„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 19. Oktober 2022

Seyn versus Handeln

Byung-Chul Han, Vita contemplativa oder von der Untätigkeit, 2022

Schon der Titel des Buchs von Byung-Chul Han zeigt, daß sich der Autor dezidiert gegen Hannah Arendts „Vita activa“ (1958/60) richtet, also gegen ihr Konzept von Politik und vom politischen Handeln: „Für Arendt gilt: Sein ist kreatürlich. Menschlich ist Handeln. Arendt verleiht dem Politischen eine ontologische, ja soteriologische Dignität.“ (Han 2022, S.80f.)

Han geht sogar so weit, zu behaupten, daß Arendt für eine Entwicklung steht, in der ein „Kult“, ein „Gottesdienst des Selbst, in dem jeder Priester seiner selbst ist“, betrieben wird. (Vgl. Han 2022, S.94) Gleichzeitig aber ist er selbst einem Kult um das „Seyn“, zu dem er Arendts Handlungskonzept in einen Gegensatz stellt, verfallen. Er selbst plädiert für einen Gottesdienst der Selbstlosigkeit im Dienste dieses Seyns.

Das Grundproblem besteht darin, daß Han seine berechtigte Kritik an Arendts Fixierung auf das politische Handeln von Heidegger her betreibt, also ausgerechnet mit jenem Autor, von dem sich Hannah Arendt aus guten Gründen abgewandt hatte. Und Spuren dieser Abwendung durchziehen ihr ganzes politisches Denken, so daß sie ihre Begrifflichkeit oft als wohldurchdachte Antithesen zu Heidegger entwickelt hat.

Wenn sich Han also auf Heidegger beruft, hätte er Arendts Kritik an Heidegger mitbedenken müssen, und dann wären ihm seine Hymnen auf die Passivität, auf das Nicht-Tun und Nicht-Handeln, auf die Mystik des Seyns nicht so leicht von der Feder aufs Blatt geronnen. Mit Heidegger für „Kulthandlungen“ zu schwärmen, die die Menschen „zu einem kollektiven Körper“ verschmelzen lassen, in dem „keine Individualität“ zugelassen wird (vgl. Han 2022, S.79), ist angesichts seiner Kritik an Hannah Arendt, vorsichtig formuliert, peinlich.

Der Heidegger, auf den sich Han bezieht, ist der Heidegger der „Kehre“, nicht der Heidegger von „Sein und Zeit“, der noch selbst im Zeichen der Eigentlichkeit und angesichts des Todes das menschliche Dasein als der Sorge gewidmetes Handeln konzipierte. (Vgl. Han 2022, S.52ff.) Dem Heidegger der Kehre gehe es hingegen nur noch um das Seyn, mit ‚y‘ geschrieben. Dieses Seyn ist im Unterschied vom Sein in „Sein und Zeit“ pure Metaphysik. In „Sein und Zeit“ hatten wir es noch mit einer Anthropologie zu tun, wo Metaphysik nichts zu suchen hat. Zwar hat Han einen durchaus anti-metaphysischen Blick auf das, was er „Immanenz“ nennt (vgl. Han 2022, S.30f. und S.46) und das in etwa dem entspricht, was ich mit Husserl „Lebenswelt“ nennen möchte. Aber Han verleiht dieser Immanenz eine kultische Tiefe. Es ist nicht einfach nur das Leben, das wir leben, sondern es hat eine Tiefe, die ‚west‘ und, anders als die Lebenswelt, keiner Subjektivierung zugänglich ist. Die „radikale Immanenz“, wie es auch heißt, ist eine innere Stimme, besser noch eine unpersönliche Stimmung, und als solche „kein subjektiver Zustand, der auf die objektive Welt abfärbt“: „Sie ist die Welt. Ja sie ist objektiver als die Welt, ohne jedoch selbst ein Objekt zu sein.“ (Vgl. Han 2022, S.46f.)

Die radikale Immanenz als Stimmung „bildet also den vorreflexiven Rahmen für Tätigkeiten und Handlungen“. (Vgl. Han 2022, S.47)

Im großen und ganzen – und ohne Metaphysik – läuft es auf die husserlsche Lebenswelt hinaus. Han aber nennt es „Seyn“ und bricht damit eine Lanze für Heideggers Priesterschaft.

Alternativ für „Seyn“ ist bei Han auch von „Natur“ die Rede. (Vgl. Han 2022, S.41ff., 51, 109f.) Der Naturbegriff steht gewissermaßen vermittelnd zwischen dem Seyn und dem Göttlichen. Er soll uns als Naturschönes für das „Schauen“ als Hingabe an das Schöne in uns und ums herum und damit für den Gottesdienst empfänglich machen: „Die Natur öffnet dem sich frei und souverän wähnenden Subjekt das Auge und befähigt es zum Schauen.“ (Han 2022, S.109) Je schöner uns etwas erscheint, um so bereitwilliger geben wir uns ihm hin, insbesondere das Ich, an dem wir in einer kapitalistisch deformierten Welt so verbissen festhalten.

Das Ich, insbesondere als politisches Subjekt im Arendtschen Sinne, ist für Han die Ursache allen Übels. Mal ist es der „Meister der Untätigkeit“, der nicht „Ich“ sagt, mal ist es der Genius der Erzeugung, an dem der „Anspruch des Ich“ zerschellt. (Vgl. Han 2022, S.55, 96) Dann wieder haben wir es mit einer „taghellen Mystik“ zu tun, „in der das Ich seiner eigenen Auflösung friedlich beiwohnt“. (Vgl. Han 2022, S.96f.)

Um den Anspruch des kapitalistischen Ich so gründlich wie möglich zurückzuweisen, verkehrt Han auch schon mal Ursache und Wirkung, wie in folgender Textstelle, wo er sich mal nicht auf Heidegger, sondern auf dessen Lieblingsdichter Hölderlin bezieht: „Dem Handeln haftet ein Seinsmangel an. Hölderlin macht das Selbst, das Subjekt des Handelns für den permanenten Widerstreit, für den Verlust des Seyns verantwortlich ...“ (Han 2022, S.108)

Was immer Hölderlin dazu zu sagen hat: umgekehrt wird ein Schuh daraus! Dem Handeln haftet nur insofern ein Seinsmangel an, als dieser Seinsmangel ein anthropologisches Faktum bildet, weswegen Menschen gar nicht anders können als zu handeln. Das „Subjekt des Handelns“ ist für den Verlust des Seyns nicht verantwortlich, sondern es geht aus diesem Verlust allererst hervor.

Nicht das Schauen, das Han an die Stelle des Handelns setzen will, ist in meinen Augen zweifelhaft, sondern die Bezugsgrößen, die Han heranzieht, für das, worum es ihm geht. Neben Heidegger z.B. Augustinus: „Bei Augustinus fallen Schauen und Lieben in eins. Erst wo die Liebe ist, öffnet sich das Auge ().()“ (Han 2022, S.68) – Die Verbindung von „Schauen und Lieben“ hat bei Augustinus, den Sloterdijk auch als „Hysteriker von Hippo“ bezeichnet, etwas zutiefst Mißbräuchliches, Übergriffiges. Augustinus, der Erfinder der Erbsünde, bezeichnete die fleischliche Liebe als die Ursünde, die sich von Generation zu Generation weitervererbt. Wenn dieser Augustinus also von „Schauen und Lieben“ spricht, so ist damit vor allem eins gemeint: gute Christenmenschen dürfen nur schauen; anfassen verboten!

Han sollte sich also seine Gewährsleute sorgfältiger aussuchen. Andere Gewährsleute wiederum, auf die er sich bezieht, sind keine. Wenn Han Adorno zitiert, der schreibt, daß „das Ich“ beim Anblick der Natur „aus der Gefangenschaft in sich selbst“ heraustritt (vgl. Han 2022, 110), so ist damit eben nicht vom „Trotz“ einer „Selbstsetzung“ die Rede, aus der das Ich gelöst wird, möglicherweise noch mit der Tendenz, seine eigene Nichtigkeit zu erkennen und sich bereitwillig aufzulösen. Im Gegenteil spricht Adorno von einer Befreiung des Ich. Adorno sagt also das Gegenteil von dem, was Han zu suggerieren versucht.

Wenn Han die hingebungsvolle, passive Schau (Heidegger) gegen das politische Handeln (Arendt) setzt, schränkt er seine Begrifflichkeit auf einen das menschliche Bewußtsein bestimmenden Dualismus ein; auf ein entweder/oder. Das führt wiederum dazu, daß er auch Begriffe einem dieser beiden Pole zuordnet, die weder mit dem einen, noch mit dem anderen etwas zu tun haben.

So bezeichnet Han den „Zustand der Begeisterung“, der für die Hingabe der Schau steht, als ein „Neben-sich-stehen“. (Vgl. Han 2022, S.97) Aber Begeisterung und neben sich stehen schließen einander aus. Wer neben sich steht, ist im Zustand der Beobachtung, nicht im Zustand der Begeisterung. Wer sich oder anderes beobachtet, ist hellwach und aufmerksam; er weiß, was er tut. Wer hingegen im Zustand der Begeisterung ist, ist es weder mit sich noch neben sich, sondern ohne sich. Hier kann in der Tat von einem Ich nicht die Rede sein. Auch Han verwendet für diesen Zustand das Wort „Selbstvergessenheit“. (Vgl. Han 2022, S.96)

Wenn wir schlafen, sind wir ohne uns. Wenn wir uns hingeben, einer Sache, einem Menschen, sind wir ohne uns. Wenn wir begeistert sind, sind wir ohne uns. Ohne-sich-sein bedeutet, daß wir nicht mehr apperzipieren. Wir begleiten unsere Wahrnehmungen nicht mehr mit einem Denken. Wenn es der tiefere Zweck eines Kultus ist, sich hinzugeben und als Ich aufzugeben, dann hören wir auf zu apperzipieren. Hans Schau ist ein Sehen-ohne-Denken; ein Sehen-ohne-sich. Aber eins ist es nicht: ein Neben-sich-stehen.

Apperzeption ist das Dritte zwischen zwei sich wechselseitig ausschließenden Gegensätzen: der mystischen Schau und dem politischen Handeln. Arendt nannte es das Zwiegespräch mit sich selbst, zu dem sie sich regelmäßig in ihr Zimmer zurückzog. Dieses Zwiegespräch bedeutete für sie, zu hören, was sie sagte, und zu denken, was sie sah. Das Zwiegespräch intermittiert unser Handeln. Apperzeption ist Meditation und hat eine eigene Mystik. Eine wache Mystik jenseits des Schlafs.

Samstag, 8. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Wieso aber beziehe ich R/Js Begriff der Zweiheit, deren Medium die Rede ist und in der sich Intelligenzen als Gleiche begegnen, um sich gegenseitig zu ‚erraten‘, auf meine Formel von Ich = Du? Können sich nicht im Medium der Rede viele versammeln, die einen als Redende, die anderen als Publikum? Und können nicht in solchen Versammlungen mithilfe von Prozeduren gemeinsame Entscheidungen gefällt werden, wie das in demokratisch gewählten Parlamenten geschieht? Ist es nicht sogar so, daß wo einer sich irrt, viele, sich gegenseitig korrigierend, gemeinsam meist das Richtige treffen?

R/J verneint das ganz entschieden: „Es gibt keine Intelligenz dort, wo es Anhäufung gibt, Aneinanderbinden von Verstand an Verstand.“ (Rancière 2007, S.45) Als ‚Anhäufungen‘ bezeichnet R/J jede Art von Versammlungen und darüberhinaus, ganz allgemein, die Gesellschaft. Als ‚Anhäufung‘ entwickelt sie eine Schwerkraft, so wie aus einer aufgehäuften Ansammlung von Staub Planeten und Sterne hervorgehen. (Vgl. Rancière 2007, S.92ff.) Diese Schwerkraft zieht die Individuen in ihren Band und richtet ihr Denken aus, wie ein Magnet Eisenspäne ausrichtet. Das ist das Prinzip der Verdummung als Gegensatz zur individuellen Intelligenz.

R/J verortet die Intelligenz einzig in den Individuen, und die Emanzipation richtet sich ebenfalls einzig auf Individuen und nicht auf Gesellschaften: „Nur ein Individuum kann vernünftig sein, und nur nach seiner eigenen Vernunft.“ (Rancière 2007, S.120). Der Begriff der Zweiheit ist also wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich wirklich nur auf zwei Menschen und deren Intelligenz. Und R/J geht sogar so weit, aus dieser sich auf zwei Menschen fokussierenden Beziehung – und nicht aus der größtmöglichen Anhäufung – die Menschheit als Gattung hervorgehen zu lassen: „Die Gleichheit der Intelligenzen ist das einigende Band des Menschengeschlechts, die notwendige zureichende Bedingung dafür, dass eine Gesellschaft von Menschen existiert.“ (Rancière 2007, S.90) – Und noch einmal: „Man hat hingegen keine Vernunft von der gesellschaftlichen Gesamtheit zu erwarten.“ (Rancière 2007, S.94)

Ich finde es einerseits recht erfrischend, wenn auf diese drastische Weise die gesellschaftliche Praxis in ihrer rationalen Begrenztheit dargestellt wird. Der Glaube an eine gesamtgesellschaftliche Ratio, wie sie z.B. von Jürgen Habermas vertreten wird, basiert auf einer entgegengesetzten Einschränkung: der des Individuums. Habermas kann sich das Individuum nur als Teil der gesellschaftlichen Ratio denken. Ich neige dazu, mich eher auf die Seite von R/J als auf die von Habermas zu stellen. Dennoch fehlt bei R/J ein Verständnis dafür, daß die Lebenswelt das individuelle Bewußtsein nicht einfach nur deformiert. Individuelles Bewußtsein kann sich nur in seiner Lebensweltlichkeit entwickeln. Aber individuieren kann es sich nur in Beziehungen, die ihm Einblick in die Realität von wiederum anderem, ihm gleichrangigem individuellem Bewußtsein gewähren: Ich = Du.

Eine solche Beziehung ist aber nicht mehr Teil der Gesellschaft. In der Gesellschaft sind ich und du immer gleich wir alle. Wo Ich = Du ist, stehen wir außerhalb der Gesellschaft. Wir haben es mit einer eigenständigen Sozialform jenseits der Gesellschaft zu tun. Sie darf auch nicht mit der Gemeinschaft verwechselt werden, weil ihr Band anders geknüpft wird. Sie besteht in einer Anerkennung, die sich dem Zufall verdankt. Die unvoreingenommene Begegnung mit jemand wie mich. Ohne Verachtung. Ohne Erniedrigung. Gleichen Rangs.

Außerhalb der Gesellschaft gelingt das Richtige im Falschen. Wo wir uns auf diese Weise begegnen, muß niemand mehr emanzipiert werden.

Freitag, 7. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Obwohl die Rede als Medium der Begegnung zwischen zwei Intelligenzen einen eminent wichtigen Part im universellen Unterricht des unwissenden Lehrmeisters spielt, beschreibt R/J die Rhetorik als eine Form des falschen Bewußtseins: in ihr geht es nur ums Rechtbehalten, nicht ums Rechthaben, und das bevorzugte Mittel dazu ist die Erniedrigung des Gegners. Die Rhetorik ist die Praxis der Unvernunft.

Wer sich eine Anschauung für diese  symbolische Form des Kampfs bis aufs Messer wünscht, soll sich den Film „Die brillante Mademoiselle Neïla“ (2017) ansehen. Neïla, eine Studentin aus der Pariser Vorstadt, nimmt bei dem Rhetoriklehrer Pierre Mazard, Rassist und eigentlich überhaupt Menschenfeind, Unterricht. Interessanterweise kommt Neïla am Ende des Films zu der Erkenntnis, daß die Rhetorik auch eine Waffe des Friedens, eine Form der Liebe, sein kann. In dem Film übrigens spielt ein Text von Arthur Schopenhauer, „Die Kunst, Recht zu behalten“ (1830/64), eine tragende Rolle. Sehr lesenswert!

So weit wie Neïla würde R/J natürlich nie gehen. Trotzdem gesteht auch er die Nützlichkeit der Rhetorik in einer Welt ein, die die Intelligenz notorisch hierarchisiert und zwischen höheren und niedrigeren Intelligenzen unterscheidet. In einer solchen falschen Welt bleibt den vernünftigen Menschen, die an die Gleichheit der Intelligenz glauben, nichts anderes übrig, als sich mit Hilfe der Rhetorik einen Freiraum zu erkämpfen, in dem die Vernunft überleben kann: „Der in dem Zirkel der gesellschaftlichen Verrücktheit eingeschlossene unvernünftig redende Vernünftige beweist, dass die Vernunft des Individuums niemals aufhört, ihre Macht auszuüben.“ (Rancière 2007, S.113f.)

Dieser Freiraum, in dem die Vernunft ihre Macht entfalten kann und den sich die vernünftigen Menschen in einer falschen Welt mit den falschen Mitteln (unvernünftig redend) erkämpfen, ist so etwas wie das Richtige im Falschen und bildet damit die Gegenthese zu Adornos Aphorismus, daß es im falschen Leben kein richtiges geben könne. (Vgl. Minima Moralia  1997, S.43) Auch Jesus sendet seine Apostel aus, seine Botschaft der Liebe zu verkünden, aber in der feindlichen Welt klug wie die Schlangen zu sein und so ihr Leben zu schützen. (Vgl. Matthäus 10,16)

Donnerstag, 6. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Der Mensch ist also ein Wille, dem eine Intelligenz dient. (Vgl. Rancière 2007, S.66) Was aber ist der Wille? Einen Hinweis darauf finden wir in R/Js Feststellung: „Da, wo das Bedürfnis endet, ruht sich die Intelligenz aus, außer ein stärkerer Wille verschafft sich Gehör.“ (Vgl. ebenda)

Hier haben wir gleich zwei Hinweise: erstens der Wille ist ein Bedürfnis. Das ist keine banale Feststellung. In der christlichen Tradition stellt sich ein ‚guter‘ Wille, der immer zugleich ein ‚starker‘ Wille sein muß, gegen unsere Bedürfnisse. Bedürfnisse sind ‚Fleisch‘, und das Fleisch ist schwach, wußte schon der Apostel Paulus. Ein starker Wille aber kann das schwache Fleisch regieren. Im Auftrag des Geistes natürlich, dem er dient.

R/J stellt klar: der Geist, die Vernunft, die Intelligenz, wie immer wir es nennen wollen, dient dem Willen; nicht umgekehrt.

Zweitens lernen wir, daß es unterschiedlich starke Bedürfnisse (Willen) gibt. Unter diesen Bedürfnissen verschafft sich immer das stärkste Bedürfnis Gehör. Und diesem dient dann die Intelligenz. Dieser Hinweis auf eine individuelle Bedürfnisvielfalt führt noch auf derselben Seite zu der Vermutung, daß die „Ungleichheit der intellektuellen Leistungen“ – trotz aller Gleichheit der Intelligenz – darin liegt, daß die „Willen ungleich gebieterisch“ ausgeprägt sind. (Vgl. Rancière 2007, S.66)

Die nächste Vermutung, die sich hier anschließen müßte, über die R/J aber nichts mehr zu sagen weiß, besteht darin, daß den „Willen“, von denen an dieser Stelle die Rede ist, nämlich inter-individuell unterschiedlich stark ausgeprägte Bedürfnisse, auch eine intra-individuelle Bedürfnisvielfalt entspricht; und daß deshalb eine zentrale Lernaufgabe darin bestehen müßte, daß jedes Individuum für sich selbst herausfinden muß, was es eigentlich will!

Aber schon die Annahme, daß die Individuen untereinander verschieden stark ausgeprägte „Willen“ haben, impliziert notwendigerweise ein weiteres Problem: wieso sollte eigentlich der Wille der Schülerin dem Willen der Lehrmeisterin entsprechen, die zwar unwissend ist, aber immerhin ihrer Schülerin bestimmte Lernaufgaben stellt? Auch darüber kein Wort von R/J.

Wie also muß man den Begriff der Zweiheit fassen, wenn den zwei Intelligenzen, die miteinander reden, zwei unterschiedlich stark ausgeprägte Willen zugrundeliegen und wenn darüberhinaus jede individuelle Intelligenz für sich selbst noch einmal in sich mit verschiedenartigen Bedürfnissen irgendwie zurecht kommen muß?

Obwohl also R/J darauf keine Antwort gibt, bietet er eine zumindest vorläufige Antwort auf diese Frage, aus der sich mehr machen läßt: „Der Wille errät den Willen.“ (Rancière 2007, S.79) – Und an anderer Stelle heißt es: „Die Bedeutung ist das Werk des Willens.“ (Rancière2007, S.71)

Wir haben es also mit einer Zweiheit zu tun, in die wir auch die innere (intra-individuelle) Verfaßtheit jedes der beiden mit einbeziehen können: Wir kennen den Willen der anderen Intelligenz, die der unseren gleicht, nicht; so wenig wie wir unseren eigenen Willen kennen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als dessen (und den eigenen) Willen zu erraten. Zugleich ist es dieser Wille, der allem, was wir sagen und tun, und dem die Intelligenz dient, eine Bedeutung verleiht. All unsere Reden, all unsere Taten sind in diesem Sinne allererst expressiv, und erst in zweiter Linie geht es um die Mitteilung von Informationen.

Warum? Weil wir in jeder Rede etwas über den eigenen Willen lernen, indem wir etwas über den anderen Willen erfahren. Nur deshalb haben die Wörter, die wir austauschen, Bedeutung: „Nur kann man sich nicht durch Worte über die Bedeutung von Worten einigen. Der eine will sprechen, der andere will erraten, das ist alles.“ (Rancière 2007, S.80)

Ein weiteres Mal verwendet R/J in diesem Zusammenhang das Wort ‚Seele‘: „Jede Rede, ob gesagt oder geschrieben, ist eine Übersetzung, in der Erfindung der möglichen Gründe des gehörten Tones oder der geschriebenen Spur: Wille zu erraten, der alle Hinweise aufgreift, um zu erfahren, was ihm ein vernünftiges Lebewesen zu sagen hat, das ihn als Seele eines anderen vernünftigen Lebewesens ansieht.“ (Rancière 2007, S.80)

Besonders schön kommt das Primat der Expressivität in einer Textstelle zum Ausdruck, in der R/J auf des Verhältnis von „Gefühl und Ausdruck“ zu sprechen kommt, in dem es darum geht, dem anderen mir gegenüber meine Gefühle zu ‚übersetzen‘. Um diese Fähigkeit zu entwickeln und zu üben, müssen wir uns an die Dichter halten: „Man muss bei denen lernen, die über diesen Abstand zwischen Gefühl und Ausdruck, zwischen der stummen Sprache der Emotion und der Willkür der Sprache gearbeitet haben, danach bei denen, die versucht haben, den stummen Dialog der Seele mit sich selbst hörbar zu machen, die die ganze Glaubwürdigkeit ihres Wortes auf dieser Ähnlichkeit der Geister aufgebaut haben.“ (Rancière 2007, S.85)

An dieser Stelle stimmt wieder alles. Es fehlt aber die Rückübertragung der entsprechenden Einsichten auf das Verhältnis von Lehrmeisterin und Schülerin. Es sei denn man nimmt die Textstelle über die Distanz zwischen den beiden und über die Notwendigkeit, diese Distanz durch ein Drittes zu überbrücken, als Hinweis auf eine mögliche Antwort auf das Problem. (Vgl. Rancière 2007, S.15) Es geht dabei um das „Trio“, wie R/J es nennt, um das pädagogische Dreieck von Lehrerin, Lerngegenstand und Schülerin. Hier leistet der Lerngegenstand zweierlei: er hält die Distanz zwischen Lehrerin und Schülerin aufrecht und vermittelt sie zugleich.

Mittwoch, 5. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

Hier habe ich wieder ein Problem mit R/Js Umgang mit Begrifflichkeiten. Er unterscheidet nicht zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Wahrhaftigkeit‘. Ich habe den Eindruck, daß sein Wahrheitsbegriff auf subjektive Wahrhaftigkeit hinausläuft, daß er aber dennoch an der Vorstellung von einer Gewißheit, wie sie der Wahrheit entspricht, festhält. Letztlich aber läuft es bei allen Wahrheitsbeteuerungen bloß darauf hinaus, ob jemand im Bewußtsein, die Wahrheit zu sagen, redet oder ob er das, was er für die Wahrheit hält, bewußt verschweigt, verbiegt oder das Gegenteil für wahr erklärt. Mit unbestreitbaren Gewißheiten hat beides nichts zu tun.

Ginge es in diesem Sinne um Wahrheit als einem Grenzbegriff, hätte ich an R/Js Wahrheitsbegriff nichts auszusetzen. Nur müßte man dann aber immer noch zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit unterscheiden. Aber R/J spricht in diesem Zusammenhang auch noch von der „Unmöglichkeit, sich selbst nicht zu kennen“: „Das Individuum kann sich nicht belügen. Es kann sich nur vergessen.“ (Rancière 2007, S.72)

Mit so einer ‚Wahrheit‘ kann ich nun überhaupt nichts anfangen. Ich denke ganz im Gegenteil, daß wir sehr wohl dazu fähig sind, uns selbst zu belügen. Wir atmen und denken eine Lebenswelt, die uns durchdringt wie die Luft, die wir ein- und ausatmen. Die Vernunft – „Wir nehmen an, dass alle wissen, was die Lüge ist. Gerade dadurch haben wir das vernünftige Wesen bestimmt, durch seine Unfähigkeit, sich zu belügen.“ (Rancière 2007, S.114) – besteht nicht darin, zur Lüge nicht fähig zu sein, sondern die Wahrheit zu erkennen, die in der Lüge liegt; und umgekehrt: die Lüge zu erkennen, die in der Wahrheit liegt. Denn das, was R/J Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit nennt, liegt nicht in der gelungenen, vollständigen und unbezweifelbaren Selbsterkenntnis, sondern in der Erfahrung, daß wir gerade was uns selbst betrifft immer wieder in die Irre gehen.

Es gibt also nicht nur eine Gleichheit der Intelligenzen, wie sie sich die vernünftigen Menschen gegenseitig zugestehen und wie sie sie sogar den unvernünftigen Menschen zugestehen, als Möglichkeit, jederzeit auch vernünftig sein zu können, also gesprächsoffen und bereit, auch die andere Intelligenz ihnen gegenüber zu respektieren. Es gibt neben der Gleichheit der Vernunft auch eine Gleichheit der Unvernunft. Erst wenn die vernünftigen Menschen verstehen, daß auch sie unvernünftig sind, kann Ich = Du gelingen.

Das hat etwas damit zu tun, was ich unter dem Wort ‚Seele‘ verstehe, das ich auch bei R/J vorfinde. R/J bezieht das Wort ‚Seele‘ auf die wechselseitige Anerkennung zweier Intelligenzen, die beide bestrebt sind, zu ‚erraten‘, was der/die andere will. (Vgl. Rancière 2007, S.80) Es geht also nicht um ein falsifizierbares Wissen oder um Wahrheit, sondern um ein ‚Raten‘. Allerdings betrifft diese Ungewißheit hinsichtlich dessen, was wir wollen, nicht nur den anderen Menschen mir gegenüber, sondern in einem fundamentalen Sinne mich selbst. Helmuth Plessner beschreibt diese Selbstunsicherheit, die R/J mit „Selbstvergessenheit“ verwechselt (vgl. Rancière 2007, S.72), als ein noli me tangere: wir kennen uns selbst nicht, also wollen wir auch nicht durchschaut werden; denn wer weiß, welche Ungeheuer da sichtbar würden. Die Seele, so Plessner, ist ein „Geschöpf der Nacht“.

An dieser Stelle ist es nun interessant, daß R/J von der „Wahrhaftigkeit“ – kurz davor war noch von der „Wahrheit“ die Rede – als einem „abwesende(n) Zentrum“ spricht: „... sie läßt uns um ihren Mittelpunkt kreisen.“ (Rancière 2007, S.74) Also Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit als Mitte eines Kreises, aber als diese Mitte wiederum abwesend. Das ist ein Bild für den Menschen. R/J bezeichnet den Menschen als eine „Parabel um die Wahrheit herum“. (Vgl. ebenda)

Die Parabel schließt sich aber nicht zu einem Kreis, so daß von einem „Kreisen“ keine Rede sein kann. ‚Ellipse‘ paßt vielleicht besser: als rhetorischer Kunstgriff steht das Wort für eine Auslassung, für etwas, das man sagt, indem man es nicht sagt. Als geometrische Figur haben wir es mit einem deformierten Kreis zu tun, der keinen bestimmten Mittelpunkt hat. Beides würde besser zu der ‚Wahrheit‘ passen, von der R/J hier spricht.

Aber es geht hier nicht um Metaphernkritik. Es geht vielmehr darum, daß wir uns selbst nicht kennen. Und unter dem Gesichtspunkt der Lebenswelt ist es deshalb eben leider doch so, daß sich das „Individuum“ belügen kann. Schon das Eingeständnis, daß es so etwas wie „Selbstvergessenheit“ gibt, zeigt, daß da was nicht stimmen kann mit der vermeintlichen Selbstkenntnis. Folgt man Plessner, haben wir es bei der fehlenden ‚Mitte‘ im Kreis sogar mit einem anthropologischen Faktum zu tun. Deshalb paßt seltsamerweise alles, was R/J über die Wahrheit zu sagen weiß, sehr gut zu dem, was Plessner Seele nennt. Und gleichzeitig widerspricht dem auf paradoxe Weise R/Js Behauptung, wir könnten uns selbst nicht belügen.

Seele bzw. Bewußtsein ist nichts isoliertes für sich selbst. Das Bewußtsein ist immer auch Lebenswelt. Das zu vergessen, ist die eigentliche Selbstvergessenheit.

Dienstag, 4. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

R/J: Rancière/Jacotot

1818, als Joseph Jacotot (1770-1840) an der Universität Löwen französische Literatur lehrte, hatte er ein Problem: weder konnte er niederländisch, noch konnten seine Studenten (damals alle männlich) französisch. Jacotot wagte ein Experiment: Er ließ seine Studenten eine zweisprachige (französisch/niederländisch) Ausgabe des „Les Aventures de Télémaque“ (Telemach) von François Salginac de la Mothe Fénelon lesen. Anschließend sollten seine Studenten einen in französisch verfaßten Aufsatz zu diesem Buch bei ihm abgeben. Sie sollten also durch die Lektüre des Buches französisch lernen.

Jacotot versprach sich nicht viel von dem Ergebnis. Die Studenten waren gleichermaßen Anfänger in der französischen Sprache wie in der französischen Literatur. Um so erstaunter war er über die durchwegs hohe Qualität der Aufsätze, sprachlich wie inhaltlich. Das war für ihn die Initialzündung für eine Unterrichtsform, die er die ‚universelle‘ nannte und die auf der These beruhte, daß ein unwissender Lehrmeister – er selbst konnte kein niederländisch und seinen Studenten deshalb auch inhaltlich nichts beibringen – seinen Studenten und, wie in Jacotos Fall, später seinen Schülerinnen in einem speziell für junge Frauen gegründeten Institut alles beibringen kann. Deshalb auch universeller Unterricht.

Der Inhalt war Nebensache. Das eigentliche Ziel des universellen Unterrichts war die Emanzipation; die Emanzipation des Verstandes bzw. der ‚Intelligenz‘. Niemand sollte sich dem Verstand eines anderen unterordnen müssen. Auch nicht im Unterricht. Gerade da nicht! Denn wo die Autorität des Lehrenden über alles steht, kann sich niemand emanzipieren.

Dabei kann man diese Emanzipation durchaus auch im späteren Sinne als Emanzipation der Frauen verstehen. Denn sie standen geradezu beispielhaft für die angebliche intellektuelle Inferiorität gegenüber den Männern: „Wie nun, wenn man von Emanzipation und Gleichheit der Intelligenzen spricht, wenn man bloß erwähnt, dass Mann und Frau dieselbe Intelligenz hätten! Ein Besucher hatte Jacotot bereits gefragt, ob die Frauen unter solchen Umständen noch hübsch wären!“ (Rancière 2007, S.207)

Der emanzipierende Effekt entsteht einzig aus der Unwissenheit des Lehrmeisters; denn diese nötigt die Schülerinnen und Schüler, sich das angestrebte Wissen selbst anzueignen. In eins damit entsteht bei ihnen ein Selbstbewußtsein, das sie sich künftig jeder Abwertung ihrer Intelligenz verweigern läßt. Und nicht nur ihrer eigenen. Denn die Intelligenz verwirklicht sich durch Mitteilung. Sie ist geradezu identisch mit der „Rede“, denn sie basiert auf der Fähigkeit, die eigene Intelligenz in der Intelligenz des anderen Menschen zu spiegeln, also mit jemand zu reden: Der emanzipierte Mensch „ist ein Liebhaber der Rede, wie der schlaue Sokrates und der naive Phaidros. Aber im Gegensatz zu den Protagonisten von Platon kennt er keine Hierarchie unter den Rednern, noch unter den Reden. Im Gegenteil, was ihn interessiert, ist, ihre Gleichheit zu suchen. Er erwartet() sich von keiner Rede die Wahrheit.“ (Rancière 2007, S.158)

Was sich der emanzipierte Mensch von der Rede erwartet, ist die „Anerkennung des anderen als intellektuelles Subjekt, das fähig ist zu verstehen, was ein intellektuelles Subjekt ihm sagen will“. (Vgl. ebenda) – Das ist der Begriff der „Zweiheit“ (vgl. Rancière 2007, S.45): erst wo zwei Intelligenzen kommunizieren, verwirklicht sich Intelligenz.

Dazu an anderer Stelle mehr. An dieser Stelle geht es mir vor allem darum, wie der unwissende Lehrmeister bewerten kann – R/J spricht nicht von ‚bewerten‘, sondern von verifizieren –, daß sein Schüler, seine Schülerin, tatsächlich etwas lernt? Wenn es auf den Inhalt nicht ankommt, kann der Inhalt auch nicht bewertet werden. R/J löst diese Aporie auf, indem er an die Stelle des Inhaltes die Aufmerksamkeit setzt. Der unwissende Lehrmeister kontrolliert bzw. verifiziert nur, ob sich seine Schüler aufmerksam mit ihrem Gegenstand beschäftigen. R/J hält sich immer wieder an das Beispiel ‚Telemach‘. Der unwissende Lehrmeister, beispielsweise ein Vater, der selbst kein Französisch kann, befragt seine Tochter, was ein bestimmtes Wort im Buch bedeutet, und er wiederholt das mit anderen Wörtern aus dem Buch, bis er auf schon einmal gefragte Wörter an anderen Stellen des Buches zurückkommt. So kann er feststellen, ob seine Tochter bloß willkürliche, beliebige Bedeutungen daherplappert, oder ob sie wirklich aufmerksam gelesen hat.

Mehr ist nicht nötig. Alles andere ist der Tochter überlassen. Der Vater hat keinen Grund an ihrer Intelligenz zu zweifeln. Er hat ihre Aufmerksamkeit ‚verifiziert‘. Und obwohl R/J immer wieder auf den Telemach verweist, gilt, daß jeder andere Lerngegenstand auf die gleiche Weise gelernt werden kann, gleichviel ob es um Handwerk, Wissenschaft oder Hauswirtschaft geht: in allen Tätigkeiten steckt die gleiche Intelligenz. Man könnte also auch sagen, daß der universelle Unterricht darin besteht, die Menschen zu Autodidaktikern zu machen. Was sie, wie R/J hervorhebt, auch von Geburt an sind. Denn niemand hat ihnen beigebracht, ihre Muttersprache zu sprechen. Sie müssen also lediglich aus der gesellschaftlichen Erniedrigung, in der man sie festhalten will, befreit (emanzipiert) werden.

Inwiefern unterscheidet sich aber die Aufmerksamkeit von der Intelligenz? Oder die Intelligenz vom Willen, von dem später noch die Rede sein wird? – Gar nicht. R/J unterscheidet nicht zwischen verschiedenen geistigen Vermögen, wie es Kant (1724-1804), ein Vorgänger Jacotots, tat: „Es gibt einen Willen, der befiehlt, und eine Intelligenz, die gehorcht. Nennen wir Aufmerksamkeit den Akt, der diese Intelligenz unter dem absoluten Zwang des Willens schreiten lässt. Dieser Akt ist stets derselbe ...“ (Rancière 2007, S.37)

Wir haben also zwar verschiedene Wörter, aber der Bewußtseinsakt ist immer derselbe. Es ist alles Intentionalität, wiederum ein anderes Wort für Aufmerksamkeit, die sich nicht in verschiedene geistige Vermögen aufteilen läßt: „Die Fähigkeit (Intelligenz – DZ) lässt sich nicht teilen. Es gibt nur eine Kraft, diejenige, zu sehen und zu sagen, aufmerksam zu sein darauf, was man sieht und was man sagt.“ (Rancière 2007, S.38)

Speziell für diesen Aspekt unseres Bewußtseins gibt es wiederum ein Wort: Apperzeption. Kant zufolge handelt es sich um unsere Fähigkeit, alle unsere Wahrnehmungen mit einem Denken zu begleiten. Schlichter formuliert: aufmerksam sein darauf, was man sieht und was man sagt. – Es ist dieses Grundmerkmal der menschlichen Intelligenz, das R/J im universellen Unterricht verifiziert wissen will. Wenn wir aufmerksam sind, kann uns jeder Gegenstand, mit dem wir uns befassen, emanzipieren: „Deshalb wird der unwissende Lehrmeister bei Gelegenheit seine Kompetenz dahin erweitern, nicht das Wissen des kleinen Herrn zu verifizieren, sondern die Aufmerksamkeit, die er dafür aufbringt, was er sagt und tut.“ (Rancière 2007, S.46)

Der ganze Zweck der Lehrtätigkeit besteht also in einer Apperzeption, in der „unbedingte(n) Aufmerksamkeit auf seine (des Schülers/der Schülerin – DZ) intellektuellen Tätigkeiten“. (Rancière 2007, S.50)

Das erinnert mich an Johann Friedrich Herbart (1776-1841), ein Zeitgenosse Jacotots, der postulierte, daß die Hauptaufgabe des Lehrers darin besteht, bei seinen Schülern Interesse zu wecken. Ist das Interesse einmal geweckt, ist das ungeteilte Bewußtsein, die ungeteilte Intelligenz, als Dienerin des Willens, immer schon dabei. Schülerinnen und Schüler sind aufmerksam bei der Sache, und es gibt keinen Rangunterschied zwischen ihnen und auch keine Verschiedenheit zwischen den geistigen Vermögen.

Montag, 3. Oktober 2022

Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, 2007/1987

  1. Einführung zum Text
  2. Aufmerksamkeit und Apperzeption
  3. ‚Wahrheit‘ und Seele
  4. „Der Wille errät den Willen“
  5. Das Richtige im Falschen
  6. Das Individuum als Ort und Ziel der Emanzipation

Schon vor 12 oder 15 Jahren – auf jeden Fall bevor ich meinen Blog begann –, als ich zum ersten Mal „Der unwissende Lehrmeister“ von Jacques Rancière gelesen hatte, hatte ich schon Schwierigkeiten mit dem Text gehabt. Rancière macht sich keine große Mühe, die Begriffe sauber auseinanderzuhalten und belegt z.B. einen zentralen Begriff wie den der „Zweiheit“ (vgl. u.a. Rancière 2007, S.45) mit gegensätzlichen Bedeutungen. Rancière versteht unter diesem Begriff zwei verschiedene Intelligenzen, einmal in dem Sinne, wie ich in meinem Blog vom Ich = Du bzw. von der „Dualität“ oder der „Zweitpersonalität“ spreche: jeder Mensch, so Rancière, hat die gleiche Intelligenz wie jeder andere Mensch und interessiert sich für die Intelligenz seines Mitmenschen; also Ich = Du.

Dann aber spricht Rancière von der irrigen Annahme, daß die Intelligenz der Menschen unterschiedlich sei – wie es z.B. im IQ zum Ausdruck kommt –, und er spricht von einer zweigeteilten Intelligenz: einer höheren und einer niedrigeren, was er als „Dualität“ und als „Prinzip der Verdummung“ bezeichnet. (Vgl. Rancière 2007, S.18 und S.17) Die Verwendung des Begriffs „Dualität“ für einen hierarchisierten Intelligenzbegriff hatte mich beim erstmaligen Lesen ziemlich verwirrt.

Außerdem ist es schwierig, im Text zwischen dem Autor Rancière und seinem Protagonisten Joseph Jacotot (1770-1840), dem „Gründer“ des universellen Unterrichts, zu unterscheiden. Rancière referiert nicht über Jacotot, sondern er erzählt ihn nach, als wäre er Jacotot selbst. Die eingestreuten Zitate sind vom Text des Autors kaum zu unterscheiden, weil man im Leseeifer leicht über die Anführungszeichen hinwegliest, während sich der Text im Zitat nahtlos, ohne Unterbrechung, fortzusetzen scheint. Oft entdeckte ich das Endzeichen, wenn ich das Zitat gelesen hatte, und suchte dann mühsam das Anführungszeichen, um zu erkennen, an welcher Stelle der Text des Autors eigentlich geendet hatte. Deshalb werde ich im Folgenden nicht zwischen Rancière und Jacotot unterscheiden, sondern nur summarisch von R/J reden.

Was mich vor allem bei der aktuellen, zweiten Lektüre irritiert hat, ist der Untertitel: „Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation“. Das paßt so gar nicht zum Inhalt des Buches. Lektionen sind auch in Frankreich, glaube ich, eine Form der Unterweisung und implizieren ein hierarchisches Autoritätsgefälle zwischen dem Lehrmeister und seinen Schülern. Ein unwissender Lehrmeister unterweist deshalb nicht, weil es bei ihm dieses hierarchische Gefälle nicht gibt. Es gibt nichts, was er seinen Schülerinnen und Schülern beibringen könnte; denn dann wäre er nicht unwissend, und als Wissender könnte er niemanden emanzipieren. Jedenfalls bildet das eine Grundbotschaft von R/J. Vor allem aber ist der ‚Unterricht‘, den R/J als universellen Unterricht bezeichnet, keine Methode. Jacotot selbst hatte Wert darauf gelegt, daß es keine „Methode Jacotot“ gebe. (Vgl. Rancière2007, S.145)

Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Die ‚Methode‘ des universellen Unterrichts steht in keinem Konkurrenzverhältnis zu anderen Lehrmethoden. (Vgl. Rancière 2007, S.120ff., 133ff., 152ff. und 157ff.) Wenn es also schon zweifelhaft ist, ob der universelle Unterricht überhaupt eine Methode ist, wie kann es dann fünf Lektionen über den universellen Unterricht geben?

Der Untertitel paßt also nicht zum Buch. Allerdings erklärt dieser Untertitel den seltsamen Stil des Buches, in dem es geschrieben worden ist. Es ist ein polemischer und ironischer Stil; und vielleicht ist der Untertitel ja selbst ironisch gemeint. Aber es ist auch ein dogmatischer Stil. Rancière macht die ‚Lehre‘ des Jacotot nicht an ihrer Praxis fest, sondern an seinem Namen. In wiederum ironischer, an die angeblichen Nachfolger Jacotots gerichteter Rede heißt es: „... es ist dieser Eigenname, der alleine den Unterschied macht, der die ‚Gleichheit der Intelligenz‘ verkündet und den Abgrund unter den Schritten aller Ausbilder und Beglücker des Volkes sich auftun lässt. Es ist wichtig, dass dieser Name verschwiegen wird, dass die Verkündigung durchkommt.“ (Rancière 2007, S.151)

Die Ironie des letzten Satzes ist beim ersten Lesen verwirrend. Tatsächlich ist nämlich das Gegenteil gemeint. Denn es sind die angeblichen Nachfolger Jacotots, die meinen, daß der Name Jacotots für die Sache, um die es geht, bedeutungslos sei und deshalb nicht genannt zu werden braucht. (Vgl. Rancière 2007, S.145) – In dieser ironischen Formulierung wird Jacotot also zu einer geradezu messianischen Autorität überhöht, was das krasse Gegenteil der intellektuellen Emanzipation ist, die das einzige Ziel des universellen Unterrichts ist. ‚Übersetzt‘ man – und Übersetzen bildet geradezu die Grundform der intellektuellen Emanzipation – diese Ironie in eine einfache Aussage, richtet sich der an die Nachfolger gerichtete Vorwurf an den Autor selbst.

Erst an späterer Stelle, wo Rancière den „Namen Jacotot“ zum Kampfbegriff gegen die ‚Nachfolger‘ macht, wird diese Ironie vollends aufgedeckt. (Vgl. Rancière 2007, S.157)

Trotzdem haben mich schon bei meiner ersten Lektüre einzelne Stellen so beeindruckt, daß ich einige zentrale Aussagen wie die vom Menschen, der ein Wille ist, dem eine Intelligenz dient (vgl. Rancière 2007, S.66), für mein eigenes Denken übernommen habe. In meinem letzten Blogpost vor zweieinhalb Jahren, mit dem ich vermeintlich meinen Blog beendete, um ihn dann aber doch, in anderer Form, weiterzuführen, habe ich mich von dem wissenschaftlichen Anspruch, mit dem ich ihn bis dahin betrieben hatte, verabschiedet. Orientiert an der Unwissenheit Jacotots hielt ich fest, daß es „bei allem Denken und Schreiben nicht auf die Resultate ankommt, nicht auf die geistigen Höhenflüge und Abstraktionen“. „Intellektuelle Demut“ schien mir deshalb angebracht zu sein. Der wissenschaftliche Anspruch aber, vor allem in Form der wissenschaftlichen Lehre, ist keineswegs demütig. R/J jedenfalls läßt nur die wissenschaftliche Forschung als eine Form intellektueller Emanzipation gelten.

Ich muß allerdings einschränkend hinzufügen, daß es durchaus eine wissenschaftliche Lehre gibt, wie sie Wilhelm von Humboldt konzipiert hat, die sich an die Studierenden als Gleiche im Sinne des universellen Unterrichts richtet. In dieser Lehre erhebt die Professorin, der Professor, gar nicht den Anspruch, ‚intelligenter‘ zu sein als die Studierenden. Beide erproben vielmehr gegenseitig ihr vermeintliches Wissen. Hier muß niemand mehr emanzipiert werden. – So viel Differenzierung muß trotz aller Kritik möglich sein.

Zu einer systematischen Lektüre des Buches hatte es jedenfalls bis dahin bei mir aus den genannten Gründen nicht gereicht. Das will ich jetzt nachholen.