und der Intellektuellen wandten sich vom Geschichtsoptimismus eines linearen, unvermeidlichen Fortschritts der gesellschaftlichen Verhältnisse ab. Zwar sei schon in den bisher von Clark behandelten Epochen seit dem Großen Kurfürsten die Vorstellung eines einheitlichen, mit dem „Geschichtlichkeitsregime“ des jeweiligen Machthabers übereinstimmenden gesellschaftlichen Geschichtsbewußtseins illusionär gewesen (vgl. Clark 2018, S.25), aber nach dem Ersten Weltkrieg fragmentierte sich das Geschichtsbewußtsein so sehr, daß, so Clark, grundsätzliche Zweifel daran aufkommen müssen, ob sich die einfache binäre Differenzierung zwischen „vormodernen und modernen Varianten der Zeitlichkeit“ so aufrechterhalten läßt (vgl. Clark 2018, S.233).

Damit verweist Clark auf den von Modernitätstheoretikern gerne geleugneten Umstand, daß Anachronismen aller Art, also die Nichtübereinstimmung von gesellschaftlichen Gruppen und von einzelnen ‚Zeitgenossen‘ mit dem jeweiligen angeblichen ‚Entwicklungsstand‘ der Gesellschaft, ein so verbreitetes kulturelles Phänomen sind, daß es, wie ich an dieser Stelle ergänzen möchte, auch auf anthropologischer Ebene reflektiert werden muß.

Diese allgemeine Fragmentierung des Geschichtsbewußtseins und die damit verbundene Distanzierung vom Staat hat zur Folge, daß sich Clark für die vierte Epoche nicht einer einzelnen paradigmatischen Persönlichkeit zuwendet, also in diesem Fall Adolf Hitler, sondern einer ganzen Partei, der NSDAP. Denn auch der Nationalsozialismus bildete kein einheitliches Geschichtlichkeitsregime, sondern wir haben es hier mit einer Vielzahl von Akteuren zu tun, die sich gegenseitig bekämpften. Auch im engeren Führungszirkel der Partei unterschied sich das Geschichtsbewußtsein von Hitler, der die römische Antike mit ihrer Architektur bevorzugte, und Himmler, der von den germanischen Lehmdörfern schwärmte und „über jeden Tonscherben und jede Steitaxt“, die irgendwo ausgegraben wurden, in „Begeisterung“ geriet. (Vgl. Clark 2018, S.212)

Während des zwölfjährigen „Dritten Reichs“ wurden in ganz Deutschland zahlreiche, der Geschichte des Nationalsozialismusses gewidmete Museen gegründet, deren Stifter und Direktoren sich ebenfalls untereinander über die korrekte Darstellung dieser Geschichte stritten. Clark richtet sein Hauptaugenmerk auf diese Museen, denn an ihnen wird die besondere Geschichtlichkeit des Nationalsozialismus deutlich. Die Geschichte wird in ihnen nicht als ein linearer Prozeß verstanden, sondern mit der nationalsozialistischen Machtergreifung ist der Geschichtsprozeß insgesamt beendet. Das deutsche Volk hat seine Bestimmung, nämlich den Wiedereintritt in eine urgermanische Volkseinheit, erreicht. Was folgt ist nurmehr Geopolitik: die Eroberung neuen Lebensraums im Dienste der Selbsterhaltung, also Subsistenz:
„Statt Objekte (oder sogar Subjekte) der Kräfte des internationalen Marktes zu sein, würden die Deutschen ein eigenes, historisch bewährtes, autonomes tausendjähriges Produktionssystem schaffen. ... Das war eine vehemente Ablehnung jeder Fremdbestimmung, einer Ordnung, in der die Nation gezwungen ist, in der Zeit eines – oder etwas – anderen zu leben. Für die Deutschen unter Hitler sollte der Weg aus der Geschichte in der so gut wie grenzenlosen Ausdehnung des biologischen Raumes, in der Eroberung von ‚Lebensraum‘ liegen.“ (Clark 2018, S.218f.)
Anders als viele Modernitätstheoretiker meinen, war der Nationalsozialismus keineswegs ‚modern‘, im Unterschied z.B. zum italienischen Faschismus, der trotz seines Rückgriffs auf das antike Rom am linearen Fortschrittsgedanken festhielt:
„Während das faschistische Regime nämlich diese chronopolitischen Manipulationen (Ausgrabungen, Verwischung der räumlichen und zeitlichen Grenzen zwischen der römischen Antike und der faschistischen Moderne – DZ) auf eine Zeitlichkeit projizierte, deren Logik im Wesentlichen historisch, linear und modern blieb, schmückte sich das deutsche Regime zwar mit modernen Attributen, artikulierte seine ultimativen und bestimmenden Ansprüche jedoch im Rahmen eines ahistorischen, rassistischen Zeitkontinuums.()“ (Clark 2018, S.229)
Die nationalsozialistischen Museen verherrlichten also das „Dritte Reich“, indem sie paradoxerweise die Deutschen als Ethnie musealisierten, und verhielten sich so genau gegensätzlich zu den ‚modernen‘ Kolonialmächten, in denen die von ihnen unterworfenen indigenen Völker musealisiert wurden:
„Die weiße Mehrheitsgesellschaft beanspruchte (normalerweise – DZ) für sich die dynamische, fortschrittliche Zeit der Moderne. Im ‚Dritten Reich‘ sollten die Deutschen selbst als Ethnie musealisiert werden.“ (Clark 2018, S.219)
Mit der Abschaffung der Geschichte schaffte der Nationalsozialismus auch den Staat ab, nicht als Institution, aber als von der Geschichte autorisierte moralische Instanz, und setzte an deren Stelle die ‚Rasse‘ bzw. das ‚Volk‘:
„Weder die Zivilgesellschaft noch der Staat nötigten der NS-Bewegung Respekt ab – beide wurden vielmehr als ‚jüdische‘ Erfindungen einer liberalen politischen Theorie verunglimpft.“ (Clark 2018, S.233)
Politik wurde von Biopolitik abgelöst. An die Stelle der Gesellschaft, trat das Blut.

Christopher Clark führt, wie schon erwähnt, das nationalsozialistische Modell einer staats- und geschichtsfeindlichen Geschichtlichkeit auf das Trauma des Ersten Weltkriegs zurück, und er fragt, ob das Erleben eines Traumas möglicherweise eine „generische Dimension“, also eine geschichtlichkeitsbildende Kraft beinhaltet. (Vgl. Clark 2018, S.235) Darauf und auf die inhärenten Anachronismen einer fragmentierten Geschichtlichkeit werde ich im folgenden Blogpost zu sprechen kommen.

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