„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 7. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Wenn Markus Gabriel der menschlichen Intelligenz bescheinigt, ein „Regelsystem zur Datenverarbeitung“ zu sein (vgl. Gabriel 2018, S.118), und sogar postuliert, daß sie in einem eigentlicheren Sinne als „künstliche“ Intelligenz bezeichnet werden müsse als die Rechenmaschinen der KI-Forscher, die er im Unterschied zur menschlichen Intelligenz als K.K.I. (künstliche künstliche Intelligenz) bezeichnet (vgl. Gabriel2018, S.312), dann frage ich mich, ob das vielleicht am Gebrauch des Intelligenzbegriffs selbst liegt. Ich mag diesen Begriff nicht, der einerseits ein Moment des tierischen und des menschlichen Bewußtseins bilden soll, aber zugleich mit einer Meßbarkeitsillusion im Sinn des IQ, des Intelligenzquotienten einhergeht.

Mit dieser Meßbarkeitsillusion ist die Machbarkeitsillusion eng verknüpft: was man messen kann, kann man auch machen. Und schon wird die Intelligenz zu einem Artefakt.

So etwas würde beim Begriff des Bewußtseins nicht so schnell passieren. Der Bewußtseinsbegriff beinhaltet zwei Komponenten, ohne die ein menschliches Bewußtsein nicht denkbar ist: eine transzendentale Komponente und eine phänomenale Komponente. Beides läßt den Gedanken, das Bewußtsein künstlich herstellen zu können, als abwegig erscheinen. Bei der transzendentalen Komponente handelt es sich um das „Ich denke“, von dem Immanuel Kant sagt, daß es alle unsere Wahrnehmungen begleiten muß, damit sie uns bewußt werden können. Ich nehme also nicht einfach nur etwas wahr, sondern ich denke bzw. ich weiß, daß ich etwas wahrnehme.

Diese transzendentale Komponente hat im Sinne des kartesianischen „cogito“ zugleich die Qualität einer Seinsgewißheit. Gabriel bezeichnet diese Seinsgewißheit als „intrinsische Existenz“:
„Die intrinsische Existenz besteht darin, dass etwas von sich selber weiß, dass es existiert.“ (Gabriel 2018, S.214)
Damit kommen wir auch schon zum phänomenalen Moment. Die innere Selbstgewißheit, als die das Bewußtsein zu verstehen ist, ist nicht einfach nur intellektueller Art. Die transzendentale Apperzeption gäbe es nicht ohne das subjektive Erleben, also ohne die Gefühlszustände, die mit allen sinnlichen und geistigen Vollzügen und Akten einhergehen und die Gabriel seltsamerweise als „Nichtgedanken“ bezeichnet, so als hätten sie mit dem eigentlichen Denken nichts zu tun. (Vgl. Gabriel 2018, S.304 und S.308) Es gibt eine der transzendentalen Apperzeption entsprechende pathische Apperzeption.

Dabei macht Gabriel selbst auf die Bedeutung des phänomenalen Bewußtseins für die Philosophie aufmerksam. (Vgl. Gabriel 2018, S.218) Die Intentionalität, ein phänomenologischer Grundbegriff, ist, wie Gabriel schreibt, die orientierende Kraft des Denksinns:
„Intentionalität ist in der gegenwärtigen Philosophie der Name für die Ausrichtung unserer Gedanken auf Gegenstände“; und Gabriel fügt hinzu, daß „die Intentionalitätstheorie“, also die Phänomenologie, „sich überwiegend für Gedanken über Nichtgedanken interessiert“. (Vgl. Gabriel 2018, S.304)
Die ‚Intentionalitätstheoretiker‘, ein etwas umständlicher Ausdruck für ‚Phänomenologen‘, befassen sich also mit einem Gegenstand, der für das Denken einerseits enorm wichtig ist, der aber andererseits, so Gabriel, für die „Denker von Gedanken partiell unbekannt“ ist. (Vgl. Gabriel 2018, S.304) Darin sieht Gabriel seltsamerweise eine Gefahr, vor der er meint, warnen zu müssen:
„Wer das Denken auf das Nachdenken über Nichtgedanken reduziert, verfängt sich in der Logik des Unbewussten.“ (Gabriel 2018, S.306)
Es ist mir schleierhaft, wieso Gabriel meint, ausgerechnet vor dem „Nachdenken über Nichtgedanken“ warnen zu müssen. Liegt die größere Gefahr denn nicht im Gegenteil darin, das Denken auf ein Nachdenken über das Nachdenken, also auf reines Denken zu reduzieren? Müssen wir unsere Aufmerksamkeit nicht gerade wieder der intrinsischen Existenz, dem subjektiven Erleben zuwenden, um den Gefahren, die dem menschlichen Bewußtsein von der künstlichen Intelligenz drohen, zu begegnen?

Trotz aller Kritik an der KI-Forschung: Gabriel hat seine Entscheidung getroffen. Er bedient sich des Intelligenzbegriffs, weil auch er in den Kategorien dieses Forschungsbereichs denkt.

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