„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 5. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Im letzten Blogpost war schon von Intentionalität die Rede gewesen. Dort hatte es geheißen, daß die Intentionalität die Gedanken auf Gegenstände ausrichtet. (Vgl. Gabriel 2018, S.304) Dabei muß man auf Gabriels besonderen Gebrauch der Begriffe „Inhalt“ und „Gegenstand“ achten:
„Der Gegenstand eines Gedankens ist dasjenige, wovon der Gedanke handelt. Der Inhalt eines Gedankens ist dagegen die Art und Weise, wie der Gedanke von seinem Gegenstand handelt (als was beziehungsweise wie einem Denker sein Gegenstand erscheint).“ (Gabriel 2018, S.39)
Ich selbst spreche immer, in Anlehnung an Fritz Mauthner, von der Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen. (Vgl. meinen Blogpost vom 23.10.2013) Dabei verzichte ich auf den Begriff des Objekts und verwende stattdessen den Begriff des Prädikats, der dem Gabrielschen Begriff des Inhalts entspricht, also die „Art und Weise“ meint, wie ein Satz bzw. ein Gedanke – ich spreche fortan einfachheitshalber nur noch von Sätzen – „von seinem Gegenstand handelt“. Beim Gegenstand handelt es sich um ein dem Satz transzendentes, wirkliches Objekt, auf das der Satz nur verweisen kann. Dieses Realobjekt können wir mit Mauthner auch als das eigentliche Subjekt des Satzes bezeichnen, das nicht mit dem grammatischen Subjekt identisch sein muß. Nennen wir das grammatische Subjekt deshalb ‚S‘ und das Realobjekt ‚S'‘.

Mit dieser S/P-Struktur, also der Unterscheidung von Prädikat und Objekt und von S und S', versuche ich dem Umstand gerecht zu werden, daß Sätze von wirklichen Gegenständen handeln, aber nicht mit diesen wirklichen Gegenständen identisch sind. Sätze spiegeln auf diese Weise die Struktur unserer Intentionalität:
„Dass Gedanken und Sätze von etwas handeln, das in der Wirklichkeit vorkommt, ist die Eigenschaft der Intentionalität.“ (Gabriel 2018, S.100)
In der Philosophie, so Gabriel, wird der „Inhalt des Denkens“ als „etwas als etwas“ gefaßt. Nichts anderes sind Gedanken: „etwas als etwas“, also Prädikate. Nun macht Gabriel, nicht zum ersten Mal, wie wir in den vorangegangenen Blogposts gesehen haben, etwas Seltsames. Er bezeichnet die Subjekt-Objekt-Spaltung als einen „Grundirrtum der neuzeitlichen Erkenntnistheorie“, mit dem er in seinem Buch „Der Sinn des Denkens“ aufräumen will:
„Diese besteht in der falschen Auffassung, dass wir als denkende Subjekte einer Wirklichkeit gegenüberstehen, in die wir nicht eingepasst sind. ... Wir stehen als denkende und wahrnehmende Lebewesen aber nicht einer von uns abgetrennten Wirklichkeit gegenüber. Subjekt und Objekt sind nicht entgegengesetzte Teile eines übergeordneten Ganzen. Vielmehr sind wir Teil der Wirklichkeit, und unsere Sinne sind Medien, die Kontakt herstellen zwischen Wirklichem, das wir selber sind, und Wirklichem, das wir nicht selber sind.“ (Gabriel 2018, S.29f.)
Die „Subjekt-Objekt-Spaltung“ besteht also in der „falschen Auffassung“, daß wir nicht Teil der Wirklichkeit sind. Richtig ist hingegen, daß wir Teil der Wirklichkeit sind, weil unsere Sinne „Medien“ sind und, wie es im Folgesatz heißt, „Schnittstelle(n)“ zwischen uns und der Wirklichkeit bilden.

Abgesehen von der technologischen Ausdrucksweise, mit der Gabriel eine Analogie zwischen Mensch und Computer zieht, haben wir es hier mit einem ziemlichen Durcheinander zu tun: wir sind also Teil der Wirklichkeit, und unsere Sinnesorgane bilden Schnittstellen zwischen uns und der Wirklichkeit? Entweder sind wir Teil der Wirklichkeit oder nicht. Die Redeweise von Schnittstellen hilft uns hier nicht weiter, da sie nur darauf hinweist, daß wir es hier mit zwei disparaten Wirklichkeitsbereichen zu tun haben: einem Wirklichen, das wir selbst sind, und einem anderen Wirklichen uns gegenüber.

Damit wird das Problem deutlich: indem Gabriel zweierlei Wirkliches behauptet, stellt er sie einander gegenüber, wie Subjekt und Objekt, ohne daß sie allerdings als in Subjekt und Objekt gespaltene Wirklichkeit aufgefaßt werden sollen. Stattdessen soll das eine Wirkliche, nämlich wir selbst, zugleich mit dem anderen Wirklichen uns gegenüber Teil einer umfassenden, über ominöse Schnittstellen miteinander verbundenen Wirklichkeit sein. Es ist offensichtlich daß wir es hier mit der Plessnerschen Doppelaspektivität von Innen und Außen zu tun haben, wobei die Schnittstellen die Funktion der exzentrischen Positionalität, also des auf der Grenze zwischen Innen und Außen positionierten Subjekts übernehmen.

Tatsächlich ist die Subjekt-Objekt-‚Spaltung‘ kein verhängnisvoller erkenntnistheoretischer Grundirrtum, sondern sie bildet ein zentrales Moment der Anthropologie. Der Mensch hat eine Welt! Und diese Welt ist ihm zugleich innerlich und äußerlich. Diese Doppelaspektivität bildet ein Strukturmerkmal seiner Intentionalität und spiegelt sich in der S/P-Struktur von Sätzen und Gedanken: in der Differenz von Satzsubjekt und wirklichem Subjekt und in der Differenz von Prädikat und Objekt.

Genau deshalb ist die Philosophie auch nicht, anders als Gabriel meint, „noch allgemeiner als die Mathematik“. (Vgl. Gabriel 2018, S.12) Und die Mathematik ist auch keine Sprachform. (Vgl. ebenda) Die Mathematik mag eine Denkform sein; dieses Attribut kann man ihr nicht streitig machen. Aber als Denkform ist sie nicht welthaltig. Sie ist genau das Denken, das sich selbst denkt, von dem Gabriel fälschlicherweise meint, daß das die Philosophie sei. (Vgl. Gabriel 2018, S.308) Denn hinsichtlich der Mathematik stimmt der Satz, daß es die Welt nicht gibt, und zwar weil sie keine S/P-Struktur hat. Die Mathematik prädiziert nicht. Sie meint immer nur sich selbst.

Nehmen wir als Beispiel eine einfache Formel: „2+2=4“. (Vgl. Gabriel 2018, S.278) – Die Formel „Zwei plus zwei ist vier“ ist kein Satz, weil sie keine S/P-Struktur hat: „Zwei plus zwei“ ist kein Subjekt und „vier“ ist kein Prädikat! Nur die Ziffern selbst haben eine gewisse Welthaltigkeit, da sie Mengenverhältnisse bezeichnen. Der Weltbezug ist allerdings völlig beliebig und kann in Äpfeln, Birnen oder Einhörnern bestehen. Was ist aber mit den negativen, den irrationalen oder den imaginären Zahlen? Erst als Erwin Schrödinger auf die Idee kam, die imaginären Zahlen auf die Wellenfunktion zu beziehen, bekamen sie einen gegenständlichen Sinn. Aber dieser Sinn ist ihnen ursprünglich nicht zueigen gewesen. Ich habe deshalb den Verdacht, daß die Mathematik gerade aufgrund ihrer konstitutiven Weltlosigkeit so vielseitig anwendbar ist.

Das gilt übrigens auch für Informationen. Gedanken sind, anders als Gabriel meint (vgl. Gabriel S.84ff., 133), keine Informationen. Denn Informationen haben keine Inhalte. Und Informationen haben deshalb keine Inhalte, weil sie mathematische Konstrukte sind. Um sie für informationsverarbeitende Maschinen tauglich zu machen, müssen sie meßbar sein. Sie werden deshalb in Bits zerlegt, kleinste Informationseinheiten, die nichts anderes transportieren als die maschinelle Anweisung ‚Ja‘ oder ‚Nein‘, also das Öffnen oder Schließen eines Stromkreises:
„Wir kennen alle die Maßeinheit ‚Bit‘, die wir der Informatik verdanken. Bits messen Informationen, indem sie Gedanken in einfache Fragen und Antworten zerlegen. Ein Bit ist eine binary digit, eine binäre Einheit. Ein Code ist binär, sofern wir uns zwei Einstellungen vorstellen können, die einem ‚An‘ (1) beziehungsweise ‚Aus‘ (0) eines Schalters entsprechen.“ (Gabriel 2018, S.94)
Wieviel Bits enthält also ein Wort wie „Wahrheit“? Oder „Fingernagel“? Welche Kombination aus „Ja“ und „Nein“, aus „an“ und „aus“‚ informiert mich darüber, ob das, was ich tue oder sage, Sinn macht?

Informationen sind also völlig weltlos. Sie haben keine S/P-Struktur. Maschinen brauchen nicht zu verstehen, was sie tun, wenn sie mit ihnen arbeiten. Nur deshalb können Maschinen Informationen verarbeiten.

Deshalb ist Gabriels Feststellung, daß das „digitale Zeitalter“ in der „Herrschaft der Logik über das menschliche Denken“ besteht (vgl. Gabriel 2018, S.145), gleichermaßen richtig wie fatal. Logik ist zwar ein Instrument des Denkens, aber auch sie denkt letztlich nur sich selbst. Die Logik ist sich selbst vollkommen transparent, was das menschliche Denken nicht ist. Denken ist im wesentlichen intuitiv, worauf Gabriel selbst immer wieder hinweist, wenn er schreibt, daß wir Gedanken nicht produzieren, sondern rezipieren (vgl. Gabriel 2018, S.39), oder daß Denkvorgänge „unscharfe Suchprozesse“ bilden (vgl. Gabriel 2018, S.303). Gabriel hält sogar ausdrücklich fest, „dass unsere Gedanken ihr eigenes Zustandekommen niemals vollständig durchschauen“. (Vgl. Gabriel 2018, S.305)

Gedanken sind also nicht logisch, denn die Logik ist vollkommen transparent. Wenn also im „digitalen Zeitalter“ die Logik der Informationsverarbeitung die Herrschaft über das Denken übernommen hat, bedeutet das nichts anderes, als daß wir in ein Zeitalter eingetreten sind, in dem wir aufgehört haben zu denken.

Ich habe hier einfachheitshalber hauptsächlich von Sätzen gesprochen. Sätze sind gegliederte Gedanken, während es sich bei einzelnen Wörtern um einfache, ungegliederte Gedanken handelt. Daß es auch ein vorsprachliches Denken gibt, ist Thema des folgenden Blogposts.

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