„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 21. April 2020

Der sechste Gedanke




Heute vor zehn Jahren begann ich den Blog „Erkenntnisethik“. Als Datum wählte ich den Geburtstag meiner Mutter. Im September 2016 ist sie gestorben. Es war kein schöner Tod, morgens um 4:00 im Krankenhaus, allein, ungetröstet, in Unfrieden mit sich und ihrem Alter. Meine Mutter starb einen einsamen Tod nachts im Krankenhaus, ohne Abschied von denen, die sie liebte.

Ich beende diesen Blog, weil er mir zwar einiges gebracht hat, Erkenntnisgewinn, das Gefühl einer gewissen Selbstermächtigung im Dienste der Selbsterhaltung unter Lebensumständen, auf die ich hier nicht weiter eingehen will. Für dieses mit dem Blog verbundene Gefühl bin ich dankbar. Allerdings hat mir der Blog nicht gebracht, was ich mir darüber hinaus von ihm erhofft hatte, das Gespräch mit Mitdenkenden, eine Art Gemeinschaft des Geistes, wie sie Plessner in „Die Grenzen der Gemeinschaft“ beschreibt. Die Besucher meines Blogs blieben zumeist stumm. Ich las und schrieb einsam vor mich hin.

Letztlich muß ich bekennen: ich verstehe bis heute nicht, was ich getan habe, als ich diesen Blog betrieb. Ich habe nicht verstanden und verstehe auch heute nicht, was er bewirkt bzw. bewirkt hat, wenn überhaupt. Ich verstehe bis heute nicht, was ich tue, wenn ich durchs Internet surfe, und ich verstehe meine Mitmenschen nicht, was sie tun und warum sie es tun, wenn sie sich auf den verschiedenen Plattformen versammeln und ‚kommunizieren‘. Ich verstehe diese Welt nicht. Ich verstehe das Internet nicht.

Inzwischen habe ich die Inhalte meines Blogs aus ihm herausgezogen und auf Papier ausgedruckt. Eine weitere Erfahrung, für die ich dankbar bin. Denn beim Ausdrucken und flüchtigen zur Kenntnisnehmen dieser Inhalte kam mir mein sechster Gedanke, auf den ich schon vor einem Jahr an dieser Stelle hingewiesen hatte, daß es nämlich bei allem Denken und Schreiben nicht auf die Resultate ankommt, nicht auf die geistigen Höhenflüge und Abstraktionen. Intellektuelle Demut ist also angebracht.

Letztlich geht es vor allem darum, emotional anpassungsfähig und widerstandsfähig zu bleiben. Die Umstände unseres Lebens ändern sich auf gesellschaftlicher Ebene rapide, was zum einen mit der Globalisierung zu tun hat, zum anderen mit der Technologisierung der Lebenswelt, was beides dasselbe ist. Wer sich nicht anpaßt, geht unter; wer sich anpaßt auch, selbst dann, wenn er gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg hat. Es ist der Mensch, der untergeht. Und ich finde, es ist besser, sich nicht anzupassen und unterzugehen – denn am Ende geht es sowieso mit jedem von uns zu Ende –, anstatt sich anzupassen und trotzdem unterzugehen.

Während sich die Zahl der Ausdrucke und der Ordner mehrte, ging etwas in mir zuende. Was ich zum Ausdruck gebracht hatte, erstarrte zu Buchstaben auf 2000 Blatt beidseitig bedrucktem Din-A-4 Papier in 4 Leitzordnern, Times New Roman, 14-Punkt, Zeilenabstand 1,2. Totes Material. Tote Worte. Herausgewürgt aus einem lebendigen Empfinden und nun sauber abgeheftet zu Grabe getragen. Vielleicht wird ja so ein Stück des Weges frei, den ich noch zu gehen habe, eine Öffnung in eine nicht mehr so weite Zukunft mit einem absehbaren Ende, aber dennoch ein Weg, der mir noch zu gehen bleibt. Einen Weg, den ich nicht ändern kann, so wenig wie das Internet. Aber den ich im Unterschied zum Internet vielleicht verstehen kann. Und wenn ich ihn auch nicht verstehen sollte, so lohnt sich doch, wiederum im Unterschied zum Internet, zumindestens der Versuch.

Immerhin haben die vergangenen zehn Jahre „Erkenntnisethik“ den einen Zweck erfüllt, meiner wissenschaftlichen Ausbildung einen Sinn zu verleihen, nachdem ich die Universität hatte verlassen müssen. Statt eine berufliche Karriere einzuleiten, mündete meine Ausbildung in einen Bildungsweg, ‚Bildung‘ im humboldtschen Sinne gemeint. Sie ist also nicht verschwendet gewesen. Die vier Leitzordner beweisen es.

‚Bildung‘? – Im Deutschlandfunk hörte ich eine Sendung über Luxemburg. Das kleine Land investiert in eine Weltraumtechnologie, um Rohstoffe, die auf der Erde knapp geworden sind, auf dem Mond und auf Asteroiden abzubauen. Die Vernichtung der irdischen Ressourcen soll also für einen weiterhin ungebremst expandierenden Kapitalismus auf den Weltraum ausgedehnt werden. Bislang hatte ich davon nur in Büchern gelesen und in Filmen gesehen. Die Unternehmen – für Star-Trek-Fans: Enterprises – beginnen also allen Ernstes, gefördert von der Regierung von Luxemburg, die dafür nötigen Technologien zu entwickeln. Anstatt alle unsere intellektuellen und kreativen Potentiale auf die Einrichtung einer globalen und regionalen Kreislaufwirtschaft zu richten, geht es wiedermal nur darum, das ständige Wachstum von Profit und Konsum auch für die Zukunft sicherzustellen.

We go to outer space, to save the human race. Aber wie sich aktuell zeigt: ein Virus stellt alle Versprechen, die diese Zukunft betreffen, in Frage. Bevor die Flucht in den Weltraum beginnen kann, kollabiert die Globalisierung und alle mit ihr verbundenen Gewißheiten. Der Weltbürger wird in häusliche Quarantäne geschickt.

Was für ein Mensch wird aus dieser Quarantäne hervorgehen? – Wird er noch Bargeld in die Hand nehmen wollen? Wird home-schooling den Lehrer ersetzen? Wird der Einzelhandel durch die Krise endgültig marginalisiert und Amazon sich als großer Gewinner erweisen? Wird menschliche Nähe künftig durch anderthalb Meter Abstand und durch digitale Kommunikation definiert?

Die Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz, Stefanie Hubig, ist der Meinung, daß Corona Schulen im Bereich der Digitalisierung „einen Schub geben“ wird. Es ist seltsam, daß dieser Virus den technologischen Prozeß bestätigt, so als gäbe es zwischen beidem eine klammheimliche Sympathie.

Mein siebter Gedanke: Individualität ist ein Vorübergang; eine Brücke, die verrottet ist und nicht mehr trägt. Das ist meine Bildung. Sie wird zugrundegehen.

Aber auch das ist nur ein Gedanke. Und es kommt auf ihn nicht an.

6 Kommentare:

  1. "Wahre Gedanken setzen weder eine Formulierung noch einen Denker voraus.
    Die Lüge ist ein Gedanke, der eine Formulierung und einen Denker unabdingbar voraussetzt."
    Das sind Gedanken von Wilfred R. Bion, die er in seiner Schrift "Aufmerksamkeit und Deutung" formuliert hatte und die ich irgendwann einmal zufällig entdeckt hatte - so wie deinen Blog, als ich nach Plessner im Netz suchte.
    Ich denke, es kommt auf die Wahrheit an und dass sie formuliert und ausgesprochen wird, was bedeutet, dass sie einen Menschen braucht, der der Wahrheit zum Ausdruck verhilft, damit die Wahrheit nicht übersehen oder überhört wird mitten im Lärm all' dieser Lügen.

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  2. Woher weiß ich, daß meine Gedanken keine Lügen sind?
    Wenn ich denke, aber die Gedanken keinen Denker voraussetzen: wer denkt dann, wenn ich denke, vorausgesetzt, daß es Gedanken sind, die ich denke, und keine Lügen?
    Wenn ich nur in Formulierungen denke, die Gedanken aber keine Formulierungen sind: Dann endet mein Denken in den Formulierungen bzw. die Formulierungen beenden mein Denken?
    Dem könnte ich zustimmen.

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    1. "Wahrheit" gibt es für mich nur als Aussagenwahrheit. Sie ist nicht unabhängig von Sätzen, die mit ihr nichts anderes zum Ausdruck bringen als subjektive Gewißheiten, die auch als Zweifel auftreten können.
      Als Lüge würde ich intersubjektive Gewißheiten bezeichnen, die immer eine Gruppe voraussetzen, die sich an die Stelle des denkenden Subjekts setzen. Insofern ja: diese Gewißheiten sind laut, weil sie leer sind. Ein hohler, lärmender Resonanzraum.

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  3. Liebe Aiko, Dein Kommentar veranlaßt mich zu einer Reihe von Überlegungen, die mich daran zweifeln lassen, daß das Denken tatsächlich in einer Formulierung sein Ende finden kann. Jeder niedergeschriebene Satz ist ein weiterer Anlaß, das Gedachte aufs Neue zu prüfen.

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  4. Lieber Herr Zöllner
    Nun ist es also soweit und Sie schließen Ihren Block. Hin und wieder habe ich gehofft Sie werden diesen weiterführen, aber die fehlende Resonanz und das Schreiben in die Leere des Netzes hinein hat dem wohl ein Ende gesetzt. Auch ich bin einer der von Ihrem Block profitiert hat, aber nicht ins Gespräch gegangen ist. Ähnlich eines braven Studenten, der immer anwesend ist und staunend zuhört, aber sich eben nicht eingebracht hat. Auch wenn es Nachfragen meinerseits immer wieder gegeben hat fiel es mir schwer einen Austausch über Textblöcke zu führen.
    Das Lesen ihres Blocks war mir immer eine Freude. Ein weiter Wissensüberblick hat sich da aufgemacht, im letzten Jahr dann auch mit überraschenden Ausgriffen und zuletzt immer persönlicher. Hierfür Danke! Hervorheben muss ich Ihre gekonnten Anwendungen und die vielen Bezüge zu H. Plessner, den sie in einer Art verinnerlicht haben wie es sein sollte um Philosophie lebendig zu machen. Als (kleiner) Plessnerkenner konnte ich hier durchgehend mitgehen und auch hier und da manches mit Anderen Augen sehen ;-).
    Ich kann mir vorstellen, dass es ihnen ähnlich wir mir geht, und das erarbeitete Wissen wieder aus dem Hirn raus in die Welt muss. Somit kann ich mir auch kaum vorstellen, dass sie ihre Lesereisen wirklich beenden werden. Aber es gibt als Philosoph – was sie ohne Frage durch und durch sind und nicht durch einen Studienabschluss zu erreichen ist - natürlich mehr Lesen, Schreiben, Lehren und zwar als Aufgabe was Philosophie im eigentlichen Sinne sein sollte, eine Lebensform.
    Ich wünsche Ihnen das Beste und bedanke mich herzlich, dass ich Ihren Arbeiten im Block folgen durfte.
    Thomas Bek

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    1. Danke Herr Bek. Ich freue mich über Ihre Worte. Tatsächlich fühlte ich mich die letzten zwei Jahre, drei Jahre mehr und mehr als Gefangener meines eigenen Blogs. Ich war so von ihm vereinnahmt, daß ich kaum noch links und rechts schaute und mein ‚anderes‘, eigentliches? Leben zunehmend vernachlässigte. Aber ja: Philosophie ist eine Lebensform. Aber eben auch mit Betonung auf dem ersten Bestandteil dieses Wortes. Sie sollte einen nicht vom Leben abhalten.
      Viele Grüße,
      Detlef Zöllner

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