„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 27. Juli 2022

Weltsprache Kunst: das Schöne

Crista Sütterlin/Irenäus Eibl-Eibesfeld, Weltsprache Kunst: zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation“ (2007)

So unterschiedlich die Ansprüche an die Kunst im Laufe der Kulturgeschichte gewesen sind, so stellten Christa Sütterlin zufolge doch alle Epochen einen gemeinsamen Grundanspruch: Kunst sollte Kommunikation ermöglichen. (Vgl. „Weltsprache Kunst“ (2007, S.15) Gerade aber die ‚moderne‘ Kunst, etwa seit Beginn des 20. Jhdts., hat sich diesem Anspruch weitgehend entzogen: „Die Verbindung von Zeichen und Bedeutung ist undurchschaubar geworden und erneut von einer Bedeutungszuweisung abhängig, die fast nur noch in Händen Einzelner ruht.“ („Weltsprache Kunst“ (2007, S.65)

Um so bedauerlicher ist es, daß nicht nur den Kunstwerken die Kommunizierbarkeit, sondern auch der Schönheit ihre künstlerische Dignität verloren gegangen ist. Sie hätte das Potential, Ungegenständlichem, Abstraktem auch dort noch Sinnhaftigkeit zu verleihen, wo dem Laien sonstige Zugänge verschlossen bleiben.

Sütterlin macht drei Dimensionen des Schönen auf: den Gegenstand, an dem das Schöne haftet. Hier ist es bloßes Attribut. Dann gibt es die gegenstandslose Schönheit von Ornamenten, Figurationen und Farben. Diese abstrakten Darstellungsformen tendieren dazu, sich im subjektiven Belieben einzelner Künstlerindividuen aufzulösen. Drittens gibt es die geistige Schönheit idealer Formen (Geometrie), die auf höhere Gestalten und Ideen verweisen (Platon). Zu dieser geistigen Schönheit gehört auch eine Metaphysik des Ganzen, das über seine Teile hinaus weist auf einen höheren Sinn. Hier sind die schönen Gegenstände nur Sinnbilder, Symbole einer verborgenen Wesenheit.

Die letztere Schönheitsauffassung hat die Kunstgeschichte des Abendlands seit der griechischen Antike geprägt: „Bisher lag das Schöne stets auf einer ideellen Verbindungslinie zwischen dem Ewigen und dem Irdischen, indem es das Eine ins Andere einbrachte: die Einheit ins Mannigfaltige, das Gesetz in den Zufall, das Urbild ins Abbild. Da diese Übertragung nie eine lückenlose sein konnte, behielt das Schöne lange seinen transzendentalen Charakter. Es war nie restlos in den Dingen, sondern immer etwas dahinter. Die Frage nach dem Schönen kam der Suche nach der Wahrheit gleich und blieb eine philosophische Frage.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.113)

Der Grund, warum sich die Kunst mit dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jhdt. von dieser Schönheitsauffassung zunehmend und schließlich vollständig abgewandt hatte und immer formloser und subjektiv beliebiger wurde, lag in dem Wunsch, der „Wahrnehmungsfalle“ zu entkommen. Wahrnehmungsphysiologische Beschränkungen und kulturelle Vorurteile legen fest, wie und als was wir die Dinge, die wir sehen, bewerten und auffassen. Künstlerinnen und Künstler sahen ihre Aufgabe nun darin, den Blick der Menschen zu öffnen und sie dazu anzuregen, die Wahrnehmungsfalle zu durchschauen: „Die Wahrnehmungsfalle bestand immer auch darin, in einem wahrgenommenen Ding ein zweites, anderes zu sehen, das ihm Sinn und Bedeutung verleiht.“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.97)

Letztlich sollen nicht nur die Gegenstände keine Bedeutung mehr haben. Auch die Kunst selbst soll in ihren Werken bedeutungslos sein. Gegenständlichkeit, Bedeutung und Schönheit sind verpönt.

Die „Wahrnehmungsfalle“, vor der sich diese modernen Künstlerinnen und Künstler so sehr fürchten, ist letztlich nichts anderes als die Gestaltwahrnehmung; also unsere Fähigkeit und Neigung überall Gestalten und Muster zu erkennen. Der Wahrnehmungsfalle entgehen zu wollen, also die Aufhebung der Differenz von Bild und Bedeutung, läuft auf die Abschaffung von Wahrnehmung hinaus. Denn was sind Sinn und Bedeutung anderes als die hermeneutischen Entsprechungen zum Gestaltbegriff? Sütterlin stellt fest: „... die ‚ikonische Differenz‘ zwischen dem Bild und jenem ‚anderen‘, das es darstellt, ist die Quelle aller schöpferischen Inspiration, die sich immer aus den Ungleichgewichten zwischen einer Unbestimmtheit und einem Überhang der Phantasie hergeleitet hat.()“ („Weltsprache Kunst“ (2007), S.97f.)

Folgende wahrscheinlich von Eibl-Eibesfeld beigetragene Anekdote fand ich amüsant. Seit Mitte der 1950er Jahre experimentierte Desmond Morris mit malenden Schimpansen: „Mittlerweile kennt man eine ganze Reihe malender Menschenaffen. Morris stellte die von seinen Schimpansen gemalten Bilder zusammen mit Bildern moderner Künstler in einer Galerie zusammen, ohne die Schimpansen als Künstler zu nennen. Keiner der Experten und keiner der Besucher erkannten den tierischen Ursprung. Viele Experten priesen die Malereien als besonders vitale Zeugnisse der Bewegungsmalerei.“ („Weltsprache Kunst“ (2007, S.53)

Wenn Bilder nichts mehr bedeuten sollen und die Künstler auf Kommunikation verzichten, ist dies die logische Konsequenz.

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