„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 1. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Markus Gabriels Buch „Der Sinn des Denkens“ (2018) bildet den dritten Band einer Trilogie. Die beiden vorangegangen Bände sind „Warum es die Welt nicht gibt“ (2013) und „Ich ist nicht Gehirn“ (2015). Gabriel zufolge sind die drei Bände weitgehend eigenständig, so daß die Kenntnis der jeweiligen anderen Bände nicht vorausgesetzt werden muß. (Vgl. Gabriel 2018, S.15) Allerdings kommt es aufgrund dieser Eigenständigkeit, so Gabriel, auch zu Wiederholungen, wodurch ich mich als Rezensent wiederum ermächtigt sehe, von diesen Wiederholungen auf die vorangegangenen Bände zurückschließen zu dürfen, ohne sie gelesen zu haben. Die Basis dieser Rezension bildet also ausschließlich der mir vorliegende dritte Band.

Gabriel hebt hervor, daß er sich um eine „allgemeinverständliche und zugängliche“ Ausdrucksweise bemüht hat (vgl. Gabriel 2018, S.11), und der Rezensent  kann bestätigen, daß ihm das überaus gelungen ist. Der Autor hat weitgehend auf philosophischen Fachjargon verzichtet, so daß auch der Laie in der Lage ist, sich eine eigene Meinung über die Thesen des Autors zu bilden und dessen Argumente zu prüfen. Dabei ist ihm, dem Laien, ein umfassendes Glossar am Ende des Buches behilflich. (Vgl. Gabriel 2018, S.350-363) Fettgedruckte Wörter im Verlauf des Haupttextes weisen auf die entsprechenden Definitionen im Glossar hin, so daß man als Leser dort niemals erfolglos nachschlägt. Der Autor unterstützt so das eigenständige Denken seiner Leserinnen und Leser, was auch der erklärte Zweck seines Buchprojekts ist.

Es lohnt sich also in jedem Fall, sich mit Gabriels Thesen auseinanderzusetzen, auch wenn man, wie der Rezensent, zwar mit einigen seiner Thesen, leider aber überhaupt nicht mit seinen Argumenten einverstanden ist. Wie groß aber der Widerspruch im Einzelfall ausfallen mag: am Ende der Lektüre ist man schlauer als vorher, was man nicht von vielen Büchern sagen kann.

Beginnen wir mit dem – aus Sicht des Rezensenten – Erfreulichen. Markus Gabriel bezeichnet sich als aufgeklärten Humanisten und wendet sich entschieden gegen den Antihumanismus der Post- und Transhumanisten. (Vgl. Gabriel 2018, S.14f.) ‚Aufgeklärt‘ ist Gabriels Humanismus, weil er durchaus um die oft hohlen Phrasen vieler klassischer Humanisten weiß, die nur weiße, wohlhabende Männer als Menschen akzeptierten und „Ausländer, Inländer, Freunde, Nachbarn, Frauen, Kinder, Männer, Komatöse oder Transsexuelle“ aus der Menschheit ausschlossen. (Vgl. Gabriel 2018, S.24) Das ist aber für Gabriel kein Grund, die humanen Ansprüche des Humanismusses über Bord zu werfen und das Ende der Menschheit zu prophezeihen, das im übrigen schneller kommen kann, als es die Post- und Transhumanisten eingestehen wollen, nämlich im ökologischen Sinne, weil dieser Planet an seine Grenzen gekommen ist.

Die Ausplünderung und Vergiftung der Erde ist den Post- und Transhumanisten herzlich egal, wenn sie von einem Ende des Menschen träumen: sie wollen den Menschen vielmehr durch eine künstliche Superintelligenz ersetzen, die dann auch schon Mittel und Wege finden wird, mit den ökologischen Problemen fertigzuwerden, sei es auch durch das letzte Mittel einer Auswanderung in den Weltraum, wobei es auch hier nicht mehr auf den Menschen ankommt; denn auswandern werden nicht wir, sondern unsere Nachkommen, die Maschinen.

Gabriel läßt keinen Zweifel daran, daß er sich mit seinem aufgeklärten Humanismus gegen diese Form der Menschenverachtung wendet:
„Das sich heute abzeichnende transhumanistische Menschenbild, das auf der Vorstellung aufbaut, dass unser gesamtes Leben und unsere Gesellschaft möglicherweise eine Art von Simulation ist, die wir nur überwinden können, indem wir unser Menschsein ganz am Modell des technologischen Fortschritts ausrichten, ist eine gefährliche Illusion. Diese Illusion müssen wir durchschauen, da wir ansonsten immer tiefer in die Zerstörung der Lebensbedingungen des Menschen verstrickt werden, die sich nicht zuletzt auf längst alarmierende Weise in Form der ökologischen Krise manifestiert.“ (Gabriel 2018, S.239)
Gabriel wirft den Post- und Transhumanisten einen Konstruktivismus vor, aufgrund dessen sie glauben, den Menschen als künstliche Intelligenz nachbauen zu können. Basis dieses Konstruktivismusses ist die These, daß die Intelligenz substratunabhängig sei, also Intelligenz nicht auf Fleisch und Blut angewiesen ist, sondern „im Wesentlichen“ auch aus „Silizium oder irgendeinem anderen nicht lebendigen Material“ bestehen könne. (Vgl. Gabriel 2018, S.19) Gabriel hält diesen Konstruktivismus für falsch. (Gabriel 2018, S.64) Nur lebendige Organismen können Intelligenz hervorbringen, unter anderem deswegen, weil Intelligenz im wesentlichen eine Frage des Überlebens ist:
„Für Computerprogramme gibt es keine Fragen des Überlebens, weil sie nicht lebendig sind. ... eines ist sicher: Kein heute existierendes artifizielles System, das aus nicht lebendiger Materie gebaut wurde, hat Überlebensinteressen, weil keines dieser Systeme lebendig ist.“ (Gabriel 2018, S.193)
Der Rezensent ist dem Autor überaus dankbar für diese Stellungnahme, denn der überall grassierende, mal latente, mal explizite Antihumanismus ist zu einem Mainstream in der Wissenschaft geworden, die mit ihrem Naturalismus – wie Friedrich Kittler es einmal mit entwaffnender Offenheit ausdrückte – eifrig dabei ist, den (menschlichen) Geist aus den Wissenschaften auszutreiben. Gabriel bezeichnet diesen Naturalismus als „Pseudowissenschaft“, weil es keine vernünftigen, also rationalen Argumente für dessen materialistisches Weltbild gibt. (Vgl. Gabriel 2018, S.286) Tatsächlich, so Gabriel, hat der Naturalismus zu einem „Verfall der öffentlichen philosophischen Debattenkultur“ geführt, weil er „alles echte Wissen und alle(n) Fortschritt auf eine Kombination aus Naturwissenschaft und technologischer Beherrschung der Überlebensbedingungen des Menschen reduziert“ hat. (Vgl. Gabriel 2018, S.14)

Dennoch ist Gabriels eigene Argumentation insgesamt problematisch. Sie beruht insgesamt auf genau dem Informationsverarbeitungsmodell, das er den K.I.-Forschern vorwirft. Zwar lautet die erste Hauptthese seines Buches, „dass unser menschliches Denken ein Sinn ist, so wie unser Hören, Fühlen Schmecken, unser Gleichgewichtssinn und vieles mehr, was heute zum sensorischen System des Menschen zählt“. (Vgl. Gabriel 2018, S.19) – Deshalb, so Gabriel, könne „unser Denken“ kein „Vorgang der Informationsverarbeitung“ sein. (Vgl. ebenda)

Die überaus erfreuliche, gegen die angebliche Substratunabhängigkeit der Intelligenz gerichtete These, daß die menschliche Intelligenz kein Vorgang der Informationsverarbeitung sein könne, wird aber gleich wieder eingeschränkt: sie kann kein Vorgang der Informationsverarbeitung sein, insofern dieser sich als Teil einer K.I. „im Wesentlichen in Silizium oder irgendeiner anderen nicht lebendigen Materie nachbauen lässt“. (Vgl. Gabriel 2018, S.19)

Auch an anderen Stellen schränkt Gabriel seine Distanzierung gegenüber dem Intelligenzbegriff der K.I.-Forscher ein. So heißt es z.B., daß Gedanken keine „Form der Informationsverarbeitung“ seien, „die man physikalisch messen könnte“. (Vgl. Gabriel 2018, S.31) Gemeint ist hier keineswegs, daß die Informationsverarbeitung prinzipiell ein meßbarer Prozeß sei und deshalb niemals mit Gedanken gleichgesetzt werden könne, sondern daß sie nur insofern nicht mit Gedanken gleichgesetzt werden könne, als sie im Sinne einer K.I. meßbar sei, Gedanken als Teil einer menschlichen Intelligenz hingegen nicht.

Gedanken bilden eine nicht meßbare Form der Informationsverarbeitung, zu der Gabriel zufolge auch alle biologischen Prozesse unterhalb der Bewußtseinsschwelle zählen, wie eben Hören, Fühlen, Schmecken und unser Gleichgewichtssinn. Wir „empfangen“, so Gabriel, mittels unserer biologischen Sensoren bzw. ‚Sonden‘ „Daten“, ohne daß wir „diesen Vorgang“ „steuern“ bzw. die Daten bewußt „bearbeiten“. (Vgl. Gabriel 2018, S.39f.) Die menschliche Wahrnehmung ist also insgesamt ein Vorgang der Informationsverarbeitung, nur eben unterhalb der Bewußtseins- bzw. Intelligenzschwelle und zudem außerhalb jeglicher physikalischen Meßbarkeit. Das intuitive Moment des menschlichen Denkens, daß wir Gedanken nicht „produzieren“, sondern daß sie uns einfallen (vgl. Gabriel 2018, S.301), uns demnach unser eigenes Denken – anders als die Algorithmen einer K.I. – nicht vollkommen transparent ist (vgl. Gabriel 2018, S.305), basiert auf einer intransparenten Form der Informationsverarbeitung.

So kann es dann auch nicht mehr verwundern, wenn Gabriel die menschliche Intelligenz selbst als echte künstliche Intelligenz bezeichnet und sie von der künstlichen künstlichen Intelligenz, der K.K.I., unterscheidet. (Vgl. Gabriel, S.19f. und S.312) Die menschliche Intelligenz ist selber nur ein „Artefakt“, obwohl sie auf ihre biologische Basis angewiesen ist, also nicht substratunabhängig ist, denn letztlich ist sie ein Effekt der kulturellen Entwicklung und im besonderen von „Erziehung und Unterricht“. (Vgl. Gabriel 2018, S.311f.)

Damit zeigt sich zweierlei: Gabriels Anthropologie ist eine unreflektierte Abwehrreaktion auf den Post- und Transhumanismus, und er hat keinen Bildungsbegriff. Was seine Anthropologie betrifft, beruht sie auf der unverdrossenen Wiederholung der simplen Feststellung, daß der Mensch kein Tier ist und kein Tier sein will. (Vgl. Gabriel 2018: S.17, 23, 311, 318f.) Wer sich aber nur ein wenig mit der menschlichen Kulturgeschichte auskennt und sich mit Anthropologie und Ethnologie beschäftigt hat, weiß, daß die Menschen nie ein Problem damit gehabt haben, Tiere zu sein. Erst der platonische Idealismus und der zeitgenössische Antihumanismus verleugnet bzw. verachtet die animalische Herkunft des Menschen.

In seiner Auseinandersetzung mit dem Post- und Transhumanismus wird deutlich, daß Gabriels anthropologische These zum „universalen Kern des Menschseins“ (Gabriel 2018, S.318) der Geringschätzung der Antihumanisten gegenüber der ‚animalischen‘, also biologischen Herkunft des Menschen entspricht, die im Falle des Cyborgs nur noch ein verbesserungsbedürftiges Moment neben dem technischen bildet:
„Beide Bewegungen (Post- und Transhumanisten – DZ) bauen auf der Verabschiedung des Menschen und der Begrüßung des Cyborg auf, der aus animalisch-menschlichen und technischen Anteilen besteht.“ (Gabriel 2018, S.23)
Gabriels anthropologische These beruht also vor allem auf der großen Nähe seines eigenen Ansatzes zur Körperfeindlichkeit des Post- und Transhumanisten auf der Basis eines gemeinsamen Informationsverarbeitungsmodells, das Gedanken insgesamt mit Informationen gleichsetzt. (Vgl. Gabriel 2018, S.84f. und S.133)

Was nun Gabriels Thesen zu „Erziehung und Unterricht“ betrifft, so fällt hier vor allem das völlige Fehlen jedes Bildungsbegriffs auf. Die ‚Intelligenz‘ des Menschen ist eben deshalb kein Artefakt, weil Erziehung und Unterricht, anders als Gabriel meint, eben nicht aus der Programmierung mit Algorithmen und der Optimierung von Mustererkennung bestehen:
„Durch Erziehung und Unterricht programmieren wir unsere Nachfahren und übermitteln ihnen diejenigen Algorithmen, die wir erfunden haben, um unsere Mustererkennung zu optimieren.“ (Gabriel 2018, S.311)
Erziehung und Unterricht ermöglichen einen Bildungsprozeß, also einen Prozeß der Bildung eines individuellen Mensch-Welt-Verhältnisses. Aber die Welt gibt es ja nicht, wie Gabriel meint. (Vgl. Gabriel 2018, S.12, 64, 222) Aber die Wahrheit, die gibt es seltsamerweise schon. (Vgl. Gabriel 2018, S.15, 28, 70ff.) Also: die Welt gibt es nicht, aber die Wahrheit, die gibt es.

Es gibt Aussagen, an deren Schwachsinnigkeit sich auch dann nichts ändert, wenn sie auf intelligente Weise begründet werden. Ich werde darauf in einem der folgenden Blogposts noch zurückkommen. Jedenfalls bleibt festzuhalten, daß es, wo es keine Welt gibt, auch kein individuelles Mensch-Welt-Verhältnis geben kann und deshalb auch keine Bildung.

Das Individuum kommt in Gabriels anthropologischem Modell nicht vor, das nur zwei Entwicklungsebenen kennt: die Biologie und die Kultur. Da sich Gabriel wie seine Gegner durchgehend des Informationsverarbeitungsmodells bedient und sich nur hinsichtlich der Problematik der Substratunabhängigkeit von ihnen unterscheidet, steht der Intelligenzbegriff im Zentrum seines „Nachdenken(s) über das Nachdenken“ und mit dem Intelligenzbegriff die formale Logik. (Vgl. Gabriel 2018, S.11f.) Nur gelegentlich kommt Gabriel auch auf das „phänomenale Bewusstsein“ zu sprechen, in dem es um das „subjektive Erleben“ geht und damit um jene „Nichtgedanken“, von denen Gabriel meint, daß sich die Philosophie mit ihnen nicht beschäftigen sollte. (Vgl. Gabriel, S.218 und S.306)

An den Begriff der künstlichen Intelligenz hat man sich inzwischen gewöhnt. Hätte Gabriel sich in seinem Buch über den Sinn des Denkens weniger mit der menschlichen ‚Intelligenz‘ befaßt und stattdessen mehr mit dem menschlichen ‚Bewußtsein‘, hätte er sich wohl kaum zu der im Vergleich zur im derzeitigen Sprachgebrauch geläufigeren These einer künstlichen Intelligenz immer noch seltsam anmutenden These eines künstlichen Bewußtseins verstiegen.

PS (19.11.2020): Erst jetzt wird mir klar, daß Gabriel mit seiner Feststellung, daß es die Welt nicht gibt, an Wittgensteins „Tractatus“ anschließt. Wittgensteins Satz, daß die Welt alles das ist, was der Fall ist, bedeutet in der Logik der Mengenlehre, daß die Welt selbst kein ‚Fall‘ ist, denn sie kann nicht selbst Teil der Menge sein, die sie enthält. Wenn aber die Welt selbst nicht der Fall ist, bedeutet das, daß es sie nicht gibt.
Allerdings gibt es ein bildungsphilosophisches Verständnis von ‚Welt‘, das eine andere Logik beinhaltet als die Mengenlehre. Gemäß diesem bildungsphilosophischen Verständnis hat der Mensch eine Welt. Ein weltloses menschliches Subjekt ist schlicht nicht vorstellbar. Wer also gehaltvolle Aussagen über den Menschen machen will, muß Aussagen über sein Weltverhältnis machen.
In diesem Sinne ‚gibt‘ es also eine Welt, so wie es den Menschen gibt. Das ist logisch; nämlich anthropo-logisch.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen