„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 2. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

An verschiedenen Stellen seines Buches nimmt Gabriel zur Aufgabe der Philosophie Stellung. Das hat etwas mit dem Sinn des Denkens zu tun, um den es in seinem Buch geht. Den Sinn des Denkens bestimmt Gabriel zweifach; als biologischen Sinn, wie „Sehen, Hören, Fühlen, Tasten oder Schmecken“, und als Orientierung gebendes Denken, also im Sinne eines geistigen Sinns:
„Gleichzeitig plädiere ich aber auch dafür, dem Denken einen neuen Sinn, eine Richtung zur Orientierung in unserer Zeit zu geben, da es – wie eh und je – von vielfältigen ideologischen Strömungen und zugehöriger Propaganda in Unruhe versetzt wird.“ (Gabriel 2018, S.18)
Gabriels Denkbegriff beinhaltet also eine Ethik, und dieselbe Ethik bestimmt auch seinen Philosophiebegriff:
„Eine wichtige Aufgabe des philosophischen Denkens besteht darin, uns mit der Wirklichkeit zu konfrontieren und die Scheinkonstruktionen zu entlarven, in denen wir uns einrichten, um unser Gewissen angesichts von Missständen zu beruhigen, die wir sehenden Auges nicht ertragen können. Das ist Teil der philosophischen Mission der Aufklärung, das heißt des ‚unvollendeten Projekts der Moderne‘, wie Jürgen Habermas (*1929) dies genannt hat.“ (Gabriel 2018, S.240)
Diese philosophische Aufgabenbestimmung entspricht Gabriels eigener Position als aufgeklärter Humanist. (Vgl. Gabriel, 2018, S.14f. und S.24) Auch sein spezieller philosophischer Standpunkt, der Neue Realismus, ist ethisch begründet:
„Der Neue Realismus, dessen theoretische Grundzüge in der mit diesem Buch abgeschlossenen Trilogie einer über die Universität hinausgehenden Öffentlichkeit vorgestellt wurden, ist mein Vorschlag zur Überwindung der fundamentalen Denkfehler, denen wir zu unserem gesellschaftlichen und menschlichen Schaden weiterhin verhaftet sind.“ (Gabriel 2018, S.15)
Immer wieder geht es also um Aufklärung und um Ideologiekritik. Aber das ist Gabriel zufolge nicht die einzige Aufgabe der Philosophie. Eine andere, mit der Ideologiekritik konkurrierende, wenn nicht sogar ihr widersprechende Aufgabe besteht im Nachdenken über das Nachdenken. (Vgl. Gabriel 2018, S.11f. und S.141) Dieses selbstbezogene Denken hat durchaus einen ideologiekritischen Impuls, denn es geht ja um das Dingfestmachen und Ausmerzen von Denkfehlern. Ein methodisches Instrument des Nachdenkens über das Nachdenken bildet deshalb die Sprachkritik. (Vgl. Gabriel 2018, S.63 und S.198ff.) Auf dieser Ebene der Sprachkritik ist das Nachdenken über das Nachdenken mit der Ideologiekritik kompatibel.

Schwieriger wird es aber, wenn Gabriel dieses Nachdenken über das Nachdenken mit dem „reinen Denken“ gleichsetzt (vgl. Gabriel 2018, S.308) und ausdrücklich festhält, daß nur Gedanken Gegenstand der Philosophie sein können, nicht aber „Nichtgedanken“ (vgl. Gabriel 2018, S.306). – Was genau sind Nichtgedanken? Im Glossar heißt es tautologisch: „Gegenstände, die selber keine Gedanken sind.“ (Gabriel 2018, S.358) An anderer Stelle verbindet Gabriel den Begriff des Nichtgedankens mit dem phänomenologischen Grundbegriff der Intentionalität: unsere Denkakte richten sich auf etwas, „ohne dass wir allein aus dem Erleben dieser Akte darauf schließen können, warum sie sich gerade auf dasjenige richten, womit sie sich beschäftigen“. (Vgl. Gabriel 2018, S.304)

Diese dem Denker bzw. Philosophen „partiell unbekannt(en)“ intentionalen Akte bezeichnet Gabriel als „Nichtgedanken“, also letztlich alles subjektive Erleben. Einfach gesprochen: Nichtgedanken sind Gefühle, und Gabriel zufolge sind Gefühle kein Gegenstand der Philosophie!

An dieser Aufgabenbestimmung wird aber jeder Anspruch auf Aufklärung und Ideologiekritik zunichte. Wenn es um „Denkfehler“ geht, kann es nicht nur um Logik gehen. Gabriel geht an dieser Stelle sogar noch weiter und behauptet, daß die „Philosophie die allgemeinste Art und Weise“ sei, „über unser Nachdenken nachzudenken“:
„Sie ist noch allgemeiner als die Mathematik, die eine Sprach- und Denkform bildet, die den Natur und Technowissenschaften als Grundlage dient.“ (Gabriel 2018, S.12)
Wenn die Philosophie also tatsächlich noch allgemeiner als Mathematik sein soll und eine Form des reinen Denkens bildet, die darin besteht, daß sich „der Denkakt als solcher erfasst“ (vgl. Gabriel 2018, S.308), dann kann sie nicht mehr ideologiekritisch sein. Denn wer sich mit Denkfehlern auseinandersetzen will, muß sich immer auch mit unserem dunklen, intransparenten Begehren auseinandersetzen. Es gibt kein menschliches Denken, das im mathematischen Sinne rein wäre. Und es gibt kein menschliches Denken ohne Intentionalität!

Übrigens: Mathematik mag eine Denkform sein, wie es im letzten Zitat heißt. Aber eine Sprachform ist sie nicht. Darauf werde ich in einem der folgenden Blogposts zurückkommen.

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