„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 30. Juli 2022

Weltsprache Kunst: Entwicklungsebenen und das Individuum

Crista Sütterlin/Irenäus Eibl-Eibesfeld, Weltsprache Kunst: zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation“ (2007)

Im Untertitel heben cs/iee nur zwei Entwicklungsebenen hervor, aus denen sie die Kunst hervorgehen lassen: die Entwicklungsebene der Naturgeschichte, für die Irenäus Eibl-Eibesfeld zuständig ist, und die Entwicklungsebene der Kunstgeschichte, für die Christa Sütterlin zuständig ist. Über weite Strecken des Buches hinweg ist von einer weiteren Entwicklungsebene, wie ich sie als dritte für den Menschen in Anspruch nehme, nicht die Rede. Dabei läßt sich gerade beim Thema Kunst das Individuelle nicht wegdenken. Zumeist ordnen cs/iee es dann der kulturellen Ebene zu, zu der ja auch die Kunstgeschichte gehört.

Dabei kommen cs/iee aber zu einer anderen Zählung. Sie spalten die naturgeschichtliche Ebene noch einmal in zwei verschiedene Entwicklungsebenen auf: in die „basal-physiologische“ und in die „artspezifische“ Ebene, als zwei Ebenen, die ich als biologische Entwicklungsebene zusammenfasse. Folglich bezeichnen sie die „kulturspezifisch-ethnisch(e)“ Ebene als dritte Entwicklungsebene und deuten an dieser Stelle an, daß es noch eine „vierte Ebene“ gebe. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.162) Diese vierte Ebene kennzeichnen sie an anderer Stelle genauer als die „Biographische“ und meinen damit das Individuum (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.184), in meiner Zählung also die dritte Entwicklungsebene. Diese Entwicklungsebene wird dann im Abschnitt „Zur innovativen Potenz in der Kunst“ detaillierter ausgeführt. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.233ff.) Ich will im weiteren nur von drei Entwicklungsebenen sprechen, weil ich nicht sehe, welchen Erkenntniswert es hat, die biologische Ebene noch mal in zwei verschiedene Ebenen aufzuteilen.

Im Kapitel „Über das Schöne“ (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.70ff.), das von Christa Sütterlin allein verantwortet wird, fragt sie, wie „das Schöne und seine Erkenntnis in die Wahrnehmung“ kommt. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.104) Bei der Beantwortung dieser Frage folgt sie den Spuren von Platon, Aristoteles, dem Mittelalter, der Renaissance, Kant, Hegel und der modernen Wissenschaft des 20. Jhdts. mit ihren neurophysiologischen, psychologischen und ethnologischen Modellen. Die Wissenschaftlichkeit der letzten drei genannten Disziplinen verleitet sie dazu, von den drei Entwicklungslinien, die zusammen einen Menschen ausmachen, die individuelle (biographische) gegenüber Biologie und Kultur als bloß „personenbezogene() Psychologie“ abzuwerten: „Gerade die Dimension einer rein personenbezogenen Psychologie sollte durch Erforschung der neuropsychologischen Abläufe und ethologischen Modelle verhindert werden (). Die Referenzbasis, auf welcher Kommunikation – auch über das Schöne – stattfinden kann, ist über weite Strecken eine phylogenetische und kann durch biographisches Wissen allen nicht abgedeckt werden.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.118)

So kommt es dazu, daß Sütterlin den Menschen auf die Antithese eines (biologisch evolvierten) Gehirns einerseits und von Kultur und Gesellschaft andererseits reduziert: „Kultur und Gesellschaft bestimmen, was wir wirklich ‚sehen‘; die Medienwissenschaften gehen hier nur einen Schritt weiter. Dies stellt noch einmal die Antithese zu einem naturwissenschaftlichen Ansatz her, wie ihn die Neurobiologie vertritt: Es ist unsere Wahrnehmung, welche Vorgaben dafür macht, wie wir Wirklichkeit und Kunst wahrnehmen. Und hinter jeder Wahrnehmung steckt ein evolutionär gewachsenes Gehirn, das es uns erlaubt, die Welt als (zumindest teilweise) gemeinsame zu verschlüsseln – und zu entschlüsseln. Die Zeichen macht der Mensch.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.120)

Das Individuum in seiner „innovativen Potenz“ wird hier völlig ausgeblendet. Und von den beiden anderen Entwicklungsebenen, Biologie und Kultur/Gesellschaft ist vor allem das Gehirn, also die Biologie, der Garant dafür, daß die Menschen miteinander kommunizieren können. Der „Mensch“, der die „Zeichen macht“, ist dieses „Gehirn“, das kraft seiner evolutionären Verfaßtheit die Entschlüsselbarkeit der Zeichen sicherstellt.

Dabei wäre Sütterlin mit einer Gestaltwahrnehmung, die sich nicht auf Informationsverarbeitung beschränkt, schon auf dem Weg zur Beantwortung ihrer Frage gewesen, wie das Schöne in die Wahrnehmung kommt (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.117f.); und zwar als Aufwertung der subjektiven, persönlichen, biographisch geprägten, eben individuellen Wahrnehmung. Die Gestalt als ein aus einem Hintergrund herausgehobenes Ganzes von Teilen, läßt sich nicht ohne Verlust vom singulären Körper lösen und einer zählbaren Menge von gleichartigen Gestalten zuordnen, der man dann wieder als Durchschnittswert das Schöne entnehmen kann. Das Individuelle ist nicht das Ergebnis einer statistischen Streuung. Die Frage, wie das Schöne in die Wahrnehmung kommt, ist die Frage nach der „innovativen Potenz“ des Individuums und seiner Wahrnehmungen.

Zu Recht wirft Sütterlin der auf Informationsverarbeitung und Kybernetik fixierten Gestaltpsychologie vor, „das Sehen“ seiner „semantischen Potenz“ zu berauben. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.118) Letztlich ist diese Fähigkeit, Bedeutung zu stiften, die Kernkompetenz des Individuums und seiner „innovativen Potenz“. Semantische Kompetenz, also die Fähigkeit, den Wahrnehmungen Bedeutung zu verleihen, hat nur das Individuum; das Individuum, das von Sütterlin als abhängiges Moment von „Kultur und Gesellschaft“ in den Blick genommen wird und dabei immer wieder unter die Räder einer über es hinwegrollenden Medienwelt gerät: „Was wir in der Wirklichkeit wie in Kunst und Medien erleben, ist in einer Weise durch Bilder und ‚Zeichen‘ vermittelt, dass wir an die Inhalte, die jene bedeuten könnten, gar nicht mehr herankommen. ... Alles ist Bild – die Referenz (der Gegenstand – DZ) ist daraus geschwunden. Es sind die Kunst und die Medien, welche Vorgaben machen dafür, wie wir Wirklichkeit wahrnehmen.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.120) – Das Individuum wird in dieser Passage gar nicht mehr erwähnt, so ohnmächtig ist es.

Sütterlin führt also in ihrem Kapitel „Über das Schöne“ die semantische Potenz nicht auf die individuelle Expressivität zurück, sondern auf die gesellschaftliche Vermittlungskomplexität einer Zeichen- und Medienwelt. Trotzdem kommt Sütterlin am Ende des Kapitels zu einer, wenn auch zunächst nur impliziten, Würdigung des Individuums, die sie mit der Kritik an einer Auflösung des künstlerischen Anspruchs ins Alltägliche, Performative oder ‚Realistische‘ verbindet: „Kunst ist Setzung, ein offenes Bekenntnis, dass alle Darstellung selektiv ist, eine formale Beschränkung des Inhalts auf ausgewählte Aspekte – und damit Fiktion (). Das Wissen darum ist trivial. Die Tatsache aber, dass sie deklariert wird, ist ein Akt der Verständigung. Auch über den Modus. Subjektivität war eine Eigenschaft, welche die Kunst nie geleugnet hat. Darum war sie glaubwürdig. Wenn Bestrebungen der modernen Kunst an dieser Deklaration rütteln, indem sie das Manifest der Fiktion – den Rahmen, das Werk – eliminieren wollen, tragen sie zur Verschleierung bei. Es wird einem alten, naiven Verständnis von ‚Realismus‘ Vorschub geleistet, der da meint, es gäbe eine Wirklichkeit jenseits der Wahrnehmung. Denn nicht erst die ästhetische Wahrnehmung ist selektiv, sondern unsere ganz alltägliche, wie wir inzwischen wissen (). Aber in einer Weise, die Kommunikation – auch über Bilder – erlaubt.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.121)

Wenn Kunst also ein „offenes Bekenntnis“ ist, dann haben wir auch das Individuum mit seinem ganzen Potenzial im Spiel. „Subjektivität“ ist keine Eigenschaft von Kultur, Gesellschaft und Medien. Da haben wir es bloß mit Inter-Subjektivität zu tun. Subjektiv sind nur die Individuen. Dennoch gehe ich davon aus, daß die Individuen mit ihrer Subjektivität die Voraussetzung für Inter-Subjektivität, also für Verständigung und Kommunikation bilden. Immerhin: allmählich nähern sich cs/iee diesem Aspekt des sich auf seinen durch ihre unterschiedliche Zeitlichkeit gekennzeichneten Ebenen entwickelnden Menschen.

Nach den beiden biologischen und kulturellen Ebenen, denen sich cs/iee bisher hauptsächlich gewidmet haben, kommen sie endlich zu der Ebene, die sie die vierte nennen und die sie bisher ausgespart haben: „Es gibt über d(er) kulturspezifische(n) Form der Codierung noch eine weitere, sozusagen vierte Ebene, die wir hier die individuelle, gewissermaßen ‚biographische‘ nennen wollen.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.233)

Allerdings dringen cs/iee trotz dieser Anerkennung des Individuellen noch nicht wirklich bis zum Phänomen der Individuierung vor, das zum einen in der Konfrontation mit den Ebenen von Biologie und Kultur und zum anderen in der Semantisierung, also in der Bedeutungsstiftung besteht. Stattdessen reduzieren sie es auch hier noch einmal auf eine Form von Nachrichtentechnik: sein Zweck liegt in der prekären, mal erfolgreichen, mal scheiternden Informationsübermittlung. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.235f.)

Ansonsten schwankt das bloße, sich selbst genügende Individuelle, so cs/iee, zwischen der völligen Beliebigkeit der individuellen Rezeption und der völligen Beliebigkeit der individuellen Produktion von Kunstwerken. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.234) Sie unterstellen damit, daß alles bloß Individuelle nicht kommunizierbar ist: „Wer kann letztlich sagen, was der Künstler alles ausdrücken wollte ()?“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.234)

Letztlich artikuliert sich darin das völlige Unverständnis von cs/iee für den Zusammenhang von Individualität und Sprache. Nicht die gelungene Informationsvermittlung begründet Kommunikation, sondern ihr partielles Scheitern, das uns immer wieder antreibt, aufs Neue das Gespräch zu suchen. Aus diesem expressiven Motiv wächst unseren Wörtern Bedeutung zu. Allzeit gelingende Kommunikation führt zu einem schnellen Ende jeden Gesprächs. Und nicht nur das: allzeit gelingende Kommunikation wird bedeutungslos. Sie begnügt sich mit der Mitteilung von Informationen.

Diese Fixierung auf universelle Mitteilbarkeit wirkt sich auch auf das Konzept des Schönen aus, mit dem sich cs/iee in ihrem Buch auseinandersetzen. In dem Kapitel zu den phylogenetischen und kulturellen Programmierungen des menschlichen Verhaltens (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.125ff.) schlußfolgert Eibl-Eibesfeld aus der Vermutung, daß das menschliche Erkenntnisvermögen nur in dem Sinne apriorisch sei, als es phylogenetisches Wissen beinhaltet, daß die Wahrnehmung des Schönen universell sei: „Unsere Wahrnehmung bewertet – wie der Kulturvergleich lehrt – nicht allein nach kulturellen und individuellen Kriterien, sondern auch in universell verbindlicher Weise. Das Schöne ist demnach als spezifisch menschliche Anpassung unseres Wahrnehmungsapparates existent. Er wurde darauf selektiert, Lebensförderndes in verschiedenen funktionellen Zusammenhängen als schön und positiv und das zu Meidende als hässlich und negativ zu werten.“ (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.125 und 126)

Mit dieser Reduktion des Schönen auf eine phylogenetisch stabilisierte, universelle Anpassung unseres Wahrnehmungsapparates habe ich meine Probleme. Sie bezieht sich vor allem auch auf ‚schöne‘ Menschen. An mir selbst erlebe ich, daß meine Wahrnehmung von schönen Menschen höchst individuell und immer wieder im Konflikt mit Mainstream-Auffassungen ist. Was im Kulturvergleich als schön wahrgenommen wird, auch da möchte ich Eibl-Eibesfeld widersprechen, unterscheidet sich ebenfalls erheblich. In China wurden bis ins 20. Jhdt. hinein Klumpfüße als schön wahrgenommen und deshalb die Frauen der höhergestellten Schichten verstümmelt. Um nur ein Beispiel zu nennen. Ich mißtraue der Universalitätsthese, was das Schöne betrifft. Was Eibl-Eibesfeld entgeht, ist, daß eine elementare Ästhetik, die phylogenetische Wurzeln hat, nicht einfach mit der kulturellen und individuellen Erfahrung des Schönen gleichgesetzt werden kann.

Nur langsam, gleichsam im Kriechtempo, robben sich cs/iee an das Individuelle heran und nähern sich meiner eigenen Auffassung davon: „Auf einer historisch dünnsten und fragilsten Ebene, der letzten sozusagen, kommen schließlich noch jene Deutungen hinzu, die das Individuum aufgrund seiner Biographie und Erfahrung den Dingen gibt. Fragil sind sie, weil oft noch nicht erprobt, durch kein Kollektiv bestätigt, gleichsam auf der Suche nach breiterem Konsens. Es sind oftmals rein psychische Erlebnissymbole, deren volle Entschlüsselung nicht einmal dem Träger selbst zugänglich ist und ihn die Welt oder eine Sache, als ‚etwas‘ erleben lässt, an das nur seine persönliche Erinnerung rührt. Dieser persönlichsten Schicht verdanken wir andererseits auch die ganze Farbe und den Reichtum eines künstlerischen Werkes.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.184)

In dieser Beschreibung einer dritten, der Eigenständigkeit des Individuellen schon gerecht werdenden Entwicklungsebene findet sich dort, wo das Individuum sich der Entschlüsselung seiner eigenen Erlebnisse nicht sicher ist, sogar der Hinweis auf die Differenz von Meinen und Sagen. Sogar auf das Zusammenspiel aller Entwicklungsebenen kommen cs/iee zu sprechen: „... und wir gestehen diese Schicht (gemeint ist das Individuelle – DZ) auch deshalb gerne dem Kunstwerk zu, da sie keine der anderen Schichten (des Biologischen und des Kulturellen – DZ), von denen sie mitgetragen wird, notwendig ausschließt.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.184)

Cs/iee erklären auch, wie aus der Differenz von Meinen und Sagen, als das „Nichtauflösbare“, Bedeutung hervorgeht: „Gerade das Nichtauflösbare der persönlichen Erfahrungen in vorgegebenen Referenzmustern, des Besonderen in einem Allgemeinen schafft Chancen für jene Offenheit, welche neue Sichtweisen und Deutungsvorschläge erzeugt.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.189)

Und worin genau besteht die Eigenständigkeit einer dritten, zur Biologie und Kultur hinzukommenden Entwicklungsebene? Auch hierauf geben cs/iee eine Antwort, aus der sie sogar eine ethische Konsequenz ziehen: „Das Individuum ist eine neue Chance der Evolution – deren ‚Speerspitze‘, wie die Biologie sich oft ausdrückt. Die lange Entwicklung, die dahin geführt hat, sich auf das immer neue, gegenwärtige Ereignis Mensch einzustellen, dürfte eigentlich nicht mehr rückgängig gemacht werden.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.346)

Es ist vor allem das Porträt, das cs/iee zu einer so klaren Wertschätzung der dritten Entwicklungsebene führt. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.348ff.) Über einen langen Zeitraum der menschlichen Vor- und Frühgeschichte hatte sich unsere Gattung nicht für sich interessiert. Bis weit ins Neolithikum hinein finden sich nur Strichmännchen und -frauen, mit aufs Äußerste reduzierten Geschlechtsmerkmalen ausgestattet, in jagender und tanzender Gemeinschaft mit bis ins Detail hinein erstaunlich realistischen Abbildungen von Mammuts, Auerochsen, Löwen usw. Im europäischen Raum, in Asien (China/Japan) schon viel früher, begann man sich erst mit der griechischen Antike für den Menschen zu interessieren, und erst die holländischen Meister des 17. Jhdts. interessierten sich speziell für das menschliche Gesicht und damit für das Schicksal des Individuums.

Allerdings verlor sich das Interesse an der Porträtmalerei im frühen 20. Jhdt. wieder. Cs/iee finden bewegende Worte für diesen Verlust, der mit der Hinwendung zur Abstraktion und allgemeinen Form in der Kunst einhergegangen ist (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.333, 335, 346.348): „Am Thema Gesicht und seiner Evolution ist wohl letztlich eine Antwort auf das wohl größte Geheimnis des Menschen zu erfahren: die Einmaligkeit seiner persönlichen Existenz. Man erfährt dabei auch, wie sehr eine Kultur bereit ist, sich auf das Unverwechselbare und Unwiderrufliche persönlicher Ausprägung einzulassen. Die Entwicklung sagt etwas über den generellen Aufwand aus, den sie bereit ist, in die Darstellung des Individuellen zu investieren. Es bedarf der dauernden Anstrengung, das Einzigartige des Menschen gegenüber seiner Ausbeutung durch Hypothesen, Abstraktion und Verallgemeinerung zu verteidigen. Und diese Anstrengung ist eine bedeutende kulturhistorische Errungenschaft.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.348)

An dieser Stelle, wo cs/iee das Individuelle für verteidigungswürdig halten, gestehe ich ihnen zu, daß sie die Gleichwertigkeit dieser Entwicklungsebene im Verhältnis der anderen Entwicklungsebenen erkannt haben. In diesem Zusammenhang kann man dann tatsächlich auch von einer „kulturhistorischen Errungenschaft“ sprechen, ohne dadurch die individuelle Entwicklungsebene zu vereinnahmen.

Und doch: das Individuum wird auch in nachfolgenden Textstellen immer wieder der kulturellen Entwicklungsebene zu- und eingeordnet. („Individuum als Träger oder Spielball zivilisatorischer Prozesse“; vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.362). Dabei wird es gerade dort interessant, wo es die beiden anderen Entwicklungsebenen, immer im Konflikt mit ihnen, kreativ übersteigt.

Freitag, 29. Juli 2022

Weltsprache Kunst: das Zeichen

Crista Sütterlin/Irenäus Eibl-Eibesfeld, Weltsprache Kunst: zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation“ (2007)

Cs/iee übernehmen Leroi-Gourhans These, daß am Anfang der Kunst nicht der Realismus der Abbildung steht, sondern die Abstraktion. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.37) Ritzungen in Knochen und Steinen, die nichts abbilden, möglicherweise als Zählung oder Ausdruck eines Rhythmusempfindens, oder stilistische Reduktionen von Menschen und menschlichen Körperteilen, wobei die Menschen selbst nur als Strichmännchen dargestellt werden, bestenfalls noch mit einem Geschlechtsmerkmal versehen, ebenfalls oft nur ein zusätzlicher Strich, bei gleichzeitig erstaunlich realistischen, detailgetreuen Abbildungen von Tieren auf Höhlenwänden. Auf Striche reduzierte Ritzungen, deren Abstraktheit so of die Spitze getrieben ist, daß man sie allenfalls noch als ornamental bezeichnen könnte, und die ersichtlich nichts abbilden, möchte ich, gleich zu Beginn dieses Blogposts, als Zeichen definieren, im Unterschied zum Symbol. Das Abstrakte ist das Zeichen. Aus ihm geht bei uns die Schrift hervor, die ebenfalls aus Zeichen, nämlich aus Buchstaben besteht, die nichts abbilden. Das gilt natürlich nur für die europäischen Schriftsysteme und nicht für die Ideogramme von Bilderschriften. Ideogramme sind selbstverständlich Symbole.

Diese Unterscheidung ist wichtig, weil vielfach argumentiert wird, daß die Abstraktionsleistung der Buchstabenschrift das mathematische Denken vorbereitet hat. Buchstaben werden ja auch in der Algebra verwendet. Auch eine „rudimentierte () Menschendarstellung“ wie etwa das erwähnte Strichmännchen (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.209), wird nach meinem Verständnis erst dann zum Symbol, wenn sie als Hieroglyphe, also als Sprachzeichen im Dienste der Kommunikation Verwendung findet. Wenn sie nur der Schaulust dient (Ornament, Dekor) oder etwas auf stilisierte Weise abbildet, ohne etwas zu ‚bedeuten‘ bzw. mitzuteilen, ist sie kein Symbol.

Cs/iee arbeiten sich systematisch an einer Verhältnisbestimmung von Zeichen und Bild ab. Dabei gehen sie von einer „ikonischen Differenz“ aus (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.97f.), mit der sie zwischen ‚Bild‘ und ‚Bedeutung‘ unterscheiden. Das Zeichen selbst unterscheiden sie nicht vom Symbol. Beide sind austauschbar und bildhaft. Diese Gleichsetzung von Zeichen und Symbol ist üblich in den logischen und mathematischen Wissenschaften. Diese Wissenschaften haben kein Interesse am Menschen. Aber in der Kunst sollte man nicht so leichtfertig mit dem Symbolbegriff umgehen. Symbole sind nicht nur graphischer Natur. Es gibt auch sprachliche Bilder, z.B. Metaphern. Sie beinhalten eine Bedeutung, die über logische und technische Funktionalität hinausgeht.

Das Zeichen wird ausschließlich durch Konvention definiert und bleibt immer konventionell. Es beruht auf einer Verabredung oder einem Vertrag. Es ist also artifizieller bzw. technischer Art. Symbole hingegen gehen über Konvention hinaus. Sütterlin ist es, die das, was ich hier „Symbol“ nennen will, auf den Punkt bringt, wenn sie von der „Wahrnehmungsfalle“ spricht. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.97) Symbole sind verführerisch, weil sie uns einen Teil des bewußten Denkens abnehmen, so daß wir mit ihnen oft etwas anderes wahrnehmen, denken und sagen, als wir eigentlich wollen. Zugleich sind sie aber unverzichtbar für unser Denken, weil sie mit ihrer Mehrdeutigkeit Kreativität ermöglichen.

Was ein Zeichen zum Symbol werden läßt, ist dieser Bezug auf etwas anderes, das über bloße Wahrnehmung hinausgeht; weshalb es auch ‚Sym-Bol‘ heißt, nämlich als Zusammen-Fallen zweier im Symbol verknüpfter Perspektiven: Bezeichnendes und Bezeichnetes, Signifikant und Signifikat. Im Symbol kommt das zusammen, was cs/iee die ikonische Differenz nennen: aus abstrakten Zeichen werden Bedeutungsträger. Das abstrakte Zeichen selbst ist aber zunächst keine Bezeichnung, sondern eine willkürliche, abstrakte Ritzung ohne jeden Gegenstandsbezug, der per Konventionalisierung eine logische oder mathematische Funktion zugewiesen wird.

Umberto Eco verwendet für mathematische Zeichen die Begriffe „Symbol“ und „Ausdruck“. (Vgl. „Semiotik und Philosophie der Sprache“: Eco 1985, S.33f.) Aber mathematische Zeichen sind weder Ausdrücke noch haben sie Inhalte. Sie sind Bestandteile von logischen Operationen. Sie bezeichnen Verhältnisse und Beziehungen. Aber niemals drücken sie ‚etwas‘ aus. Allerdings hat Eco Recht, wenn er bei mathematischen Zeichen von „Eins-zu-Eins-Korrespondenzen zwischen Inhalt und Ausdruck“ spricht. (Vgl. Eco 1985, S.33) Er spricht damit die durch Konventionalisierung ermöglichte Identifikation von Zeichen und Funktion an. Nichts an diesen Zeichen ist mehrdeutig. Nur so funktionieren Algorithmen. Nur so funktioniert Maschinenkommunikation.

Und gerade weil es im Zeichen keine Differenz zwischen Inhalt und ‚Ausdruck‘ gibt, drücken mathematische Zeichen nichts aus. Sie gehen in ihrer Funktionalität auf.

Cs/iee machen, wie gesagt, diesen Unterschied zwischen Zeichen und Symbol nicht. Gleich der erste Satz im Kapitel „Gestalt, Motiv, Signal und Symbol“ (vgl. Weltsprache Kunst“ (2007), S.191ff.) geht in die falsche Richtung. In diesem Satz beschreiben cs/iee die Information als ein „Zeichen mit Bedeutung“. (Vgl. Weltsprache Kunst“ (2007), S.191) Es mag sein, daß Informationen in der Kommunikation von Menschen eine Bedeutung haben. Aber in der ‚Kommunikation‘ von Maschinen sind Informationen grundsätzlich bedeutungslos. Und für Maschinen ist der Informationsbegriff entwickelt worden. Wenn deshalb cs/iee im weiteren schreiben, daß Zeichen „Schnittstellen in der Vermittlung von Welt“ sind (vgl. Weltsprache Kunst“ (2007), S.191), dann gilt das nur für Sprachzeichen im engeren Sinne; also für Wörter bzw. für Symbole. Es gilt nicht für mathematische Zeichen und auch nicht für Computersprachen.

Mit Verweis auf die Nachrichtentechnik unterscheiden cs/iee zwischen „Strategien der ‚Sinnbildung‘ und Verständigung“ (vgl. Weltsprache Kunst“ (2007), S.118 und S.192) und bewegen sich damit auf der kulturellen, gesellschaftlichen Ebene, die sie in der Folge aber nicht mehr von der biologischen Ebene unterscheiden können, wenn sie das Verhalten von Konsumenten in der Werbung als hybriden Reiz-Reaktions-Mechanismus beschreiben: „Wir haben es auf allen Ebenen (der Werbung – DZ) mit Hybriden zu tun, einer Vielfalt von einfachen und komplexen Reizen, die unaufhörlich um unsere Aufmerksamkeit buhlen und dazu da sind, uns zu leiten, zu belehren, hinzuweisen und zu führen.“ (Weltsprache Kunst“ (2007), S.192) – Alles, Signale, Reize, Informationen und Bedeutung/Sinn, verschmilzt hier zu einem kybernetischen Algorithmus der Umweltorientierung. Letztlich haben wir es hier mit einem Maschinenverhalten zu tun. Die Zeichen, die uns ‚steuern‘, erfüllen ihre Funktion.

Es ist wichtig, unsere Redeweise nicht mit überflüssigen Analogien zu überfrachten, weil das unser Denken nicht nur fördert; es kann es auch behindern und in die Irre führen. Wenn ich alltägliche Wörter auf naturwissenschaftliche Phänomene anwende, wie es oft in der Neurophysiologie geschieht, wenn bestimmten neuronalen Netzen die Funktion ‚Liebe‘ oder ‚Denken‘ zugewiesen wird, oder wenn ich das Wort ‚Symbol‘ auf Funktionszeichen in Algorithmen und in Computersprachen anwende, dann analogisiere ich diese Bereiche mit menschlichem Verhalten und menschlicher Kommunikation, und am Ende weiß keiner mehr, was menschliche Kommunikation ist.

Diese Vorsicht im Gebrauch von Begriffen ist um so notwendiger, als cs/iee zurecht darauf hinweisen, daß es keine „Unschuld der reinen Form“ gibt (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.203), weil die Menschen geradezu zwanghaft allem in ihrer Umwelt eine Bedeutung zuweisen: „Wie kommt es, dass es kaum ein visuelles Umfeld gibt, das wir nicht als Nachricht mit spezifischer ‚Bedeutung‘ oder zumindest als diffuse Einstimmung erleben? Wie kommt die Bedeutung, wie kommt die Macht, Gefühle zu evozieren, in die Zeichen?“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.204)

Gerade also, weil wir dazu neigen, allem eine Bedeutung zu geben, mißverstehen wir Maschineninteraktionen als Kommunikation. – Zur Beantwortung der Frage von cs/iee, wie die Bedeutung in die Zeichen kommt, ist es unerläßlich, genauer zwischen den Zeichen als bloße Funktion und Sprachzeichen (Symbolen) zu differenzieren. Das gilt natürlich gerade auch für „Signale“, wie sie als „Schlüsselreize“ im Tierreich vorkommen. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.212) Wenn Signale nicht wie beim Menschen als bewußte Sprachcodes verwendet werden, um über große Entfernungen hinweg zu kommunizieren (Lichtzeichen, Flaggen, Morsezeichen), sondern im Tierreich mit Hilfe beispielsweise von Mimikry instinktive Vermeidungsreflexe auszulösen, dann haben wir es nicht mit Symbolen zu tun. Dennoch gibt es überall dort, wo auch im Tierreich kommuniziert wird, also einander bewußt etwas mitgeteilt wird, durchaus Symbole.

Cs/iee kommen tatsächlich selbst auf den Umstand zu sprechen, daß Informationen bedeutungslos sind: „... die Tatsache, dass ein lebender Organismus jede Information auch nach ihrer Bedeutung bewertet“ und daß diese Bedeutung in der Informationstheorie keine Rolle spielt. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.173) – Genau in diesem Sinne sind alle lebenden Organismen subjektiv.

Allerdings sprechen cs/iee noch auf derselben Seite gleich wieder vom „Herausfiltern ‚bedeutsamer‘ Informationen“ aus „Störsignalen“ (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.173), vermengen also wieder Informationsverarbeitung und Gestaltwahrnehmung; auch wenn sie „bedeutsam“ in Anführungsstriche setzen. Aus der Sicht der Informationsverarbeitung sind Informationen niemals bedeutsam. Sie sind und bleiben die technologische Basis von Algorithmen für die Interaktion von Maschinen. Möglicherweise gibt es beim Menschen eine sinnesphysiologische Ebene, die wie eine Maschine funktioniert: aber eben immer nur unterhalb der Bewußtseinsschwelle.

Donnerstag, 28. Juli 2022

Weltsprache Kunst: Gestaltwahrnehmung und Informationsverarbeitung

Crista Sütterlin/Irenäus Eibl-Eibesfeld, Weltsprache Kunst: zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation“ (2007)

Was ich aus der Lektüre von „Weltsprache Kunst“ lerne, ist, daß der Begriff der Gestaltwahrnehmung eine ganz andere Geschichte hat als es meinem Verständnis von ihr entspricht. Cs/iee heben vor allem abstrakte „Gestaltwerte“ hervor und sprechen von den „Formeln der Gestaltwahrnehmung“, von „Struktur“, „Gesetz“ und „Geometrie“. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.333) Sie verbinden den Begriff der Gestaltwahrnehmung mit dem Begriff der Informationsverarbeitung. Das entspricht dem methodischen Ansatz der Gestaltpsychologie, die Ende des 19., Anfang des 20. Jhdts. dem naturwissenschaftlichen Anspruch auf mathematische Berechenbarkeit genügen wollte.

Ich hingegen stelle den Begriff der „Gestalt“ in eine Reihe mit „Sinn“ und „Bedeutung“, also mit dem Verstehen von Texten. Gestaltwahrnehmung ist immer auch Sinnverstehen und Sinnstiftung. Es geht um Vordergrund und Hintergrund als um ein intersubjektiv geteiltes, weltliches Ganzes mit Horizonten, die von keiner Informationsverarbeitung erfaßt werden können. 

Wenn cs/iee von Gestaltwerten sprechen, zerschlagen sie das Ganze der Welt in Splitter und Atome. Die Welt verliert ihre perspektivische Tiefe und wird zu einem flachen Mechanismus. Das ist nicht einfach eine „andere Ebene“, wie cs/iee schreiben (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.333), sondern impliziert gleichzeitig ein Desinteresse am und den Abschied vom Menschen. Das ist kein Vorwurf, den ich gegen cs/iee erhebe, denn die beiden interessieren sich sehr gerade für den Menschen in der Kunst. Aber es ist ein Vorwurf, den ich gegen das Informationsverarbeitungskonzept erhebe.

Wenn es Christa Sütterlin nach eigener Aussage mit der Kunst um das „Wesen ‚hinter‘ der sichtbaren Erscheinung“ geht (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.100), läuft es letztlich auf eine Gestaltwahrnehmung hinaus, wie ich sie verstehe: also Wesen = Gestalt. Wenn Sütterlin aber mit Verweis auf Pythagoras vom „Gleichbleibenden im Wechsel“ spricht, dann übergeht sie die Bewußtseinsleistung, die diese sich durchhaltende Gestaltwahrnehmung ermöglicht, indem sie sie als eine „Proportion“ definiert, deren „Maß“ sich, wie in der Musik, in Zahlenverhältnissen („Ordnung der Zahlen“) ausdrücken läßt. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.102)

Letztlich geht es hier nicht nur um Pythagoras. Es geht auch um die Vorstellung, man könne die Gestaltwahrnehmung als eine gleichermaßen berechenbare wie rechnerische Größe verstehen und so als eine Form der Informationsverarbeitung modellieren. Auch hier werden Qualitäten quantifiziert, d.h. in Zahlenverhältnisse verwandelt. So weit ist Pythagoras von heutigen Vorstellungen gar nicht entfernt. Immer schon lösen Zahlenverhältnisse Gestaltqualitäten vom Körper, den es nur als nicht zählbare Singularität gibt, ab und verwandeln sie in eine unendliche Spiegelung („Harmonie“), in der alles einander gleich ist: „Schönheit geht also schon sehr bald weg vom Einzelphänomen und der äußeren Hülle (wie etwa Glanz, Farbe, Glätte, Größe etc.) zu einem Strukturbegriff, der in das Äußere erst integriert werden muss.“ (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.102)

Wesen, Harmonie, Struktur, Ordnung, Zahlen: das alles sind Begriffe, die das „Einzelphänomen“ hinter sich lassen und sich nur noch in sich selber spiegeln. Ich halte dem entgegen, daß die Gestalt in erster Linie individuell ist, so wie der Körper singulär ist, den wir an seiner Gestalt erkennen. Dieser Wiedererkennungswert bezieht sich vor allem auf seine zeitliche Erstreckung; auf seine verschiedenen, einander nachfolgenden Erscheinungen, in denen wir ihn immer als diesen besonderen Körper wiedererkennen können. Bis dahin, wo die Jungen in den Alten kenntlich bleiben.

Auch die Statistik, gleichfalls eine „Ordnung in Zahlen“, funktioniert nur dort, wo die Einzelphänomene, die singulären Körper, in eine Gesamtqualität überführt werden, wie etwa das Durchschnittsgesicht, auf das cs/iee verweisen, um der schönen Gestalt auf die Spur zu kommen. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.179)

Zurück zum Textverstehen. Daß das Lesen eines Satzes bzw. Textes etwas mit Gestaltwahrnehmung zu tun hat, kommt in folgendem Zitat aus „Weltsprache Kunst“ zum Ausdruck: „Das Ganze wird stärker als seine Teile wahrgenommen, das Subjekt stärker als das Prädikat ().“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.169) – Mit Subjekt und Prädikat sind Sätze gemeint, in denen Dingen und Themen, den ‚Subjekten‘, Eigenschaften und Inhalte, also ‚Prädikate‘ zugeordnet werden. Diese Prädikate verhalten sich zu den Subjekten, wie in der Gestaltwahrnehmung die Teile zu einem Ganzen. Aber das Prädikat ist nicht einfach nur Teil eines Ganzen, also eines Subjekts. Das Subjekt ist auch der Hintergrund, aus dem das Prädikat einen Aspekt als Vordergrund heraushebt. Wir haben es deshalb auch mit einer Vordergrund/Hintergrund- bzw. Figur/Grund-Relation zu tun. Teil/Ganzes, Figur/Grund, Subjekt/Prädikat bezeichnen ähnliche Relationen in der Gestaltwahrnehmung und im Textverstehen.

Wie cs/iee schreiben, ist der Mensch regelrecht süchtig nach Bedeutung. Der Mensch, so cs/iee, „bewertet alles, und zwar prinzipiell. Es gibt kaum eine Empfindung, die subjektiv wertfrei ist.“ – Und: „Wir sind ständig auf der Suche nach Interpretierbarem, nach Dingen, die für uns etwas bedeuten, so wie wir auf der Suche nach Ordnungen sind.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.183)

In der Wahrnehmung ergänzen wir deshalb unvollständige Wahrnehmungen zu einem Gestaltganzen, das wir eigentlich gar nicht sehen. Zahlreiche optische Täuschungen haben hier ihren Grund. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.164f.) Diese Ergänzungssucht kennen wir auch aus dem Bereich des Textverstehens. Autorinnen und Autoren spielen geradezu mit der Neigung von Leserinnen und Lesern, unvollständige Darstellungen zu ergänzen. Darauf basiert das literarische Stilmittel der „Ellipse“. Diese Ergänzungssucht, wie wir sie Ellipsen (Auslassungen im Text) gegenüber empfinden, bringen cs/iee folgendermaßen zum Ausdruck: „Unsere Augen wollen etwas sehen und mit dem Gesehenen gedanklich spielen. Und unser Ordnungssinn der Wahrnehmung hat Appetit, Ordnung zu erkennen und sucht nach ihr.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.170)

Auch hier haben wir also eine Gemeinsamkeit zwischen Textverstehen und Gestaltwahrnehmung. Daraus erwächst übrigens ein verbreiteter Mißbrauch durch Demagogen und Populisten, die dieses Bedürfnis skrupellos ausbeuten, weil sie darauf vertrauen, daß ihre Halbwahrheiten und die absichtlich unvollständigen Informationen, mit denen sie öffentlich auftreten, von dem Publikum unbewußt so ergänzt werden, daß sie ‚Sinn‘ machen. Das Publikum ‚denkt‘ mit; nämlich indem es durch spontanes Sinnverstehen die demagogische Botschaft vervollständigt. Diese Art, das Publikum mit-‚denken‘ zu lassen, ist für den Demagogen effektiver, als es selbst zu sagen. Und auch sicherer. Man kann ihn nicht für das verantwortlich machen, was die Leute verstanden haben.

Denken ist also eine Form der Gestaltwahrnehmung. Aber an dieser Stelle ist die Verführung groß, zur Erklärung dieses Zusammenhangs auf Mechanismen der Informationsverarbeitung zurückzugreifen: „Beim internalisierten Spiel mit unseren Engrammen – den bewußten wie unbewussten Denkprozessen – kommt es zu plötzlichen Erleuchtungen, einem ‚intuitiven‘ Erfassen von Zusammenhängen. ‚Offensichtlich besitzen wir einen Verrechnungsapparat, der imstande ist, schier unglaubliche Zahlen einzelner ‚Beobachtungsprotokolle‘ aufzunehmen und über lange Zeiträume festzuhalten, und der dazu noch die Fähigkeit besitzt, echte Statistik zu treiben. Diese beiden Leistungen müssen angenommen werden, um die unbezweifelbare Tatsache zu erklären, dass unsere Gestaltwahrnehmung fähig ist, aus einer Vielzahl von Einzelbildern, deren jedes mehr akzidentelle als essenzielle Daten enthält, und die sie über große Zeiträume gesammelt hat, als essenzielle Invarianz zu errechnen.‘()“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.179f.; mit einem Zitat von Konrad Lorenz aus „Die Rückseite des Spiegels“)

Unter Rückgriff auf die eingangs erwähnte Gestaltpsychologie (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.115ff.) wird nun das Auge zum „datenverbeitende(n) System“ – hier hat insbesondere der Biologe des Autorenpaars seine Expertise –, das ‚aktiv‘ „Nachrichten aus ihrer Überlagerung durch Störsignale“ (Figur/Grund-Relation) hervorhebt (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.117); und überhaupt haben wir es bei der Gestaltwahrnehmung mit Vorgängen zu tun, die nach dem Modell „nachrichtentechnischer Abläufe (das heißt computergesteuert)“ verlaufen (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.118). – Kritisch fügen cs/iee hinzu: „Das Sehen war seiner semantischen Kompetenz zur Symbolbildung beraubt.“ (Vgl. ebenda) Das hindert sie aber nicht daran, am Informationsverarbeitungsmodell festzuhalten.

Auch weiterhin ist von den „internen Regelkreise(n) und Muster(n)“ des Auges beim Sehen die Rede (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.202) und wird darauf verwiesen, wie die „Datenverarbeitung ... bereits in der Netzhaut (beginnt)“ (vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.163). Noch im Schlußteil des Buches darf nicht der Hinweis auf die „Hirnchemie“ vergessen werden, denn „Schönheit kann wie ein Dopingmittel wirken, das blind macht, verführt und die Falschen einbindet“. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007), S.495) So ist auch hier nochmal der naturwissenschaftlichen Expertise des Biologen Genüge getan; wenn ich mich auch als Leser wiedermal frage, was diese Bemerkung zum Thema eigentlich an wirklich Wissenswertem beizutragen hat.

Mittwoch, 27. Juli 2022

Weltsprache Kunst: das Schöne

Crista Sütterlin/Irenäus Eibl-Eibesfeld, Weltsprache Kunst: zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation“ (2007)

So unterschiedlich die Ansprüche an die Kunst im Laufe der Kulturgeschichte gewesen sind, so stellten Christa Sütterlin zufolge doch alle Epochen einen gemeinsamen Grundanspruch: Kunst sollte Kommunikation ermöglichen. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007, S.15) Gerade aber die ‚moderne‘ Kunst, etwa seit Beginn des 20. Jhdts., hat sich diesem Anspruch weitgehend entzogen: „Die Verbindung von Zeichen und Bedeutung ist undurchschaubar geworden und erneut von einer Bedeutungszuweisung abhängig, die fast nur noch in Händen Einzelner ruht.“ („Weltsprache Kunst“ (2007, S.65)

Um so bedauerlicher ist es, daß nicht nur den Kunstwerken die Kommunizierbarkeit, sondern auch der Schönheit ihre künstlerische Dignität verloren gegangen ist. Sie hätte das Potential, Ungegenständlichem, Abstraktem auch dort noch Sinnhaftigkeit zu verleihen, wo dem Laien sonstige Zugänge verschlossen bleiben.

Sütterlin macht drei Dimensionen des Schönen auf: den Gegenstand, an dem das Schöne haftet. Hier ist es bloßes Attribut. Dann gibt es die gegenstandslose Schönheit von Ornamenten, Figurationen und Farben. Diese abstrakten Darstellungsformen tendieren dazu, sich im subjektiven Belieben einzelner Künstlerindividuen aufzulösen. Drittens gibt es die geistige Schönheit idealer Formen (Geometrie), die auf höhere Gestalten und Ideen verweisen (Platon). Zu dieser geistigen Schönheit gehört auch eine Metaphysik des Ganzen, das über seine Teile hinaus weist auf einen höheren Sinn. Hier sind die schönen Gegenstände nur Sinnbilder, Symbole einer verborgenen Wesenheit.

Die letztere Schönheitsauffassung hat die Kunstgeschichte des Abendlands seit der griechischen Antike geprägt: „Bisher lag das Schöne stets auf einer ideellen Verbindungslinie zwischen dem Ewigen und dem Irdischen, indem es das Eine ins Andere einbrachte: die Einheit ins Mannigfaltige, das Gesetz in den Zufall, das Urbild ins Abbild. Da diese Übertragung nie eine lückenlose sein konnte, behielt das Schöne lange seinen transzendentalen Charakter. Es war nie restlos in den Dingen, sondern immer etwas dahinter. Die Frage nach dem Schönen kam der Suche nach der Wahrheit gleich und blieb eine philosophische Frage.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.113)

Der Grund, warum sich die Kunst mit dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jhdt. von dieser Schönheitsauffassung zunehmend und schließlich vollständig abgewandt hatte und immer formloser und subjektiv beliebiger wurde, lag in dem Wunsch, der „Wahrnehmungsfalle“ zu entkommen. Wahrnehmungsphysiologische Beschränkungen und kulturelle Vorurteile legen fest, wie und als was wir die Dinge, die wir sehen, bewerten und auffassen. Künstlerinnen und Künstler sahen ihre Aufgabe nun darin, den Blick der Menschen zu öffnen und sie dazu anzuregen, die Wahrnehmungsfalle zu durchschauen: „Die Wahrnehmungsfalle bestand immer auch darin, in einem wahrgenommenen Ding ein zweites, anderes zu sehen, das ihm Sinn und Bedeutung verleiht.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.97)

Letztlich sollen nicht nur die Gegenstände keine Bedeutung mehr haben. Auch die Kunst selbst soll in ihren Werken bedeutungslos sein. Gegenständlichkeit, Bedeutung und Schönheit sind verpönt.

Die „Wahrnehmungsfalle“, vor der sich diese modernen Künstlerinnen und Künstler so sehr fürchten, ist letztlich nichts anderes als die Gestaltwahrnehmung; also unsere Fähigkeit und Neigung überall Gestalten und Muster zu erkennen. Der Wahrnehmungsfalle entgehen zu wollen, also die Aufhebung der Differenz von Bild und Bedeutung, läuft auf die Abschaffung von Wahrnehmung hinaus. Denn was sind Sinn und Bedeutung anderes als die hermeneutischen Entsprechungen zum Gestaltbegriff? Sütterlin stellt fest: „... die ‚ikonische Differenz‘ zwischen dem Bild und jenem ‚anderen‘, das es darstellt, ist die Quelle aller schöpferischen Inspiration, die sich immer aus den Ungleichgewichten zwischen einer Unbestimmtheit und einem Überhang der Phantasie hergeleitet hat.()“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.97f.)

Folgende wahrscheinlich von Eibl-Eibesfeld beigetragene Anekdote fand ich amüsant. Seit Mitte der 1950er Jahre experimentierte Desmond Morris mit malenden Schimpansen: „Mittlerweile kennt man eine ganze Reihe malender Menschenaffen. Morris stellte die von seinen Schimpansen gemalten Bilder zusammen mit Bildern moderner Künstler in einer Galerie zusammen, ohne die Schimpansen als Künstler zu nennen. Keiner der Experten und keiner der Besucher erkannten den tierischen Ursprung. Viele Experten priesen die Malereien als besonders vitale Zeugnisse der Bewegungsmalerei.“ („Weltsprache Kunst“ (2007, S.53)

Wenn Bilder nichts mehr bedeuten sollen und die Künstler auf Kommunikation verzichten, ist dies die logische Konsequenz.

Montag, 25. Juli 2022

Weltsprache Kunst

Crista Sütterlin/Irenäus Eibl-Eibesfeld, Weltsprache Kunst: zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation“ (2007)

Im Untertitel des Buches steckt schon die Erklärung für die doppelte Autorenschaft von Christa Sütterlin, Kunstgeschichtlerin und Philosophin, und von Irenäus Eibl-Eibesfeld, Verhaltensforscher und Biologe. Die Autorin (cs) und der Autor (iee) repräsentieren die zentralen zwei Entwicklungsebenen, Kultur und Biologie, aus denen sie die Kunst konvergieren lassen, die wiederum eine dritte Entwicklungsebene impliziert: die Künstlerin, den Künstler als Individuen. In der Ausführung dieses Grundgedankens hat aber der Ethologe Eibl-Eibesfeld, der die biologische Entwicklungsebene vertritt, aus meiner Sicht nur wenig Relevantes zum gemeinsamen Thema beizutragen. Sein Beitrag beschränkt sich auf die biologisch evolvierten Instrumente, deren sich die Künstler bedienen, um Kunstwerke zu erschaffen, mit denen sie die Aufmerksamkeit des Publikums erregen, die dann aber weit über alle biologischen Beschränkungen unserer Wahrnehmungsphysiologie und Aufmerksamkeitsroutinen hinaus in Bewußtseinsdimensionen vordringen, die überhaupt erst dazu berechtigen, im emphatischen Sinne von Kunst zu reden. Und an dieser Stelle beginnt der Beitrag von Christa Sütterlin, die die Hauptverantwortung für den eigentlichen kunstgeschichtlichen Hauptteil des Buches trägt.

Mit anderen Worten, wenn es um Kunst geht, hat Christa Sütterlin das Wort. Wenn es um die genetischen und neurophysiologischen Basics geht, hat Eibl-Eibesfeld das Wort. Da es aber eben um Kunst geht – auch wenn der Fokus auf der ‚Kommunikation‘ liegt; ein vieldeutiger, schillernder Begriff –, hat er letztlich nicht viel zu sagen. In meinen Augen ist er als Biologe bei diesem Thema nicht auf Augenhöhe mit der Kunstgeschichtlerin; auch wenn ich sonst immer sehr für Interdisziplinarität bin.

Sicher ist Kunst auch Kommunikation, also Sprache. Aber Kunst ist eben keine Maschinenkommunikation, was weite Teile der naturgeschichtlichen Exkurse nahelegen. Eibl-Eibesfelds Autorität als Biologe führt hier zu beinahe unvermeidlichen Mißverständnissen. Die Kunst ist keine Form der Informationsverarbeitung. Nicht einmal teilweise oder in gewisser Weise. ‚Sprache‘ bildet deshalb auch keine Brücke zwischen Biologie und Kultur, sondern sie ist eine Bewußtseinsleistung, die zur zweiten (Kultur) und dritten (Individuen) Entwicklungsebene gehört; also zur Expertise von Christa Sütterlin.

In der nächsten Zeit werde ich meine Lektüreeindrücke von dem schweren Katalog, gut und gern zwei Ziegelsteine schwer, wie ich in einem früheren Blogpost schätzte, posten. Dabei wird es um den Zeichenbegriff gehen, den cs/iee ihrem Buch zugrundelegen, um die Begriffe der Gestaltwahrnehmung und der Informationsverarbeitung, um das Schöne und um die Rolle, die die beiden dem Individuum in der Kunstgeschichte zuweisen. Ich äußere mich als Laie und erhebe keinerlei Anspruch auf irgendeine Autorität mit Ausnahme derjenigen meiner subjektiven Perspektive.

Montag, 11. Juli 2022

Geschichte der Unvernunft

Wenn die Atomkraft-Ideologen von einer ‚ideologiefreien‘ Neubewertung der Atomtechnologie sprechen, ist vor allem eines gewiß: sie gehen den Erfolgspfad aller Populisten, genau das, was sie selbst tun, anderen vorzuwerfen. Sie verkaufen Lüge als Wahrheit, Despotie als Demokratie und Rückschritt als Fortschritt oder eben eine Ideologie als Sachlichkeit. Sie sind keine Ideologen, nein, die anderen sind es!

Was die Atomkraft als ‚Reserve‘ für einen gerade von diesen Politikern mitverschuldeten drohenden Energiekollaps betrifft, bildet sie seit ihrer Erfindung den Sieg der Unvernunft über die Vernunft. Und genau das ist der Kern einer viertausendjährigen Geschichte des Patriarchats. Carola Meier-Seethaler spricht von den vier Säulen des Patriarchats: Mord, Raub, Vergewaltigung und Lüge. Atomkraftwerke vereinen alle diese vier Säulen in sich: sie sind Mord an den verstrahlten Opfern von Atomkatastrophen wie Tschernobyl und Fukushima; Raub an der Zukunft von ungezählten Generationen für die nächsten hundert-, zweihunderttausend Jahre; Vergewaltigung der Naturgesetze im Dienste des sogenannten Fortschritts; und Lüge, was die technische Lösbarkeit der atomaren Hinterlassenschaften betrifft. Hinsichtlich des letzten Punktes – wenn man nicht bereit ist, die Atomkraftbefürworter mit ihrer unfaßbaren Naivität zu entschuldigen – ließe sich die Liste der Lügen zur Sauberkeit und Sicherheit der Atomkraftwerke noch reichlich fortsetzen.

Offen gesagt: ich bin bereit, den nächsten Winter ein wenig zu frieren. Ich habe schon Erfahrung darin, denn ich habe die letzten drei Winter damit experimentiert, gar nicht mehr zu heizen, unter Einsatz von Pullovern und einer warmen Decke beim abendlichen Fernsehgucken. Ich bin nicht krank geworden. Mein Immunsystem wurde gestärkt. Und ich habe Geld gespart.

Es wird Zeit, daß die Fortschrittserzählung, die in Europa gerne mit dem antiken Griechenland angesetzt wird, durch eine Geschichte der Unvernunft ersetzt wird. Sogar Habermas gesteht in seinem Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) ein, daß mit diesem ‚Fortschritt‘, den er mit dem Neolithikum vor 12.000 Jahren beginnen läßt, auch Kollateralschäden einhergehen. So spricht er von den „sich fortgesetzt umwälzende(n) Lebensverhältnissen“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.119), vom Klimawandel und von risikoreichen Großtechnologien, von den „Folgen des finanzgetriebenen Kapitalismus“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.124), und dann noch einmal von der „unaufhaltsame(n) Umwälzung der alltäglichen Lebensverhältnisse“ (vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.145). Habermas gesteht, daß er das „Thema der Unvernunft in der Geschichte“ bislang vernachlässigt habe. (Vgl. Habermas 2019, 1.Bd., S.174) Statt aber nun das Verhältnis von Vernunft und Unvernunft gründlich zu erörtern, bekennt sich Habermas bedenkenlos dazu, daß er auch diesmal in seinem Buch nicht weiter darauf eingehen wolle. Er beharrt darauf, seine Fortschritterzählung, die den roten Faden seiner „Geschichte der Philosophie“ bildet, durchzuziehen.

Daß Habermas die ‚Unvernunft‘ in seiner Philosophiegeschichte nicht berücksichtigen will, impliziert immerhin das Eingeständnis, daß es eine solche gibt. Zugleich verbirgt dieses Eingeständnis, daß die Fortschrittsgeschichte selbst wesentlich etwas mit dieser sich immer wieder durchsetzenden Unvernunft zu tun hat. Carola Meier-Seethaler bringt diese Unvernunft in ihrem Buch „Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie“ (2011) auf den Punkt, indem sie sie am Wechsel vom Matrizentrismus zum Patriarchat vor drei-, viertausend Jahren festmacht, der zur Etablierung einer ‚Kultur‘ der fortschreitenden Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen durch eine ihr destruktives Potential fortwährend steigernde Technologie, wie wir sie heute vor Augen haben, geführt hatte.

Im Titel ihres Buches steht „Ursprünge“ für den „Beginn unserer heutigen Kulturbasis“, also für das Patriarchat, mit dem ein „tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel“ einhergegangen ist. (Vgl. CMS 2011, S.27) Dabei ist das Patriarchat in seinen Ursprüngen motiviert durch die biologische „Outsiderposition“ des Mannes, nämlich nicht gebären zu können. Viele Jahrzehntausende, Jahrhunderttausende, je nachdem wie weit man den homo sapiens zurückdatiert, war den Menschen nicht bewußt gewesen, daß der Mann zum Zeugungsakt eines Kindes was beitrug. Die Rolle des Vaters hatte immer der Bruder der Mutter inne. Diese Unkenntnis war auch durch eine „Ovulationshemmung“, die es heute nicht mehr gibt, während der drei- bis vierjährigen Stillzeit bedingt, in der die Mutter Sex haben konnte, aber nicht ‚befruchtet‘ werden konnte. ‚Befruchtung‘ ist übrigens wieder so ein verfälschender Terminus, weil die ‚Frucht‘ ja nicht vom Mann stammt, sondern von der Frau.

Als dann über die Viehzucht im Neolithikum der Beitrag des Mannes erkannt wurde, begannen die Männer diesen ‚Zeugungsakt‘ so zu überhöhen, daß sie auf lange Sicht, also im Verlauf von mehreren Jahrtausenden, allmählich die matrizentrische Kultur verdrängten und ihre ‚Minderwertigkeit‘ hinsichtlich der Gebärfunktion mit Hilfe des Patriarchats überkompensierten. Zu diesem Patriarchat gehören notwendigerweise Kriege und die zunehmende Zerstörung der planetaren und humanitären Ressourcen. Hinsichtlich der erwähnten vier Säulen kann es da mit Blick auf die mögliche Rückkehr eines gescheiterten US-Präsidenten an die Macht nicht verwundern, daß dessen Lügenexzesse von einem großen Teil der US-amerikanischen Wählerschaft goutiert werden. Er macht genau das, was von ihm in einer patriarchalen Gesellschaft erwartet wird.

So viel zu den ‚Ursprüngen‘. Was die „Befreiungen“ betrifft, geht es der Autorin um eine gleichzeitig gesellschaftliche wie individuelle „Befreiung zur Partnerschaft“, in der sich die „Fragen der Sexualität ebenso neu zu stellen haben, wie die Frage nach der Ehe oder anderen dauerhaften Gemeinschaften“. (Vgl. CMS 2011, S.34) Dabei ist Meier-Seethaler zwar Feministin, aber sie hält nach wie vor an der verschiedenartigen Körperlichkeit von Männern und Frauen fest. Männer können eben nicht Kinder gebären; das macht auch psychologisch einen Unterschied. Letztlich sind sie der Autorin zufolge nur im „Überlebenskampf in der Natur“ und in ihrer „existenziellen Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen“ ursprünglich gleich: „Dabei waren weder die psychischen Schöpfungen von Mythos und Kult noch die materiellen Kulturinnovationen dem männlichen Geschlecht vorbehalten, vielmehr spricht alles dafür, dass sowohl im sozialen wie im kulturellen Bereich zunächst ein Ungleichgewicht zugunsten der Frau bestanden hat, was zu vielschichtigen Kompensationen auf der Seite des Mannes führte.“ (CMS 2011, S.30f.)

Was die „Befreiungen“ betrifft, im Sinne einer Partnerschaft auf Augenhöhe, spricht Meier-Seethaler im Plural, also von einer Vielzahl individueller Befreiungen in den Paarbeziehungen, zu denen zwar ein unterstützendes, nicht mehr patriarchales gesellschaftliches Milieu gehört, das aber nicht als ein Zwangskollektivismus verstanden werden darf. Die Beziehungsarbeit ist zu einem großen Teil eine individuelle.

Mich spricht Meier-Seethalers kulturtheoretische Analyse an. Sie entspricht meiner eigenen psychischen Verfassung; meinem Offline-Projekt und damit verbunden meinem Versuch, meinem Begehren eine andere, individuelle Gestalt zu geben. Habermasens Fortschrittsgeschichte krankt daran, daß er die Unvernunft in der Vernunft nicht thematisieren will. Er bleibt weitgehend blind für das destruktive Projekt einer patriarchal deformierten, mißverstandenen Naturwissenschaftlichkeit, alles Subjektive und Emotionale aus der Forschung auszublenden. Nur so kann sich diese Fortschrittsgeschichte als Fortschritt bis heute behaupten; eine kleine Weile noch.