„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 2. Juni 2019

Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018

1. Fragmentierte Geschichtlichkeit
2. Traumata und Anachronismen

Christopher Clark fragt sich, ob es auf kollektiver Ebene mit der „gewaltsame(n) Zerstörung“ von „Machtstrukturen“ verbundene Traumata gibt, aus denen sich, ähnlich wie die zwanghaften Wiederholungsmuster auf individueller Ebene, „Narrative um eine rekursive und wiederholende ‚Zeitlichkeit des Traumas‘ herum“ bilden können. (Vgl. Clark 2018, S.235) Entsprechende Traumata in der deutschen Geschichte macht Clark an den in seinem Buch analysierten Epochen fest:
„Die Herrschaft des Kurfürsten war eine Flucht nach vorn, weg vom Chaos des Dreißigjährigen Krieges. Das Trachten Friedrichs II. nach Stasis basierte zum Teil auf seiner Sexualität und seiner Kindheitserfahrung. Bismarcks bipolare Geschichtlichkeit stützte sich auf seine ambivalente Wahrnehmung der Revolutionen von 1848. Und die tausendjährige Zeitlichkeit des Nationalsozialismus stand für eine einzigartige Zeitlichkeit des ‚Schreckens der Geschichte‘, den die Krise von 1918/19 ausgelöst und den Mircea Eliade voller Mitgefühl diagnostiziert hatte.“ (Clark 2018, S.236f.)
Ähnliche traumatisierende Geschichtsdaten findet Clark auch in der französischen Geschichte: 1815, 1871, 1914, 1940, wo wir es ausschließlich mit verlorenen Kriegen oder mit dem Erleiden von Angriffskriegen zu tun haben. (Vgl. Clark 2018, S.235) Bei den deutschen Geschichtsdaten handelt sich allerdings nur zur Hälfte um Kriege. Im Falle Friedrichs II. haben wir es nicht mit einem kollektiven, sondern mit einem individuellen Trauma zu tun. Und im Falle der 1848er Revolution stellt sich die Frage, ob man sie wirklich als Trauma bezeichnen kann. Schließlich haben wir es hier mit einem ersten zwar gescheiterten Experiment in Sachen Demokratie zu tun, das aber dennoch vor allem als positives Geschichtszeichen gewertet werden sollte.

Unbestreitbar ist jedoch, daß wir es bei dem Ersten Weltkrieg mit einer kulturellen Erschütterung epochalen Ausmaßes zu tun haben. Viele deutsche Intellektuelle, Wissenschaftler und Philosophen wandten sich 1918/19 von der dominanten aufgeklärten Tradition einer kontinuierlichen Fortschrittserzählung Hegelscher Prägung ab. Und hier haben wir tatsächlich eine Parallele zu unserer heutigen Gegenwart, wo auch wieder die Zahl der Rechtsintellektuellen ansteigt, die sich von den nach 1945 restaurierten humanistischen Werten verabschieden und auf verschiedene Weise ein Ende des Menschen verkünden, ausgerechnet zu einer Zeit, wo Geologen vom „Anthropozän“ sprechen, also von geologische Zeiträume umfassenden, den ganzen Planeten prägenden Hinterlassenschaften der menschlichen Kultur.

Zwei von Clark angesprochene Momente sind es, die den Rezensenten aufmerken lassen: einmal der apokalyptische Ton, der Verkündigungscharakter dieser, das Wiederaufleben rechtsextremer Strömungen unterstützenden Zeitgenossenschaft, und zum zweiten der Fokus auf das kulturelle ‚Erbe‘, also auf Trümmerlandschaften; in unserem Fall auf den Müll, das atomare und chemische Gift mit seinen gigantischen Dimensionen.

Schon Hitler schwärmte vor allem von den römischen Ruinen, die die Zeit überdauerten, und wollte sogar das nationalsozialistische Deutschland mit solchen kolossalen Bauwerken ausstatten, nicht etwa, um das Leben der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zu bereichern und zu beglücken, sondern um für eine Zeit, in der es keine Deutschen mehr geben würde, Erinnerungszeichen zu setzen:
„‚Die Architektur‘, merkt Eric Michaud in einer Formulierung an, die trefflich das Befremdliche dieser Vision einfängt, ‚sollte das deutsche Volk zu einem gemeinsamen Schicksal treiben, indem sie seine wahre Größe in Grabmonumenten enthüllte.‘()“ (Vgl. Clark 2018, S.224)
Zu dieser Vorliebe für eine Friedhofsarchitektur gehörte auch Hitlers Neigung zu einer Rhetorik, in der Endzeitszenarien beschworen wurden:
„Die traditionelle Vorliebe von Prophezeiungen für finale Zustände, für den Entwurf und die Verwirklichung von Endzeitszenarien prägte auch den Wortschatz des nationalsozialistischen Kampf- und Vernichtungsapparats: ‚Endkampf‘, ‚Endlösung‘, ‚Endsieg‘.“ (Clark 2018, S.224)
Hier wird noch einmal deutlich, wie ähnlich sich Heideggers Philosophie und Hitlers Politik sind. Nicht umsonst beinhaltet der Gedanke des „Seins zum Tode“ eine Zeitlichkeit, die eine erfüllte Lebendigkeit auf den Tod hin orientiert und sich dabei weigert, überhaupt noch vom ‚Menschen‘ zu sprechen. Und auch Heidegger vermied das Argument und die Analyse als Instrumente eines aufklärerischen Diskurses und bevorzugte die Prophetie als Mittel der Manipulation. (Vgl. meinen Blogpost vom 01.10.2017)

Dennoch kommt in dieser rechtsintellektuellen bis faschistoiden Konsequenz eine antiaufklärerische Zeitströmung zum Ausdruck, die zugleich eine kapitalismus- und technologiekritische Einsicht beinhaltet, die selbst nicht einfach mit einem amoralischen Antihumanismus gleichgesetzt werden darf. Anachronismus ist nicht gleich Anachronismus. Es gibt einerseits einen Anachronismus, der den Menschen wieder in sein Recht zu setzen versucht; und es gibt andererseits eine als Post- bzw. Transhumanismus auftretende Postmoderne, die sich als fortschrittliche Wissenschaft verkleidet, aber nicht weniger manipulativ ist als der grassierende Rechtspopulismus. Epochenbegriffe wie ‚Aufklärung‘ und ‚Moderne‘ machen deshalb zunehmend weniger Sinn:
„Mit Blick auf die Fülle der parallelen Geschichtlichkeiten (im Westen erleichtert durch die reduzierte Rolle des Staates bei der Konturierung der vorherrschenden Temporalitäten) und auf die beschleunigte Zersplitterung und den Wechsel der Erwartungshorizonte hat Jenny Andersson behauptet, dass die ‚großen Veränderungen‘, die Koselleck für die neuzeitliche Epoche umriss, nach der Zäsur von 1945 ‚nicht viel Sinn ergeben‘.() Das eigentlich Erstaunliche an dieser Epoche ist jedoch mit Sicherheit die Langlebigkeit des modernistischen Paradigmas als solchem. Die Idee, dass Geschichte sich immer noch in ein lineares Narrativ der ‚Modernisierung‘ einbetten ließ, überlebte die Enttäuschung über die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der Modernisierung.“ (Clark 2018, S.240)
So findet sich eine fortschrittskritische Einstellung nicht nur bei Alt- und Neonazis, sondern eben auch bei des Faschismusses unverdächtigen Denkern wie Fernand Braudel (1902-1985) und Mahatma Gandhi (1869-1948). Der Braudelsche Begriff der longue durée, der langen Dauer, „war als Gegensatz zu einer ereignisbasierten oder politischen Geschichte gedacht, die eine kurze Zeitspanne bevorzugt“. Sie bildete eine „Zuflucht vor dem unruhigen Treiben der Geschichte“. (Vgl. Clark 2018, S.235) Dieser Gedanke einer langen Dauer bildet für unsere heutige innovationssüchtige Zeit natürlich eine Provokation.

Zu Gandhi schreibt Clark:
„Mahatma Gandhis Hind Swaraj oder indische Selbstregierung, das er 1910 verfasste, um der terroristischen Politik radikaler Exil-Inder entgegenzutreten, zeigt eine ähnliche Verknüpfung. In diesem Schlüsseltext  verwirft Gandhi die Geschichte als bloßes ‚Dokument der Kriege in dieser Welt‘, in der kein Platz für eine generationsübergreifende Kontinuität der Seelenkraft sein könne. Geschichte war dieser Lesart zufolge ‚ein Dokument vielfältiger Unterbrechungen des gleichmäßigen Wirkens der Macht der Liebe‘ und damit auch des ‚Verlaufs der Natur‘. Sie war das Instrument, mit dem die Engländer versuchten, den Indern dauerhaft ihre eigene kulturelle Unterlegenheit vor Augen zu führen.()“ (Clark 2018, S.235f.)
Clark zieht deshalb ein für den Rezensenten, der sich seines eigenen Anachronismusses durchaus bewußt ist, erfreuliches Fazit:
„Das soll keineswegs heißen, dass der gewaltlose Antinationalist Gandhi oder überzeugte Demokrat Fernand Braudel in die Nähe der NS-Bewegung gerückt werden müssten!“ (Clark 2018, S.236)
Dieses Fazit gilt für anachronistische Tendenzen weltweit, für Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, „der nur Katastrophen erkennt, wo wir das Narrativ der Geschichte sich entfalten sehen“, wie auch für die „gewaltigen Unruhen der großen Revolution des 19. Jahrhunderts“ in China, die „eine überstürzte Hinwendung zur ‚modernen‘ linearen Zeit nach westlichem Muster“ auslösten. (Vgl. Clark 2018, S.236f.) Die jeweiligen konkurrierenden Geschichtlichkeitsregime als solche lassen sich nicht in ein binäres Schema von ‚gut‘ oder ‚böse‘ pressen. In der „Pluralität gleichzeitig bestehender Zeitlandschaften“ (Clark 2018, S.227) sollte immer die Frage nach dem Menschen im Vordergrund stehen. Denn ob wir nun den Humanismus selbst als ein weiteres Geschichtlichkeitsregime denunzieren oder ob er im Gegenteil technologiekritisch gewendet werden muß, wie ich es in diesem Blog vertrete: letztlich geht es nicht um eine ideologische Position, um einen weiteren ‚-ismus‘, sondern um die Zukunft des Menschen.

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