„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 3. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Der erste Band der Trilogie, zu der auch das von mir besprochene Buch „Der Sinn des Denkens“ gehört, trägt den Titel „Warum es die Welt nicht gibt“. Ich habe dieses Buch nicht gelesen, aber da Gabriel zufolge jedes Buch der Trilogie einen eigenständigen Charakter hat und auch ohne Kenntnis der anderen beiden Bände gelesen werden kann und der dritte Band Inhalte der ersten beiden Bände wiederholt (vgl. Gabriel 2018, S.15), kann ich mit einigem Recht aufgrund der Eigenständigkeit dieses Bandes von den darin enthaltenen Wiederholungen auf die vorangegangenen Bände zurückschließen. In welchem Sinne ist es also gemeint, wenn Gabriel apodiktisch festlegt, daß es die Welt nicht ‚gibt‘?

In „Der Sinn des Denkens“ heißt es dazu: „Der Neue Realismus behauptet, dass wir die Wirklichkeit so erkennen können, wie sie ist, ohne dass es genau eine Welt oder Wirklichkeit gibt, die alle Gegenstände oder Tatsachen umfasst, die es gibt.“ (Gabriel 2018, S.64) – An anderer Stelle heißt es ganz ähnlich: „Es gibt nicht die eine, allumfassende Wirklichkeit. Die Welt existiert gar nicht. Dafür habe ich an anderer Stelle ausführlich argumentiert.()“ (Gabriel 2018, S.222)

Aus diesen beiden Textstellen kann man zweierlei schließen: zum einen gibt es ‚die‘ Welt nicht, weil es viele verschiedene ‚Welten‘ gibt, die alle möglichen „Gegenstände oder Tatsachen“ umfassen, für die bloß eine Welt im Singular nicht ausreicht. Zweitens kann man aus den zitierten Textstellen schließen, daß die Begriffe „Welt“ und „Wirklichkeit“ Synonyme bilden. Beides ist problematisch und kann nicht einfach so hingenommen werden.

Was die Gleichsetzung von ‚Welt‘ und ‚Wirklichkeit‘ betrifft, ist es seltsam, daß es zwar die Welt nicht geben soll, die Wirklichkeit aber schon:
„Wirklichkeit ist der Umstand, dass es Gegenstände und Tatsachen gibt, über die wir uns täuschen können, weil sie nicht darin aufgehen, dass wir bestimmte Meinungen über sie haben.“ (Gabriel 2018, S.267)
Gabriel argumentiert immer wieder in diesem Sinne: Es gibt die Wirklichkeit, weil wir uns täuschen können und es immer wieder vorkommt, daß die Dinge anders sind, als wir denken. Diese These ist ihm so wichtig, weil mit der Wirklichkeit auch der Begriff der Wahrheit verknüpft ist: weil wir uns täuschen können, gibt es Wahrheit, nämlich als Unterschied zwischen wahr und falsch:
„Sätze, mit deren Äußerung wir beanspruchen festzustellen, was der Fall ist, können wir als Aussagen bezeichnen. Aussagen sind üblicherweise entweder wahr oder falsch (lassen wir die sinnlosen einmal beiseite).“ (Gabriel 2018, S.70)
Dieser inhaltliche Nexus zwischen Wirklichkeit und Wahrheit ist für Gabriels Argumentation enorm wichtig, denn nur so kann er die demagogische „Lüge vom postfaktischen Zeitalter“ zurückweisen. (Vgl. Gabriel 2018, S.231)

Also noch einmal: Es gibt die Welt nicht, aber es gibt ‚die‘ Wirklichkeit, und es gibt ‚die‘ Wahrheit?

Was die Wirklichkeit betrifft, schränkt Gabriel diese Behauptung wieder ein. Es gibt auch die Wirklichkeit nicht, sondern nur das Wirkliche, und zwar als Komplexität:
„An die Stelle der einen Welt oder der einen Wirklichkeit tritt eine Unendlichkeit von Sinnfeldern. Das Wirkliche gibt es nicht im Singular, vielmehr handelt es sich beim Wirklichen um eine irreduzible, niemals zu vereinfachende Komplexität.“ (Gabriel 2018, S.38)
Also gibt es ‚die‘ Wirklichkeit doch nicht. Und wie steht es mit ‚der‘ Wahrheit? – ‚Wahrheit‘ ist ein großes Wort und verleitet deshalb auch zu großartigen Formulierungen. So heißt es: „Was zählt ist nichts als die Wahrheit.“ (Gabriel 2018, S.15) Oder: „im Angesicht der Wahrheit über uns“ (Vgl. Gabriel 2018, S.18) Eine Kapitelüberschrift lautet: „Nichts als die Wahrheit“. (Vgl. Gabriel 2018, S.70ff.)

Im Gebrauch des Wortes ‚Wahrheit‘ sollte man etwas vorsichtiger sein. Sie hat weder ein „Angesicht“, denn die Wahrheit ist kein personales Gegenüber, noch wissen wir irgendetwas über uns, das im emphatischen Sinne ‚wahr‘ wäre!

Gabriel macht dann auch wieder einen Schritt zurück und begrenzt den Geltungsbereich auf simple Aussagenwahrheit und darauf, daß Aussagen „heute wahr und morgen falsch sein“ können: „Halten wir nur fest, dass Aussagewahrheit keine spektakuläre Angelegenheit ist.“ (Vgl. Gabriel 2018, S.72f.)

Aussagewahrheiten, die festhalten, was im Koordinatensystem von Raum und Zeit der Fall ist, sind, was die „Wahrheit über uns“ betrifft, belanglos. ‚Die‘ Wahrheit gibt es also ebenso wenig, wie es ‚die‘ Wirklichkeit gibt.

Wie steht es aber nun mit der Welt? Gibt es die Welt ebenso wenig wie die Wirklichkeit und die Wahrheit? – Hier muß man einen wichtigen Unterschied machen. Die Welt bildet ein unverzichtbares Korrelat des menschlichen Bewußtseins. Der Mensch ist das Lebewesen, das eine Welt hat, und unterscheidet sich deshalb vom Tier, das nur eine Umwelt hat. Es mag die eine Welt nicht geben. Da gehe ich mit Gabriel durchaus d’accord. Aber darum geht es bei dem Begriff der Welt gar nicht. Die Welt gehört zu den Phänomenen, von denen Hans Blumenberg sagt, daß man über sie nur in Metaphern reden kann. Die Welt ist wesentlich unbegrifflich.

Natürlich hat jeder Mensch als Individuum ein anderes „Weltbild“. Erstaunlicherweise leugnet Gabriel zwar, daß es die Welt gibt, aber er gesteht ein, daß es Weltbilder gibt: „Ein Weltbild ist eine Auffassung davon, wie alles, was es gibt, mit allem, was es gibt, zusammenhängt.“ (Gabriel 2018, S.283)

Also: Jeder Mensch hat aufgrund seiner Individualität ein anderes Weltbild; mit anderen Worten: er hat ein individuelles Mensch-Welt-Verhältnis. Um dieses Mensch-Welt-Verhältnis geht es in der Bildung. Wilhelm von Humboldt unterscheidet dabei zwischen zwei Formen von Welt: der Menschenwelt und der Nicht-Menschwelt, und meint damit das Verhältnis des Menschen zu seinesgleichen und zur nichtmenschlichen Natur. Mit Helmuth Plessner können wir zwischen einer Außenwelt und einer Innenwelt unterscheiden. Hier steht der Mensch als Subjekt auf der Grenze zwischen Innen und Außen, und in beide Richtungen eröffnen sich ihm Horizonte. Die Welt ist genau das: der Horizont des Menschen.

Es gibt sie also: die Welt, nämlich als Menschenwelt; und sie umfaßt „alle Gegenstände oder Tatsachen“, und zwar in ihrer unendlichen Perspektivenvielfalt. Was sollte sie sonst sein? Wäre die Welt nicht ein Ganzes aus Verweisungszusammenhängen, dann, aber nur dann gäbe es sie tatsächlich nicht. Deshalb ist sie auch nicht die Wirklichkeit; aber sie ist wirklich. Und sie ist auch nicht der Ort der Wahrheit. Denn die gibt es nur als Aussagenwahrheit.

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