„Wenn schon eine ganze Welt, auf Erkenntnis beruhend und ihrer ständig bedürftig, errichtet ist und ihren Gang geht, wie die der modernen Technik, wird der nach dem Grund ihrer Möglichkeit und nach ihren Sicherheitsgarantien Fragende zum Sokrates der Vergeblichkeit.“ (Blumenberg, Höhlenausgänge, S.169)
Sonntag, 23. April 2023
Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends (1979/81)
Schon beim ersten Mal, als ich das Buch in die Hand nahm, verstand ich den Titel als deutsche Übersetzung des Wortes ,Utopie‛. Jetzt, nach meiner zweiten Lektüre und nachdem ich „Tabou“ gelesen hatte, staune ich über den thematischen Gleichklang zwischen diesen beiden Büchern. In beiden Büchern geht es um das Gefühl, nicht dorthin zu gehören, wo man sich befindet, und nicht in die Zeit, in der man lebt.
Noch radikaler: Christa Wolf führt am Beispiel Kleists den radikalen Zweifel daran vor Augen, daß es überhaupt irgendwo in dieser Welt einen Ort geben könnte, an dem das Leben lebbar wäre: „Unlebbares Leben. Kein Ort, nirgends.“ (Wolf 1981, S.108)
Kleist zur Seite stellt Christa Wolf eine Frau, die Günderrode, die schon qua Geschlecht in keine der Gesellschaften paßt, die von Männern geschaffen wurden. Beide, Günderrode und Kleist, begingen Selbstmord.
Trotz dieses historischen und kulturellen Hintergrunds ist doch klar, daß die eigentliche kritische Stoßrichtung des Buches auf die DDR zielt, als der kulturellen Nachfolgerin Preußens, von dem es im Buch heißt, daß Kleist ihm „freudig seine Jugend geopfert“ habe. (Vgl. Wolf 1981, S.66) Noch deutlicher wird die Kritik an der DDR, wenn es von Preußen heißt, daß es sich nicht um ein „wirkliche(s) Gemeinwesen“, sondern nur um die „Idee von einem Staat“ gehandelt habe. (Vgl. ebenda)
Auch Christa Wolf hatte an diese Idee geglaubt. Bei der Stasi hatte man ihr das Pseudonym „Doppelzunge“ gegeben, weil es diesen Leuten über den geistigen Horizont ging, daß jemand Kommunistin und trotzdem nicht einverstanden mit der DDR-Politik sein konnte.
In diesem Buch jedenfalls, so mein Eindruck, ist Christa Wolf auf der Höhe der Revolution von 1989 zehn Jahre später. Es ist mir unerfindlich, wie es zu den Angriffen westdeutscher Intellektueller gegen ihre Person hatte kommen können.
Wie in „Tabou“ verbindet Christa Wolf das Gefühl der geistigen und existenziellen Unzugehörigkeit mit der Frage nach dem Status des geschriebenen Wortes. Was wäre, wenn man den Leuten ihre Gedanken an der Stirn ablesen könnte? (Vgl. Wolf 1981, S.10) In die gleiche Richtung zielt Kleists Zweifel am Wort als Ausdruck der Seele. (Vgl. Wolf 1981, S.40) Was die Günderrode befürchtet, daß das unter den Menschen zu Mord und Totschlag führen könnte ‒ ein anderer macht an der Unlesbarkeit von Gedanken die Gedankenfreiheit fest ‒, läßt Kleist regelrecht verzweifeln: er „glaubt, niemals mehr schreiben zu dürfen“. (Vgl. Wolf 1981, S.40)
Wir haben es hier wieder, wie schon in „Tabou“, mit der Differenz von Meinen und Sagen zu tun; und auch hier geht es nicht um eine anthropologische Dimension, sondern um einen politischen und psychologischen Zustand: was nicht sagbar ist, ist auch nicht lebbar. Es bleibt nur die Hoffnung, daß es einmal in der Zukunft einen Ort gibt, eine Nachwelt, wo Menschen wie Kleist oder Günderrode verstanden werden und ihrem Leben so, im Nachhinein, Sinn gegeben würde. ‒ Kleist: „Ach diese Unart, immer an Orten zu sein, wo ich nicht lebe, oder in einer Zeit, die vergangen oder noch nicht gekommen ist.“ (Wolf 1981, S.29)
Inzwischen gibt es keine DDR mehr. Aber wie wir aus „Tabou“ wissen, ist die neue BRD keineswegs der Ort geworden, in dem ein Kleist sich zuhause fühlen könnte. Doch nach Me-too und Gendersprechexperimenten könnte das vielleicht Günderrode etwas anders empfinden. Stimmt da nicht zumindest die Richtung?
Christa Wolf formuliert einen Satz, der ein Zögern zum Ausdruck bringt: „Er nicht ganz Mann, sie nicht ganz Frau ...“ (Wolf 1981, S.95)
Ich erinnere mich an einen Fragebogen in meinem Studium, den wir damals in einem Pädagogikseminar ausfüllten. Es ging um Persönlichkeitsmerkmale. Als der Dozent die Ergebnisse der Auswertung unter uns verteilte, fügte er noch eine Warnung hinzu: es handle sich nicht um unveränderliche, ein für allemal festliegende Merkmale. Menschen entwickelten sich ständig weiter, so der Dozent. In meiner Auswertung wurde mir bescheinigt, daß ich eine weibliche Persönlichkeitsstruktur hätte. Das war für mich kein Problem. Und ich habe auch nicht den Eindruck, daß ich mich in dieser Hinsicht ,weiter‛ entwickelt hätte.
Zum Schluß erzählt Kleist der Günderrode von seinem Dramaprojekt. (Vgl. Wolf 1981, S.115f.) Ein Normanne namens Robert Guiscard will in Griechenland ein Normannenreich errichten. Wir haben es also wieder mit der „Idee von einem Staat“ zu tun. Ein Orakel warnt den Herzog davor, nach Jerusalem zu gehen, weil er dort sein Ende finden würde. ‒ Jerusalem, ein weiterer idealer Staat.
Guiscard fühlt sich sicher, denn vor Griechenland ist er ja nicht gewarnt worden. Dann aber stirbt er plötzlich auf Korfu, wo „einst eine Stadt mit Namen Jerusalem (lag)“. (Vgl. Wolf 1981, S.116)
So verschmilzt also des Herzogs Wunsch, in Griechenland ein Normannenreich zu errichten, mit der Warnung vor Jerusalem, was gleichsam über alle Versuche, eine ideale Gesellschaftsform zu verwirklichen, einen Fluch verhängt: kein Ort. Nirgends.
Freitag, 6. Januar 2023
Blasendenker
Die ‚Querdenker‘, die also, die sich so nennen und von einer Zivilgesellschaft, die mit wirklichem Querdenken nichts anzufangen weiß, als solche anerkannt und abgelehnt werden, sind nichts anderes als Blasendenker; also social-media-Agenten.
Dienstag, 23. August 2022
Eine Welt ohne Olivettis – Ein Nachruf
Mein Offline-Projekt beschränkt sich momentan darauf, auf ein Smartphone zu verzichten und keine Online-Geschäfte zu tätigen. Schon das erweist sich zunehmend als schwierig genug. Ohne diverse Smartphone-Apps, von der Corona-Überwachung über die Buchung von Mietwagen bis zu Bahnreisen, ist man von vielen gesellschaftlichen und Konsumangeboten ausgeschlossen.
Für die Verwaltung meines Bankkontos benutze ich den Online-Zugang; aber nicht um Geschäfte oder Einkäufe zu machen. Ansonsten brauche ich das Internet als Recherchemedium und Publikationsersatz und den PC offline als Schreibmaschine.
Gerade lese ich bei Günter Grass eine Liebeserklärung an seine Schreibmaschine, eine „Olivetti lettera“. PC-Schreibangeboten verweigerte er sich. Von seinen Olivetti lettera besaß er drei, an verschiedenen Standorten in Portugal, Dänemark und Deutschland:
„Alle drei sind mir mechanische Musen. Andere habe ich nicht. In dem Gedichtband ‚Fundsachen für Nichtleser‘, der Ende des letzten Jahrhunderts erschien und in Aquadichten mehr als meine Siebensachen aufzählt, habe ich ihnen einen Vierzeiler gewidmet. Nie ist die portugiesische auf die dänische oder die Behlendorfer Olivetti auf die beiden ausländischen eifersüchtig. Und wie sie mich dreistimmig lieben, bleibe ich ihnen, nur ihnen zugetan.“ (Günter Grass, Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen 2006, S.451)
Das Gedicht in den „Fundsachen für Nichtleser“ (1997, S.43) lautet:
MEINE ALTE OLIVETTI
ist Zeuge, wie fleißig ich lüge
und von Fassung zu Fassung
der Wahrheit
um einen Tippfehler näher bin.
Es bedarf des Internets und seiner Foren, um das Lügen massentauglich zu machen. Die Schreibmaschine hingegen lädt dazu ein, individuell so lange an Texten zu arbeiten, bis eine Fassung bis in die Tippfehler hinein der Wahrheit ähnlicher ist als alle anderen. Und die offene Weite jenseits seines geöffneten Fensters reicht dem Autor Grass, um sich bemerkbar zu machen:
„Stimmt, sie hat ihre Macken. Oft klemmt das Farbband. Doch bin ich mir sicher: sie altert, aber veraltet nicht. Ihr Klappern meldet bei offenem Fenster weithin, daß wir leben, wir beide immer noch leben: hört! Nicht enden will unser Zwiegespräch. Ihr zu beichten, bin ich katholisch genug.“ (Grass 2006, S.451)
Nun – auch Grass lebt nicht mehr. Als veraltet müssen sich diejenigen empfinden, denen es geht wie ihm. Ich bin mir sicher, daß eine Welt ohne Olivettis nicht mehr die seine ist. Jedenfalls ist sie nicht mehr meine.
Freitag, 25. Februar 2022
Klima, Corona ... Putin
Dank Klimakrise und Corona sind wir alle keine Zeitgenossen mehr. Aber Putin ist ein Wiedergänger. Er kommt aus einer gefälschten Vergangenheit, um die Gegenwart zu überschreiben. Auf Kosten der Zukunft.
Samstag, 1. Januar 2022
Zum Neujahr: Aus der Zeit gefallen
Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Spahn gebrauchte das Bild von einer Uhr, die die abgelaufene Zeit anzeigt: es ist bereits halb eins; also nicht mal mehr 5 vor zwölf.
Sonntag, 19. April 2020
Abschließendes zu Tomasello
Bei aller Anerkennung für die anthropologisch interessante Fülle von Details zur frühkindlichen Ontogenese des Menschen stören mich vor allem Begriffe wie „exekutive Selbstregulation“ und „kollektive Intentionalität“. Ich sehe hier im Unterschied zu früheren Büchern, insbesondere zu „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002), eine Verschiebung von Tomasellos Forschungsansatz weg von einer ausgewogenen, die Geisteswissenschaften einbeziehenden, hin zu einer primär naturwissenschaftlich ausgerichteten Methodik.
Kybernetik und Systemtheorie
Zunächst war ich versucht gewesen, Tomasellos Darstellung eines dreifach ausdifferenzierten Entwicklungsprozesses, in Tomasellos Worten die biologischen „Reifungsprozesse exprimierter Fähigkeiten“ (1), die „psychologische Entwicklung“ (2) und den „soziokulturellen Kontext“ (3) (vgl. Tomasello 2020, S.18), mit meinem eigenen Ansatz gleichzusetzen. Aber tatsächlich meint Tomasello mit der individuellen Ontogenese des Kindes in den ersten sieben Lebensjahren nicht den Menschen als individuelles Bewußtsein (2) auf der Grenze zwischen Biologie (1) und Kultur (3); stattdessen geht es Tomasello um die „Ontogenese der vernunftbasierten Rationalität und Moral von Kindern“ als Bestandteil einer „evolutionären Entwicklungsbiologie“. (Vgl. Tomasello 2020, S.66 und S.40)Michael Tomasello beschreibt sein Konzept als einen „evolutionär fundierte(n) Ansatz mit Bezug auf die Ontogenese“, der „die ökologischen Herausforderungen und resultierenden Anpassungen für den Organismus in jeder Entwicklungsperiode aus sich selbst heraus deutlich macht“. (Vgl. Tomasello 2020, S.41) Wenn hier von „ökologischen Herausforderungen“ die Rede ist, wird deutlich, daß hermeneutische und phänomenologische Ansätze keine Rolle spielen. An deren Stelle treten kybernetische und systemtheoretische Begriffe wie „Äquilibration“, „kognitive Neuorganisation“, „Exekutivebene“, individuelle und soziale „Selbstregulation“ und „normative Selbststeuerung“. (Vgl. Tomasello 2020, S.60ff.)
Alle diese Begriffe sind Bewußtseinsersatzbegriffe, die dem Umstand geschuldet sind, daß sich Tomasello „auf das Handeln als primärer Analyseebene“ konzentrieren will. (Vgl. Tomasello 2020, S.64) Von dem Handeln der beobachteten Kinder her soll „indirekt“ auf „innere Prozesse“, also auf ihr Bewußtsein geschlossen werden. Zugleich hält Tomasello fest:
„Das bedeutet nicht, dass die zugrunde liegenden psychologischen Prozesse irgendwie unwichtig oder problematisch sind; im Gegenteil, sie strukturieren alles.“ (Tomasello 2020, S.64)Wir haben es also mit einer behavioristischen Methodik zu tun, die aber im Unterschied zum Behaviorismus das subjektive Bewußtsein nicht leugnet. Dennoch ist dieser Blick von außen auf das Verhalten von Kindern vergleichbar mit dem Konzept einer künstlichen Intelligenz, als hätten wir es mit von Algorithmen gesteuerten Maschinen zu tun. Tomasello läßt sich im Zusammenhang mit „Prozesse(n) exekutiver (normativer) Selbstregulation“, also schlicht mit Bezug auf das Selbstbewußtsein, dazu verleiten, von den „verschiedene(n) Perspektiven oder Auffassungen von etwas innerhalb ein und desselben kognitiven Arbeitsspeichers“ zu sprechen (vgl. Tomasello 2020, S.132; Hervorhebung – DZ), als handelte es sich bei der Rekursivität um ein Modul in einer Computerhardware. Das ist um so bemerkenswerter, als Tomasello sich an anderer Stelle ausdrücklich gegen „komputationsbasierte Theorien“ wendet. (Vgl. Tomasello 2020, S.265) Bewußtsein wird hier also als eine Form künstlicher Intelligenz konzeptioniert, so wie ja auch viele KI-Forscher immer mal wieder ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen, daß im Zuge der Weiterentwicklung der KI zu einer allgemeinen KI so etwas wie Bewußtsein emergiert.
Mir geht es darum, daß es im Rahmen einer Ontogenese in Richtung auf eine vernünftige, moralbasierte Rationalität nicht angemessen ist, sich ausschließlich mit „ökologischen Herausforderungen und resultierenden Anpassungen“ zu befassen. Das war auch in Tomasellos früheren Büchern noch nicht so gewesen. In „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002) war Tomasello noch von einem Mix aus geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Methodik ausgegangen. Dort ordnet er die Feldforschung den Geisteswissenschaften zu und die Laborexperimente den Naturwissenschaften. Die Feldforscher haben es mit reichhaltigen Kontexten zu tun, und die Laborexperimente sind kontextarm. Bei der Feldforschung gibt es also einen gesteigerten Interpretationsbedarf hinsichtlich der gesammelten Daten. Das geht wiederum mit der Notwendigkeit einer hohen phänomenologischen Sensibilität bei der Datenerhebung und eines hohen hermeneutischen Aufwands bei der Auswertung der gesammelten Daten einher.
In „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ hatte Tomasello noch ein Gespür dafür, daß ein methodischer Reduktionismus in der anthropologischen Forschung unangebracht ist. Das gilt um so mehr, wenn es um Fragen der (Onto-)Genese der menschlichen Moralität geht. Zwar gesteht Tomasello auch in seinem aktuellen Buch in seiner Methodendiskussion am Ende des Buches die Notwendigkeit einer „Verbindung von Labor- und Feldforschung“ ein (vgl. Tomasello 2020, S.478), bleibt dabei aber eine eingehendere bewußtseinstheoretische Erläuterung zum behavioristischen Aspekt seines ökologisch-systemtheoretischen Ansatzes, die auch geisteswissenschaftlichen Standards genügt, schuldig.
Was die menschliche Moralität betrifft, ist die Beschränkung auf die ersten sieben Lebensjahre zwar begründbar, aber zugleich auch begründungsbedürftig. Die ontogenetische Herausbildung einer universellen Vernunft reicht weit über die frühe Kindheit hinaus und umfaßt ein ganzes Menschenleben. Darauf wird noch einzugehen sein.
Ein auf Kybernetik und Systemtheorie beschränkter methodischer Reduktionismus scheitert daran, daß moralische Entscheidungen immer in reichhaltigen Kontexten gefällt werden müssen, die sich nicht einfach auf Fairneß hinsichtlich der Verteilung von Gütern reduzieren lassen. Selbst hier kann die an den Tag gelegte Fairneß vielfältige strategische Gründe haben, die sich wiederum nicht einfach auf Moral zurückführen lassen. Der moralische Akteur ist immer wieder gezwungen, die Situation zu interpretieren. Die unterschiedlichsten, ja sogar gegensätzlichen Entscheidungen lassen sich moralisch begründen, weil es dabei immer auf die individuelle Urteilskraft, also auf die Vorstellungen des moralischen Akteurs ankommt; und wie Tomasello in „Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral“ (2016) schreibt, lassen sich Vorstellungen nicht selektieren! (Vgl. Tomasello 2016, S.127) Auch im aktuellen Buch weist Tomasello auf diesen bemerkenswerten Umstand hin, ohne allerdings daraus irgendwelche Konsequenzen für seinen evolutionsbiologischen Ansatz zu ziehen:
„Ebenso wie Wissenschaftler an ihren zentralen theoretischen Überzeugungen festhalten, indem sie die empirischen Belege auf bestimmte Weisen interpretieren und konstruieren (), können Individuen auch ein Gefühl der zentralen moralischen Identität aufrechterhalten, obwohl sie Akte begehen, die andere für unmoralisch halten, indem sie die Situation auf kreative Weise interpretieren.“ (Tomasello 2020, S.413)Kreative Interpreten ihres eigenen Handelns entziehen sich jedem notwendigerweise auf das Verhalten beschränkten evolutionären und kulturellen Selektionsmechanismus.
Die „Gesamtstruktur und Ontogenese der vernunftbasierten Rationalität und Moral von Kindern“ (Tomasello 2020, S.66) läßt sich also keinesfalls mit Hilfe einer kybernetisch-systemtheoretischen Begrifflichkeit erfassen. – Was aber soll die Begriffsbildung „vernunftbasierte Rationalität“ mit Bezug auf kleine Kinder bedeuten? Ohne weitere Differenzierung hinsichtlich einer Erwachsenenvernunft droht hier eine Rückprojektion von späteren Lebensphasen zuzuordnenden Kompetenzen auf kleine Kinder. Und schon was die Erwachsenen betrifft, bleibt der Vernunftbegriff klärungsbedürftig. Stattdessen setzt Tomasello aber unkritisch eine Jahrhunderttausende bis in die frühmenschlichen Ursprünge zurückreichende, sich in der frühkindlichen Ontogenese fortsetzende Entwicklungsgeschichte der Vernunftsrationalität voraus.
Um den Sachverhalt etwas zu vereinfachen will ich hier nicht bis zum Logos der griechischen Philosophie zurückgehen, sondern mich an die Aufklärung des 17. und 18. Jhdts. halten und mich dabei nur auf deren universellen Anspruch beziehen. Die von den Aufklärern behauptete Universalität der menschlichen Vernunft ist in der Praxis nie wirklich universell gewesen. Von Anfang an wurden in den letzten vierhundert Jahren stillschweigend, aber auch explizit bestimmte Gruppen von Menschen aus ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen. Die Vernunft ist immer schon, also im engeren Sinne auf ihre vierhundertjährige Geschichte bezogen, ein ambitioniertes Konzept gewesen, dessem universellen Anspruch bis heute nicht einmal die heutigen Erwachsenen dauerhaft gewachsen sind, dem sie sich aber gleichwohl stellen müssen.
Aber was die frühe Ontogenese betrifft, macht es keinen guten pädagogischen Sinn, schon Kleinkinder für vernunftsfähig zu erklären. Dabei geht es nicht darum, daß hier wiedermal eine Gruppe von Menschen von der Vernunft ausgeschlossen werden soll. Aber am Beispiel John Lockes können wir sehen, was es bedeutet, schon Dreijährige – John Locke: „Sobald sie sprechen können.“ – für vernunftsfähig zu erklären: das Ergebnis war eine schwarze Pädagogik, in der der eigene Wille des Kindes so lange brutal unterdrückt wurde, bis es nichts anderes mehr wollen konnte als die anderen. Ironischerweise belegt John Locke die Vernunftsfähigkeit kleiner Kinder mit einem Verweis auf ihre Empfindsamkeit für Stolz und Scham, wie sie auch Tomasello im Rahmen der kollektiven Intentionalität zur Grundlage für die Konstruktion einer moralischen Identität macht. Und zwar ebenfalls ab einem Alter von drei Jahren. (Vgl. Tomasello 2020, S.396ff. und S.416)
Letztlich geht es vor allem darum, daß Kinder ihre eigene Entwicklung durchlaufen können müssen, bevor sie für die Erwachsenenvernunft empfänglich sind. Das schreibt übrigens auch Tomasello. Die kooperativen Motive und Entwicklungen, so Tomasello, „sind nicht plötzlich in vollem Umfang vorhanden“:
„Sie entstehen durch einen zeitlich ausgedehnten Entwicklungsprozess, in dem Reifung, Erfahrung und exekutive Selbstregulation jeweils eine konstitutive Rolle spielen.“ (Tomasello 2020, S.274)Allerdings umfaßt dieser „zeitlich ausgedehnte() Entwicklungsprozess“ mehr als nur die ersten sechs- bis sieben Lebensjahre.
Um den inneren Zuständen von kleinen Kindern gerecht zu werden, muß Rekursivität, ein zentrales Thema aller Bücher Tomasellos, auch des aktuellen Buches, im Zentrum des Forschungsansatzes stehen. Die Forscher müssen sich ständig in die Kinder hineinversetzen und die Welt aus ihrer Perspektive heraus sehen. Und sie müssen selbstverständlich auch rekursiv die rekursiven Grenzen frühkindlichen Denkens und Empfindens berücksichtigen. Was Tomasello übrigens auch ständig macht. Er beschränkt sich keineswegs nur auf die Beobachtung ihres Verhaltens. Dafür sind aber hermeneutische und phänomenologische Kompetenzen auf der Seite der Forscher unverzichtbar.
Zugleich aber bleibt der Schluß vom äußeren Verhalten auf die inneren Zustände eines Akteurs immer prekär. Die inneren Zustände sind rekursiv so mit den kommunikativen Kontexten verschränkt, daß jedes vermeintliche Motiv durch querliegende andere Motive beeinflußt wird und vielfach gebrochen ist und mit ein und demselben Verhalten die unterschiedlichsten Befindlichkeiten einhergehen können. Das tatsächliche Handeln ist letztlich nichts anderes als das Schwert, das den gordischen Knoten rekursiv verschränkter Motive durchhaut. Und das gilt insbesondere und vor allem für moralisches Handeln. Denn nur das Handeln, das einfach unserem Begehren folgt, ohne kontextuelle Rücksichten, ist vergleichsweise unkompliziert.
Tomasello selbst gesteht das Problem ein, wenn er schreibt, „dass die subjektive Perspektive eines einzelnen Individuums“ zu jedem „beliebigen Zeitpunkt übereinstimmen oder nicht übereinstimmen kann mit der objektiven Situation, wie sie unabhängig von dieser oder jeder beliebigen anderen besonderen Perspektive existiert“. (Vgl. Tomasello 2020, S.71) – Daß die „subjektive Perspektive eines einzelnen Individuums“ zu jedem „beliebigen Zeitpunkt“ übereinstimmen oder auch nicht übereinstimmen kann mit anderen Perspektiven, ist eine fundamentale hermeneutische Einsicht, die bei jeder anthropologischen Untersuchung der individuellen Ontogenese berücksichtigt werden muß. Das ist auch der Grund, warum moralische Zustände nicht selektiert werden können. Es gibt hier keine Kontinuität zwischen der individuellen Ontogenese und übergreifenden biologischen und kulturellen Entwicklungsprozessen, so daß es nichts gibt, was selektiert werden könnte. Die Selektion richtet sich nur auf das Verhalten; dieses ist aber nicht notwendig mit bestimmten inneren Zuständen verknüpft.
Was aber im letzten Zitat aus hermeneutischer und phänomenologischer Sicht in die falsche Richtung geht, ist der Hinweis auf unabhängig von beliebigen subjektiven Perspektiven bestehende objektive Situationen! Gemeint sind bestimmte Situationen bei Experimenten, die so arrangiert sind, daß ein Schimpanse bzw. ein Kind etwas sehen kann, was ein anderer Schimpanse oder ein Erwachsener aufgrund eines Hindernisses nicht sehen kann. Diese Situation ist natürlich gewollt kontextarm. Auch in vielen Alltagssituationen außerhalb solcher Laborexperimente verständigen wir uns relativ leicht auf solche objektiven Situationen. (Vgl. Tomasello 2020, S.104ff.)
Aber in vielen anderen Situationen ist diese Vorstellung von, von unserer subjektiven Perspektive unabhängigen, objektiven Situationen eher unterkomplex, und hier erweist sich die Unterscheidung zwischen subjektiver Einbildung und objektiver Situation für das menschliche Denken und Handeln als schlichtweg irrelevant. Wenn wir uns auf ein schwieriges Projekt, für das unsere Zusammenarbeit notwendig ist, verständigen wollen oder uns auf ein strittiges Thema einigen müssen, um unsere widersprüchlichen Perspektiven darauf zu klären, sind unsere Vorstellungen und Wertungen rekursiv so zwischen unserer eigenen subjektiven Perspektive und der subjektiven Perspektive der anderen, mit denen wir uns in dieser gemeinsamen (kommunikativen) Situation befinden, vermittelt, daß von einer „im Hintergrund“ ‚lauernden‘ „‚objektiven‘ Perspektive“ (vgl. Tomasello 2020, S.104) nicht mehr die Rede sein kann. Was hier im Hintergrund ‚lauert‘ ist unsere Lebenswelt; und sie bildet die kulturelle Basis unserer Sprachlichkeit.
Die in Tomasellos neuem Buch bevorzugte kybernetisch-systemtheoretische Methodik, die auf das methodische Potential der Geisteswissenschaften verzichtet, ist auch verantwortlich für die allzu schlicht geratene Narration des eingangs erwähnten dreifach ausdifferenzierten menschlichen Evolutionsprozesses. Mit der Beschränkung auf die ersten sieben Lebensjahre („Neunmonatsrevolution“ (vgl. Tomasello 2020, S.86ff.) und komplexe Empfindungen von Schuld und Scham ab drei Jahren (vgl. Tomasello 2020, S.397f. und S.416)) suggeriert Tomasello, daß die frühe Ontogenese des Menschen das Schimpansenerbe – wenn ich hier vom ‚Schimpansenerbe‘ spreche, meine ich damit den letzten gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Menschen – hinter sich läßt und an die Stelle der Phylogenese die kulturelle Entwicklung tritt. Es stellt sich so der Eindruck von hintereinandergeschalteten Entwicklungsphasen ein. Ich gehe dagegen von Sedimentierungsprozessen aus, in denen verschiedene biologische und kulturelle Entwicklungsphasen im individuellen Unterbewußtsein virulent bleiben. Ich werde darauf zurückkommen.
Kollektive Intentionalität
Dabei berücksichtigt Tomasello nicht den merkwürdigen Umstand, daß sich im Jugend- und Erwachsenenalter, insbesondere bei Männern, die Rekursivität der geteilten Intentionalität zurückbildet. Bei Frauen ist das insofern anders, als sie aufgrund der Genderproblematik einem größeren gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sind und deshalb mehr darauf angewiesen sind, sich in ihre Mitmenschen hineinzuversetzen.Aber ob es nun auf Männer mehr und auf Frauen weniger zutrifft oder nicht: diese Rückbildung geteilter Intentionalität bedroht uns alle. Ich erinnere mich, wie Ute Andresen, Schriftstellerin und Grundschulpädagogin, mir gegenüber mal vor vielen Jahren ihr Befremden über eine von ihr gemachte häufige Beobachtung zum Ausdruck brachte, nach der sich bei denselben Menschen, die als kleine Kinder mit offenen Augen vertrauensvoll in die Welt hinausschauen, dieser Blick, wenn sie älter werden, eintrübt, bis sie irgendwann nichts mehr sehen.
Ich sehe eine der Ursachen für dieses von Andresen angesprochene Erblinden in einem Phänomen, das man mit Tomasellos Begriffsbildung der „kollektiven Intentionalität“ bezeichnen könnte und das die individuelle Intentionalität mit der mit ihr verbundenen Rekursivität aus unserem Bewußtsein verdrängt. Bei Tomasellos „kollektiver Intentionalität“ handelt es sich um eine für mich nicht nachvollziehbare Begriffsbildung. Die „kollektive Intentionalität“ gehört zusammen mit der Exekutivfunktion zur problematischen Begrifflichkeit in Tomasellos neuem Buch. (Vgl. Tomasello 2020, S.35ff. u.ö.) ‚Kollektivität‘ meint bei Tomasello letztlich nichts anderes als Intersubjektivität. (Vgl. Tomasello 2020, S.179: hier führt Tomasello das Verstehen von Objektivität auf „Fertigkeiten kollektiver Intentionalität“ zurück.) Man könnte diesen Begriff auch auf die Lebenswelt beziehen, in die das einzelmenschliche Bewußtsein eingebettet ist. Tatsächlich aber ist die kollektive Intentionalität meiner Auffassung nach, anders als die gemeinsame Intentionalität, ein Gegenbegriff zur individuellen Intentionalität. Allenfalls die Sowjetpädagogik hatte keinen Widerspruch zwischen Individuum und Kollektiv gesehen.
Ich bin da jedenfalls anderer Auffassung und berufe mich dabei auf den Sprachgebrauch: ‚kollektiv‘ ist alles, was nicht individuell ist. Intersubjektivität ist schon deshalb nicht synonym zur Kollektivität, weil sie, anders als ein Kollektiv, Subjekte voraussetzt, die sich zu einander ins Verhältnis setzen. Tomasello bestätigt diesen Sprachgebrauch an verschiedenen Stellen, z.B. wo er die kollektive Intentionalität mit einem „Gruppengeist“ gleichsetzt. (Vgl. Tomasello 2020, S.117; zur „Konformität“ vgl. auch Tomasello 2020, S.196ff. und S.205ff.) An einer anderen Stelle beschreibt Tomasello die kollektive Intentionalität als eine „Hochskalierung (der Zweipersonalität – DZ) zur Selbstidentität der Gruppe“:
„Es ist die Einsicht, dass ‚wir‘ und jeder, der mutmaßlich einer von uns ist, uns die Dinge so (so und nicht anders! – DZ) vorstellen und handeln; das ist es, was wir sind.“ (Tomasello 2020, S.451)Wenn ich also hier vom ‚Erblinden‘ spreche, so meine ich damit die Desensibilisierung des Menschen für individuelles Anderssein. Die unglückliche Begriffsprägung ‚Kollektive Intentionalität‘ steht für sich beschränkend auf unser rekursives Potential auswirkende und sich gegen Gruppenfremde richtende Gruppendynamiken („Gruppengeist“, „Konformität“). So kann Tomasello auch nicht mehr die mit der Zweitpersonalität verbundenen Möglichkeiten, solchen Gruppendynamiken entgegenzuwirken, erkennen. Er reduziert die Zweitpersonalität stattdessen auf eine Form von Drittpersonalität für Zweiergemeinschaften.
Sedimentierung
Zurück zur vermeintlichen Überwindung der konkurrenzorientierten Intentionalität des letzten gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Menschen: immer wieder erweisen sich Erwachsene als weit weniger kooperativ als kleine Kinder. Im Alltag, das von einem auf Konkurrenz basierenden Wirtschaftssystem geprägt ist, dem Kapitalismus, schlägt das vermeintlich überwundene Schimpansenerbe immer wieder durch. Aber auch Kinder sind nicht dauerhaft empathisch. In bestimmten Situationen können ältere Kinder, noch vor der Pubertät, grausam und rücksichtslos agieren. Selbst Kleinkinder im Alter von 14 bis 18 Monaten verlieren ihren ursprünglichen Altruismus, sobald sie für ihre uneigennützig angebotene Hilfe belohnt werden. (Vgl. Tomasello 2010/2008, S.22f.) Von nun an helfen sie nur noch gegen Belohnung; nicht anders als Schimpansen.Gertrud Nunner-Winkler beschreibt, wie drei bis vierjährige Kinder ohne jedes Schuldgefühl einen Spielkameraden von der Schaukel stoßen, wenn ihnen gerade danach ist. Ihre Gefühle sind dabei völlig am Erfolg ihres Verhaltens orientiert. Die körperliche Unversehrtheit des Spielkameraden spielt dabei keine Rolle:
„Die Stabilität der amoralischen Emotionszuschreibung (sprich: die Erfolgsorientierung – DZ) zeigt, daß diese nicht ein bloßes Artefakt ist; jüngere Kinder erwarten in der Tat, daß ein Protagonist sich wohl fühlt, nachdem er eine moralische Regel, von der er sehr wohl weiß, daß sie gilt und warum sie gilt, übertreten hat, auch wenn er dadurch das Opfer gravierend schädigt und selbst keinen physisch greifbaren Nutzen daraus zieht. Diese Ergebnisse lassen das jüngere Kind fast als ‚amoralisch‘ erscheinen, als Wesen, das moralische Emotionen nicht kennt.“ (Gertrud Nunner-Winkler, Wissen und Wollen. Ein Beitrag zur frühkindlichen Moralentwicklung, in: Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung, hrsg.v. Axel Honneth, Thomas McCarthy, Claus Offe, Albrecht Wellmer, Frankfurt a.M. 1989, S.574-600: 590)Ein krasses Beispiel für das virulent bleibende Schimpansenerbe ist der Drill auf einem Kasernenhof. Es gibt zwar erhebliche phänomenale Unterschiede zu einer Schimpansengruppe; aber das Aggressionspotential ist dasselbe, und die Rekursivität tendiert gegen Null. Mitdenken gilt nicht als eine soldatische Tugend.
Ein anderes Beispiel aus der aktuellen Corona-Krise bilden die völlig irrationalen und wenig kooperativen Hamsterkäufe beim Toilettenpapier. – Sicher gibt es in diesem Zusammenhang viele Gegenbeispiele von gegenseitiger Hilfe. So gibt es wissenschaftliche Studien zum Verhalten des Menschen in Naturkatastrophen: Überschwemmungen und Erdbeben, wo nicht etwa, wie man so meint, Gewalttaten und Plünderungen auf der Tagungsordnung stehen, sondern verblüffende Belege von gegenseitiger Hilfe bis hin zum selbstlosen Einsatz des eigenen Lebens alles andere dominieren. Vielleicht lassen solche akuten, plötzlich eintretenden Krisen Menschen, die sonst an Egoismus und Konkurrenz orientiert sind, in ihre ursprüngliche Natur zurückfallen.
Es geht hier nicht darum, das eine gegen das andere aufzurechnen, sondern es soll lediglich ein Hinweis darauf sein, daß wir es bei Kooperation und Rekursivität nicht einfach nur mit ontogenetisch verankerten „Reifungskomponenten“ zu tun haben. Was übrigens auch Tomasello schreibt. (Vgl. zum Perspektivenwechsel Tomasello 2020, S.99) Aber er berücksichtigt nur die, die Reifung kooperativer Fähigkeiten begleitenden, kulturellen Lernprozesse. Von einem möglicherweise über die frühe Ontogenese hinaus virulent bleibenden Schimpansenerbe ist bei ihm nirgendwo die Rede. Man täte an dieser Stelle allerdings auch wiederum den Schimpansen Unrecht, für die Frans de Waal Belege für empathisches Verhalten und Hilfsbereitschaft bringt, die so weit geht, daß dabei ebenfalls die eigene Unversehrtheit riskiert wird.
Tatsächlich ist dieses Schimpansenerbe keineswegs nur negativ. In „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002) führt Tomasello das individuelle Lernen darauf zurück. In Verbindung mit dem kulturellen Lernen ermöglicht es uns ab vier bis fünf Jahren kreative Sprünge, die die bloße Fixierung auf traditionelle Kontinuität überwinden und Innovationsschübe ermöglichen. (Vgl. Tomasello 2002, S.67) Allerdings taucht diese Erkenntnis aus „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ in seinem aktuellen Buch nicht mehr auf, was letztlich dazu führt, daß Tomasello mögliche Innovationsschübe nur noch behaupten, aber nicht mehr begründen kann. Stattdessen hebt Tomasello die durchgehende, ununterbrochene „Konformität“ in der frühen Ontogenese hervor. (Vgl. Tomasello 2020, S.196ff.) So muß man eigentlich sagen, daß Tomasello weniger von der Erwachsenenvernunft auf kleine Kinder zurückprojeziert als vielmehr von der frühen Ontogenese auf die Natur des Menschen.
Nirgendwo ein Schimpanse
Ich möchte hier nochmal kurz Tomasellos Entwicklungskonzept mit dem von Rousseau vergleichen. Jean-Jacques Rousseaus Entwicklungskonzept des Kindes beinhaltet zwei Phasen bis zur Pubertät, mit der die dritte Phase, das Jugendalter, beginnt. Die erste Phase ist die des Säuglings bzw. der Natur, in der die organischen Fähigkeiten des Saugens, des Weinens, des Sehens ausgebildet werden und in der sich allmählich Fähigkeiten des Greifens mit den Händen und die Beherrschung der übrigen Extremitäten entwickeln.Die zweite Phase ist die des mobilen Kindes, das Alter, in dem das Kind vor allem von den Dingen lernt; den Dingen der natürlichen und der artifiziellen Umgebung. Im Alter der reifen Kindheit, zwei bis drei Jahre vor der Pubertät, ist dann das Kind so weit entwickelt, daß es seine Umgebung weitgehend beherrscht. Es ist in allen seinen Bedürfnissen autonom und bedarf keiner Hilfestellung durch die Erwachsenen mehr.
Erst mit dem Eintritt in die Pubertät entwickelt der jetzige Jugendliche Bedürfnisse, die ihn wieder von anderen Menschen abhängig machen. Es beginnt das Alter des kulturellen und sozialen Lernens, das „Alter der Vernunft“. Die ganze Kindheit über war das Kind ein asoziales Wesen, das ausschließlich an der Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse ausgerichtet gewesen ist. Jede Einmischung des erwachsenen Menschen in die natürliche Entwicklung des Kindes bewertete Rousseau als Übel, weil sie das Kind daran hinderten, mit seinen Fähigkeiten bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu wachsen.
In Michael Tomasellos neuem Buch „Mensch werden“ wird ein zu Rousseau in allem gegenteiliges Konzept der frühen Ontogenese vertreten. Ab dem neunten Lebensmonat ist das kleine Kind völlig auf die Kommunikation mit erwachsenen Menschen angewiesen und ab dem dritten Lebensjahr geht der Erwerb von Fertigkeiten und Wissen zum überwiegenden Teil auf den ‚Unterricht‘, also auf die kulturelle Vermittlung der Erwachsenen zurück, und nur ein ganz geringer Teil ist auf die individuellen Erfahrungen des kleinen Kindes zurückzuführen. Das soziale und kulturelle Lernen ist für das kleine Kind nicht etwa schädlich, sondern überlebensnotwendig, und es hat sogar eine biologische Reifungskomponente. Das kleine Kind ist also nicht etwa asozial, wie Rousseau meinte, sondern von Natur aus sozial. Tomasello geht sogar so weit, Konformität mit der Gruppe zu einem herausragenden Merkmal dieses Lebensalters zu machen, ohne aber dabei zu klären, wo die altersgemäßen und sozialen Grenzen dieser Konformität liegen könnten.
Wenn ich weiter oben die Universalität des Vernunftanspruchs hervorgehoben habe, dann in dem Bewußtsein, daß Tomasello genau diese Vernunft nicht im Sinn hat, wenn er sechs- bis siebenjährige Kinder als ‚vernünftig‘ bezeichnet. Die ‚Vernunft‘, die er meint, verbleibt innerhalb der Grenzen einer Gruppe. (Vgl. Tomasello 2020, S.469f.) Vernünftig ist, wer mit seiner Gruppe ‚konform‘ ist. Sobald Kinder diese Konformität an den Tag legen, treten sie in das „Alter der Vernunft“ ein:
„In vielen (gewiss nicht in allen) Situationen denken die Kinder in diesem Alter nicht nur, sondern wissen auch, was sie denken, und sogar, was und wie man von ihnen erwartet, dass sie von einem normativ rationalen Standpunkt aus denken sollen. Das ermöglicht den Kindern dieses Alters zum ersten Mal, ihren Kopf mit einem Gleichaltrigen zusammenzustecken, um Dinge zu erwägen, Probleme so zu lösen, wie es für sie allein unmöglich wäre.“ (Tomasello 2020, S.270)Dabei idealisiert Tomasello die Gruppen, zu denen sich Kinder zusammenfinden. Von Schimpansen heißt es: „Sie versuchen ständig, andere auszustechen, indem sie sie niederkämpfen, austricksen oder sie ihrer Freunde berauben.“ (Vgl. Tomasello 2020, S.278) In den Gruppen, zu denen sich sechs- bis siebenjährige Kinder zusammenfinden, haben wir es hingegen mit „ebenbürtigen Gleichaltrigen“ zu tun, unter denen „niemand eine Führungsrolle spielt“. (Vgl. Tomasello 2020, S.264) Also alles wunderbare kleine Erwachsene; erwachsener als viele große Erwachsene, die man so kennt. Und nirgendwo ein Schimpanse.
Es klingt fast so, als handelte es sich bei den von Tomasello beschriebenen Gleichaltrigengruppen sechs- bis siebenjähriger Kinder um die kleine Schwester der großen universellen Vernunft. Tatsächlich aber haben wir es Tomasello zufolge hier wie dort nur mit „kollektiv akzeptierten Gruppenstandards von Rationalität (Vernunft) und Moral (Verantwortlichkeit)“ zu tun, die durch eine „Eigengruppe/Fremdgruppe-Psychologie“ charakterisiert sind. (Vgl. Tomasello 2020, S.487 und S.360)
Wenn man sich die Fülle der von Tomasello vorgelegten anthropologischen Daten anschaut, scheint Rousseau mit seinem Entwicklungskonzept gründlich falsch zu liegen. Aber mir geht es nicht darum, empirische Daten gegeneinander auszuspielen. Man sollte sich besser fragen, vor welchem Hintergrund Rousseaus Entwicklungskonzept Sinn macht und welche ontogenetischen Phänomene von Tomasello nicht berücksichtigt werden.
Rousseau hat die Beobachtung gemacht, daß Kinder in den Städten, in denen sie aufwuchsen, vielfältigen schädlichen Einflüssen der Erwachsenengesellschaft ausgesetzt waren. Bevor sie überhaupt Kinder sein konnten, entwickelten sie schon lange vor der Pubertät die Bedürfnisse von Erwachsenen. Und bevor sie moralische Kompetenzen entwickeln konnten, orientierten sie sich an der Gier und der rücksichtslosen Konkurrenz der Erwachsenen um Prestige und Wohlstand.
Bei den Kindern auf dem Land beobachtete er hingegen, daß sie, bevor die Pubertät viel zu früh eintrat, die Chance hatten, Kinder zu sein, was für Rousseau bedeutete, ihre eigenen kindlichen Bedürfnisse auszuleben. Deshalb setzt bei Rousseau die eigentliche Pädagogik erst mit der Pubertät ein. Erst jetzt, mit dem Einsetzen neuer biologischer und sozialer Bedürfnisse, werden Vernunft und Moral zu einem notwendigen Bestandteil der Entwicklung des Jugendlichen. Erst jetzt machen pädagogische Maßnahmen einen Sinn. Hier beginnt das eigentliche soziale und kulturelle Lernen. Rousseau nannte das die zweite Geburt des Menschen.
Tomasello konzentriert sich so sehr auf die frühe Ontogenese der ersten sieben Lebensjahre, daß er die spätere Entwicklung des Menschen aus dem Blick verliert. Der Mensch erklärt sich für ihn vollständig aus den ersten sieben Lebensjahren. Damit verfehlt er aber genau das, worum es eigentlich gehen sollte: um „Mensch“ zu „werden“, bedarf es eines ganzen Menschenlebens. Und dabei ist Konformität nicht nur eine Bedingung, sondern auch eine Gefährdung.
Fazit
Letztlich beschränkt sich das, was sich anhand von Tomasellos Untersuchungen belegen läßt, darauf, daß kleine Kinder ab neun Monaten auf kooperative Umgangsweisen besonders angewiesen sind, da sie nur so überleben können. Außerdem sieht alles danach aus, daß die frühen kooperativ-rekursiven Bedürfnisse von Kleinkindern die ontogenetische Basis für die einzigartige Sprachlichkeit des Menschen bilden, die uns vor den anderen Menschenaffen auszeichnet. Die ersten Adressaten von Kleinkindern sind deshalb Erwachsene, von denen sie Unterstützung erhalten und von denen sie sprechen lernen. Gleichaltrige Kleinkinder spielen füreinander keine Rolle. (Vgl. Tomasello 2020, S.89, 185f.u.ö.) Wenn sie sich dann ab dem Alter von drei Jahren zu Gleichaltrigengruppen zusammenfinden, betrachten sie sich gegenseitig als ebenbürtig und orientieren sich in ihrem Verhalten an der Gruppe. Konformität ist das prägende Prinzip ihrer weiteren moralischen EntwicklungNatürlich ist mit dem kooperativen Verhalten von Kleinkindern keinerlei strategisches Bewußtsein verbunden. Sie sind auf elementare Weise gutartig. Das berechtigt uns aber eben nicht dazu, zu glauben, wir hätten in unserer Ontogenese auf diese Weise mit neun Monaten das Schimpansenerbe dauerhaft hinter uns gelassen. Es bleibt im Sediment unseres Unterbewußtseins virulent. Es bleibt eine über das Alter von sechs- bis siebenjährigen Kindern hinausreichende, ungeklärte Entwicklungsaufgabe, in welcher Weise der werdende Mensch seiner frühkindlichen Konformität (oder in anderen Worten: dem frühkindlichen Altruismus) Grenzen zieht und wie er sich zum Gruppengeist ins Verhältnis setzt. Der dreifach ausdifferenzierte Entwicklungsprozeß des Menschen bildet kein Entwicklungskontinuum, sondern ist in sich anachronistisch strukturiert.
Es ist vor allem die eingangs erwähnte kybernetisch-systemtheoretische Begrifflichkeit und die Begriffsprägung „kollektive Intentionalität“, weswegen Tomasellos aktuelle Forschung für meinen geisteswissenschaftlichen Ansatz nicht mehr anschlußfähig ist. Hinzu kommt, daß Tomasello den Begriff der Zweitpersonalität inzwischen nicht mehr als eine Gesellungsform eigener Art, sondern als eine frühe, auf Zweiergemeinschaften bezogene Form der Drittpersonalität faßt. Die Zweitpersonalität kommt deshalb auch nicht mehr als von drittpersonalen Instanzen unabhängiger Ursprung der und Ressource für die menschliche Moralität in Betracht. So heißt es z.B.:
„Dem Vorbild kontraktualistischer Moralphilosophen folgend, lautet unsere Arbeitshypothese also, dass die evolutionären und ontogenetischen Wurzeln der menschlichen Moral in kooperativen Tätigkeiten zum gegenseitigen Nutzen liegen: ‚Der ursprüngliche Schauplatz der Moral ist keiner, auf dem ich dir etwas antue oder du mir etwas antust, sondern einer, wo wir etwas gemeinsam tun‘ ().“ (Tomasello 2020, S.276; Zitat im Zitat: Korsgaard 1996, S.275)Die Zweitpersonalität ist also nicht in sich begründet, Du = Ich und Ich = Du, sondern erst über ein Drittes, den gemeinsamen Nutzen, vermittelt. Dieser gemeinsame Nutzen wird dann normativ zum „Wir“ einer Gruppe gewendet, zu dem man dazugehört oder nicht. Tomasello spricht hier in aller naiven Offenheit von einer „Hochskalierung vom Zweitpersonalen zum Mehrpersonalen“ und „zur Selbstidentität der Gruppe“. (Vgl. Tomasello 2020, S.451) Das macht Tomasellos aktuelles Buch, das eine Fülle von hochinteressanten anthropologischen Daten zur frühkindlichen Ontogenese enthält, die aber von einer für diese Ontogenese in vieler Hinsicht unangemessenen Begrifflichkeit überdeckt werden, und das deshalb in zwei unzusammenhängende Teile auseinanderfällt, für meine Zwecke unbrauchbar.
Letztlich bildet Tomasellos aktuelles Buch eine detaillierte umfängliche Zusammenfassung seiner bisherigen Forschung. Mit Ausnahme von „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ (2002). Von diesem Buch mit seinen von seiner späteren Forschung teilweise abweichenden anthropologischen Einsichten ist keine Rede mehr.
Tomasellos Bewußtseinskonzept, die Rekursivität, bietet also, anders als ich bisher meinte, keine Alternative zur kalten Verstandesrationalität der Naturwissenschaften. Keine auf Emotionen bzw. auf Subjektivität basierende Rationalität der Vermittlung von Welt. Nach meiner Lektüre von „Gefühl und Urteilskraft“ (1997) von Carola Meier-Seethaler bleibt mir nichts anderes übrig, als zuzugeben, daß Tomasellos anthropologischer Ansatz einem „male bias“ unterliegt. (Vgl. Meier-Seethaler 1997, S.186ff.) Dabei beruft Meier-Seethaler sich auf Sally Slocum, „Woman the Gatherer: Male Bias in Anthropology“ (1971). (Vgl. Meier-Seethaler 1997, S.187) In diesem Aufsatz entwirft Slocum mit den Sammlerinnen ein Gegenbild zur männlich dominierten Großwildjagd, die auch bei Tomasello eine dominante Funktion für die Sprach- und Moralentwicklung des Menschen innehat. Das ist – aus meiner Sicht – besonders frustrierend, wenn man bedenkt, welche Aufmerksamkeit Tomasello der, in einer patriarchalen Gesellschaftsstruktur vor allem als weibliche Domäne reservierten, Entwicklung des Kleinkindes widmet. Das hat ihn nicht daran gehindert, an einer männlich-patriarchalen Sichtweise auf die menschliche Moral, eben Fairneß und Gerechtigkeit, festzuhalten.
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Dienstag, 1. Oktober 2019
Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2018 (2016)
Jetzt habe ich mir Rosas Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (3/2018) zugelegt, und ich möchte hiermit auch gleich meine Eindrücke zum Besten geben, um zu zeigen, daß die von meiner Freundin aufgedeckte Wissenslücke nicht mehr besteht.
Das erste, was mir auffällt, ist der Optimismus des Professors für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Rosa geht es um eine Soziologie des gelingenden Lebens. Trotzdem stellt er sich gleichzeitig in die Tradition der Kritischen Theorie. (Vgl. Rosa 2018, S.36) Ein natürlicher Partner in dieser Traditionslinie ist Jürgen Habermas mit seiner Konsensorientierung, ein natürlicher Gegner Theodor W. Adorno mit seinem bekannten Ausspruch, daß es kein richtiges Leben im falschen geben könne.
Nun hat Adorno, wie ich glaube, diesen Ausspruch getan, damit ihm widersprochen werde. So ein Satz kann einfach nicht unwidersprochen bleiben. Wo es keine Lebensmöglichkeit mehr gibt, bleibt nur noch der Strick. Hartmut Rosa widerspricht also und setzt seine Resonanztheorie dagegen. Er behauptet, daß es ein gelingendes Leben gebe – im Sinne einer ‚Resonanz‘ zwischen Mensch und Welt – und daß man sogar wissen könne, wie es aussieht. Allerdings verfährt er dabei nach einem schwarz-weiß-Schema, in dem das gelingende Leben kein Mißlingen kennt und das mißlingende Leben kein Gelingen. Seine Beispiele, Anna (gelingendes Leben) und Hannah (mißlingendes Leben), sind allzu einfach gestrickt. (Vgl. Rosa, S.20ff.) Zwar korrigiert Rosa später dieses starre Schema, indem er auf die Notwendigkeit von Entfremdungserfahrungen verweist, die die totalitäre Tendenz einer auf Gelingen fixierten Lebensführung brechen (vgl. Rosa S.59f.u.ö); aber die Entfremdung wird dadurch bestenfalls zum Instrument einer sozialen Gelingensbildung, die den anthropologischen Einsichten von Denkern wie Helmuth Plessner oder Hans Blumenberg in die Entfremdungsstrukturen des Mensch-Weltverhältnisses nicht gerecht wird. Wie übrigens Rosa selbst implizit eingesteht, wenn er sein Unverständnis für Plessners ‚einseitige‘ Fixierung „auf die Aspekte der Störung und Irritation in der Weltbeziehung“ zum Ausdruck bringt. (Vgl. Rosa 2018, S.134)
Auch ich widerspreche Adornos Postulat zum notwendigerweise falschen Leben, begründe meinen Widerspruch aber anders: es gibt die Chance auf ein gelingendes, richtiges Leben, weil der Mensch ein Anachronismus ist. Er paßt nie genau in die Zeit, in der er lebt; und wenn er aus dem (falschen) Zeitgeist herausfällt, wird gelingendes Leben möglich. Mein Begriff des Anachronismusses entspricht dem Adornoschen Begriff der Nicht-Identität.
Sogar Rosa spricht von „Rissen und Brüchen des gesellschaftlichen Denkens, Handelns und Erlebens“, in denen sich die „primordiale Resonanzfähigkeit des Menschen und der Welt“ zeigt. (Vgl. Rosa 2018, S.582) Aber, anders als Rosa meint, scheint in diesen „Rissen und Brüchen“ nicht einfach nur geradehin eine Möglichkeit auf. Wir haben es bei ihnen vielmehr mit einer grundlegenden Brechung unserer individuellen Intentionalität zu tun, die sich nicht einfach harmonisierend überwinden läßt, sondern bestenfalls zu einer zweiten Naivität führt, in der wir um ihre Gebrochenheit wissen. Bei dieser zweiten Naivität geht es eben nicht mehr um eine undifferenzierte, pauschal angesetzte „primordiale Resonanzfähigkeit“, sondern um die Entwicklungsebene von Individuen. Aber der Soziologe Rosa vernachlässigt diese Ebene. Ihm zufolge kommt es auf die Individuen nicht an, sondern nur auf die Kultur bzw. auf die Gesellschaft. (Vgl. Rosa 2018, S.33f., 43, 58, 70 u.ö.)
Dazu paßt, daß Identität für Rosa ein zweifelhafter Begriff ist, der Dauerhaftigkeit vortäuscht, wo Wandel die Regel ist. (Vgl. Rosa 2018, S.43) Unter diesen Zweifel fällt dann auch die Vorstellung von einer ‚Seele‘ als einer geistigen Substanz, wie sie seit Platon das christliche Abendland prägt. Aber es ist nicht phänomenologisch, die Vorstellung von einer ‚Seele‘ damit gleich in Bausch und Bogen zu verwerfen. Wir müssen nicht gleich an eine unvergängliche seelische Substanz glauben, wenn wir uns selbst als Körperdinge erleben und es vor allem die Dinge um uns herum sind, denen wir eine zeitliche Dauer ansehen, die dem Wandel zumindestens für einen begrenzten Zeitraum zu widerstehen scheinen.
Im Gegensatz zu diesen Dingen sind es die Flüssigkeiten und Gase, denen wir Vergänglichkeit und Unbeständigkeit ansehen; eine Option, für die sich Hermann Schmitz, mit dem ich mich im nächsten Blogpost befassen werde, entschieden hat. An uns selbst haben wir die Anschauung eines festen Körpers und die Erfahrung einer Dauer unseres Ichs, woraus sich wiederum die Vorstellung einer Ich-Identität ergibt. Das hat etwas Dinghaftes. Die Vorstellung einer dinglichen Seele ist also lebensweltlich begründet. Und mehr braucht ein Phänomenologe nicht, um dieses Thema ernstzunehmen.
Ich selbst bin der Meinung, daß die Seele ihre Herkunft aus der Lebenswelt hat und sich an der Grenze zwischen Innen und Außen individualisiert. Deshalb definiere ich sie mit Plessner nicht als Ding, sondern als ein Verhalten auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Die Vorstellung einer fortdauernden Ich-Identität verbinde ich mit der exzentrischen Positionalität des Menschen. Sie ist außerzeitlich und nicht-örtlich und deshalb andauernd.
Bei aller Wandelbarkeit unseres Auftretens bleibt die Ich-Identität immer dieselbe, ohne daß wir von einer Ich-Substanz ausgehen müssen. ‚Transzendental‘ meint nicht ‚transzendent‘. Es handelt sich hier lediglich um eine Bewußtseinsfunktion. Das hat nichts mit irgendeinem „Authentizitätsterror“ zu tun, wie Rosa Michel Foucault zitiert. Gerade weil wir raumlos und zeitlos hinter (und neben) uns stehen und deshalb auch nicht authentisch sein können, sondern exzentrisch zu uns und der Welt positioniert sind, bleiben wir immer ‚dieselben‘: nämlich als diejenigen, die sich, mit Plessner gesprochen, zu allem, was ihnen widerfährt, ‚positionieren‘ können. Das ist eine Bewußtseinsleistung. Kant bezeichnet das mit Bezug auf René Descartes als das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption.
In „Beschreibung des Menschen“ (2006) hält Hans Blumenberg fest, daß „Daten des inneren Sinnes ... keine räumliche Bestimmtheit haben müssen“ – also auch im Sinne von Rosas Hinweis darauf, daß wir ständigem Wandel unterliegen und es keine dauerhafte Identität (und deshalb auch keine Seele) gebe –, sei kein Beleg dafür, daß das „physische Körperding“ für die (innere) Bestimmung des Menschen keine Bedeutung hat:
„Die Gegebenheiten des inneren Sinnes, der inneren Erfahrung, sind Etwas im vollen Verstande, nicht nur so etwas wie Etwas für das, was in der Welt vorkommt.“ (Blumenberg 2006, S.333)Mit anderen Worten: Unsere inneren Bewußtseinsprozesse beinhalten selbst Phänomene, die wir als solche ernstzunehmen haben, und sie bilden nicht nur Außenweltphänomene ab. Es gibt eine von der Außenwelt sich unterscheidende innere Welt. Und diese innere Welt ist individuell oder sie ist nicht innen. Kollektiv geteilte Welten mögen vielleicht subjektiv sein, aber sie sind immer nur außen. Zwischen innen und außen verläuft dieselbe Grenzlinie wie zwischen privat und öffentlich.
Für die gesellschaftliche Perspektive sind Individuen wie überhaupt das Scheitern und der Tod des Einzelnen wenig relevant. Im Grunde ist Rosas Resonanztheorie nur eine aufwendig begründete, mit Entfremdungsmomenten angereicherte Wohlfühlphilosophie. Was Rosa als Resonanzphänomene beschreibt, ist letztlich nichts anderes als die gute alte Lebenswelt (Husserl/Blumenberg), ohne daß Rosa ihrem Höhlencharakter gerecht wird.
Tatsächlich erwähnt Rosa selbst die Kritik an der Harmonielastigkeit seiner Resonanztheorie. (Vgl. Rosa 2018, S.740) Er erwidert, daß auch Adorno von „Mimesis“ spricht, und Mimesis meine auch nichts anderes als Resonanz. (Vgl. Rosa 2018, S.584f.) Ich würde sogar ergänzen, daß es Parallelen zwischen Rosas Resonanz und Michael Tomasellos Rekursivität gibt, die in meinem Blog eine wichtige Rolle spielt. Allerdings beinhaltet diese Rekursivität, wie ich sie verstehe, eine Sphären bzw. Ebenen des Bewußtseins überschreitende Dynamik; ein Aspekt, der der Rosaschen Resonanz fehlt. Doch abgesehen von diesen (eingeschränkten) Parallelen zur Mimesis und zur Rekursivität fehlt dem Rosaschen Konzept ein gewisser anthropologischer Realismus, so daß man es eben doch als harmonistisch bezeichnen muß.
Rosa verortet die Entfremdung nicht anthropologisch, sondern beschreibt sie lediglich als sozialen Prozeß. (Vgl. Rosa 2018, S.741) Tatsächlich ist sie, auch als soziohistorisches Phänomen, aber in der exzentrischen Positionalität des Menschen begründet. Rosas Verbindung des Entfremdungsphänomens mit der „Fähigkeit zur Resonanzverweigerung“ (vgl. ebenda) läßt sich auch als eine Form des Herausfallens aus der Lebenswelt beschreiben. Wir haben es hier insofern mit einem anthropologisch begründeten Anachronismus zu tun, als er dem Menschen schon immer innewohnte und frühestens mit der Einführung der Schrift vor 5000 Jahren zum Vorschein und in der Moderne zur vollen Entfaltung kam.
Rosa verfehlt die individuelle Entwicklungsebene, weil er die Resonanzverweigerung nur als gegenseitige Abgrenzung von Gruppen beschreibt, nicht aber als individuelle Option. (Vgl. Rosa 2018, S.742) In dem Beispiel mit den beiden Nachbarn, die sich grüßen und der eine den anderen auf das heiße Wetter anspricht, während der andere kontert, daß die Juden daran schuld seien, was wiederum eine Abwendung des einen zu Folge hat, versucht zunächst der andere seinen Nachbarn für sein antisemitisches Gruppen-Wir zu vereinnahmen. Dieser Nachbar aber, der nur über das Wetter hatte reden wollen und im übrigen nichts anderes als einfach nur nett sein wollte, grenzt sich jetzt verständlicher Weise gegen dieses ihm zugemutete antisemitische Gruppen-Wir ab, um, wie Rosa schreibt, seine intersubjektiven Resonanzbeziehungen zu „anderen (‚belebten‘) Weltausschnitten“ (Rosa 2018, S.742), sprich Gruppen-Wirs, nicht zu gefährden.
An keiner Stelle haben wir es hier mit der zweitpersonalen Beziehung zwischen Ich und Du zu tun, und deshalb auch nicht mit einer individuellen Entwicklungs- bzw. Prozeßebene. Der Soziologe Hartmut Rosa kennt nur die drittpersonale Ebene von Kultur und Gesellschaft. Dem Menschen, in dem immer drei Entwicklungsebenen, die Biologie, die Kultur und das Individuum, zusammenkommen müssen, um als Mensch in Erscheinung zu treten, wird Rosa mit seiner Resonanztheorie nicht gerecht.
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Sonntag, 2. Juni 2019
Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018
2. Traumata und Anachronismen
Christopher Clark fragt sich, ob es auf kollektiver Ebene mit der „gewaltsame(n) Zerstörung“ von „Machtstrukturen“ verbundene Traumata gibt, aus denen sich, ähnlich wie die zwanghaften Wiederholungsmuster auf individueller Ebene, „Narrative um eine rekursive und wiederholende ‚Zeitlichkeit des Traumas‘ herum“ bilden können. (Vgl. Clark 2018, S.235) Entsprechende Traumata in der deutschen Geschichte macht Clark an den in seinem Buch analysierten Epochen fest:
„Die Herrschaft des Kurfürsten war eine Flucht nach vorn, weg vom Chaos des Dreißigjährigen Krieges. Das Trachten Friedrichs II. nach Stasis basierte zum Teil auf seiner Sexualität und seiner Kindheitserfahrung. Bismarcks bipolare Geschichtlichkeit stützte sich auf seine ambivalente Wahrnehmung der Revolutionen von 1848. Und die tausendjährige Zeitlichkeit des Nationalsozialismus stand für eine einzigartige Zeitlichkeit des ‚Schreckens der Geschichte‘, den die Krise von 1918/19 ausgelöst und den Mircea Eliade voller Mitgefühl diagnostiziert hatte.“ (Clark 2018, S.236f.)Ähnliche traumatisierende Geschichtsdaten findet Clark auch in der französischen Geschichte: 1815, 1871, 1914, 1940, wo wir es ausschließlich mit verlorenen Kriegen oder mit dem Erleiden von Angriffskriegen zu tun haben. (Vgl. Clark 2018, S.235) Bei den deutschen Geschichtsdaten handelt sich allerdings nur zur Hälfte um Kriege. Im Falle Friedrichs II. haben wir es nicht mit einem kollektiven, sondern mit einem individuellen Trauma zu tun. Und im Falle der 1848er Revolution stellt sich die Frage, ob man sie wirklich als Trauma bezeichnen kann. Schließlich haben wir es hier mit einem ersten zwar gescheiterten Experiment in Sachen Demokratie zu tun, das aber dennoch vor allem als positives Geschichtszeichen gewertet werden sollte.
Unbestreitbar ist jedoch, daß wir es bei dem Ersten Weltkrieg mit einer kulturellen Erschütterung epochalen Ausmaßes zu tun haben. Viele deutsche Intellektuelle, Wissenschaftler und Philosophen wandten sich 1918/19 von der dominanten aufgeklärten Tradition einer kontinuierlichen Fortschrittserzählung Hegelscher Prägung ab. Und hier haben wir tatsächlich eine Parallele zu unserer heutigen Gegenwart, wo auch wieder die Zahl der Rechtsintellektuellen ansteigt, die sich von den nach 1945 restaurierten humanistischen Werten verabschieden und auf verschiedene Weise ein Ende des Menschen verkünden, ausgerechnet zu einer Zeit, wo Geologen vom „Anthropozän“ sprechen, also von geologische Zeiträume umfassenden, den ganzen Planeten prägenden Hinterlassenschaften der menschlichen Kultur.
Zwei von Clark angesprochene Momente sind es, die den Rezensenten aufmerken lassen: einmal der apokalyptische Ton, der Verkündigungscharakter dieser, das Wiederaufleben rechtsextremer Strömungen unterstützenden Zeitgenossenschaft, und zum zweiten der Fokus auf das kulturelle ‚Erbe‘, also auf Trümmerlandschaften; in unserem Fall auf den Müll, das atomare und chemische Gift mit seinen gigantischen Dimensionen.
Schon Hitler schwärmte vor allem von den römischen Ruinen, die die Zeit überdauerten, und wollte sogar das nationalsozialistische Deutschland mit solchen kolossalen Bauwerken ausstatten, nicht etwa, um das Leben der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen zu bereichern und zu beglücken, sondern um für eine Zeit, in der es keine Deutschen mehr geben würde, Erinnerungszeichen zu setzen:
„‚Die Architektur‘, merkt Eric Michaud in einer Formulierung an, die trefflich das Befremdliche dieser Vision einfängt, ‚sollte das deutsche Volk zu einem gemeinsamen Schicksal treiben, indem sie seine wahre Größe in Grabmonumenten enthüllte.‘()“ (Vgl. Clark 2018, S.224)Zu dieser Vorliebe für eine Friedhofsarchitektur gehörte auch Hitlers Neigung zu einer Rhetorik, in der Endzeitszenarien beschworen wurden:
„Die traditionelle Vorliebe von Prophezeiungen für finale Zustände, für den Entwurf und die Verwirklichung von Endzeitszenarien prägte auch den Wortschatz des nationalsozialistischen Kampf- und Vernichtungsapparats: ‚Endkampf‘, ‚Endlösung‘, ‚Endsieg‘.“ (Clark 2018, S.224)Hier wird noch einmal deutlich, wie ähnlich sich Heideggers Philosophie und Hitlers Politik sind. Nicht umsonst beinhaltet der Gedanke des „Seins zum Tode“ eine Zeitlichkeit, die eine erfüllte Lebendigkeit auf den Tod hin orientiert und sich dabei weigert, überhaupt noch vom ‚Menschen‘ zu sprechen. Und auch Heidegger vermied das Argument und die Analyse als Instrumente eines aufklärerischen Diskurses und bevorzugte die Prophetie als Mittel der Manipulation. (Vgl. meinen Blogpost vom 01.10.2017)
Dennoch kommt in dieser rechtsintellektuellen bis faschistoiden Konsequenz eine antiaufklärerische Zeitströmung zum Ausdruck, die zugleich eine kapitalismus- und technologiekritische Einsicht beinhaltet, die selbst nicht einfach mit einem amoralischen Antihumanismus gleichgesetzt werden darf. Anachronismus ist nicht gleich Anachronismus. Es gibt einerseits einen Anachronismus, der den Menschen wieder in sein Recht zu setzen versucht; und es gibt andererseits eine als Post- bzw. Transhumanismus auftretende Postmoderne, die sich als fortschrittliche Wissenschaft verkleidet, aber nicht weniger manipulativ ist als der grassierende Rechtspopulismus. Epochenbegriffe wie ‚Aufklärung‘ und ‚Moderne‘ machen deshalb zunehmend weniger Sinn:
„Mit Blick auf die Fülle der parallelen Geschichtlichkeiten (im Westen erleichtert durch die reduzierte Rolle des Staates bei der Konturierung der vorherrschenden Temporalitäten) und auf die beschleunigte Zersplitterung und den Wechsel der Erwartungshorizonte hat Jenny Andersson behauptet, dass die ‚großen Veränderungen‘, die Koselleck für die neuzeitliche Epoche umriss, nach der Zäsur von 1945 ‚nicht viel Sinn ergeben‘.() Das eigentlich Erstaunliche an dieser Epoche ist jedoch mit Sicherheit die Langlebigkeit des modernistischen Paradigmas als solchem. Die Idee, dass Geschichte sich immer noch in ein lineares Narrativ der ‚Modernisierung‘ einbetten ließ, überlebte die Enttäuschung über die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der Modernisierung.“ (Clark 2018, S.240)So findet sich eine fortschrittskritische Einstellung nicht nur bei Alt- und Neonazis, sondern eben auch bei des Faschismusses unverdächtigen Denkern wie Fernand Braudel (1902-1985) und Mahatma Gandhi (1869-1948). Der Braudelsche Begriff der longue durée, der langen Dauer, „war als Gegensatz zu einer ereignisbasierten oder politischen Geschichte gedacht, die eine kurze Zeitspanne bevorzugt“. Sie bildete eine „Zuflucht vor dem unruhigen Treiben der Geschichte“. (Vgl. Clark 2018, S.235) Dieser Gedanke einer langen Dauer bildet für unsere heutige innovationssüchtige Zeit natürlich eine Provokation.
Zu Gandhi schreibt Clark:
„Mahatma Gandhis Hind Swaraj oder indische Selbstregierung, das er 1910 verfasste, um der terroristischen Politik radikaler Exil-Inder entgegenzutreten, zeigt eine ähnliche Verknüpfung. In diesem Schlüsseltext verwirft Gandhi die Geschichte als bloßes ‚Dokument der Kriege in dieser Welt‘, in der kein Platz für eine generationsübergreifende Kontinuität der Seelenkraft sein könne. Geschichte war dieser Lesart zufolge ‚ein Dokument vielfältiger Unterbrechungen des gleichmäßigen Wirkens der Macht der Liebe‘ und damit auch des ‚Verlaufs der Natur‘. Sie war das Instrument, mit dem die Engländer versuchten, den Indern dauerhaft ihre eigene kulturelle Unterlegenheit vor Augen zu führen.()“ (Clark 2018, S.235f.)Clark zieht deshalb ein für den Rezensenten, der sich seines eigenen Anachronismusses durchaus bewußt ist, erfreuliches Fazit:
„Das soll keineswegs heißen, dass der gewaltlose Antinationalist Gandhi oder überzeugte Demokrat Fernand Braudel in die Nähe der NS-Bewegung gerückt werden müssten!“ (Clark 2018, S.236)Dieses Fazit gilt für anachronistische Tendenzen weltweit, für Walter Benjamins „Engel der Geschichte“, „der nur Katastrophen erkennt, wo wir das Narrativ der Geschichte sich entfalten sehen“, wie auch für die „gewaltigen Unruhen der großen Revolution des 19. Jahrhunderts“ in China, die „eine überstürzte Hinwendung zur ‚modernen‘ linearen Zeit nach westlichem Muster“ auslösten. (Vgl. Clark 2018, S.236f.) Die jeweiligen konkurrierenden Geschichtlichkeitsregime als solche lassen sich nicht in ein binäres Schema von ‚gut‘ oder ‚böse‘ pressen. In der „Pluralität gleichzeitig bestehender Zeitlandschaften“ (Clark 2018, S.227) sollte immer die Frage nach dem Menschen im Vordergrund stehen. Denn ob wir nun den Humanismus selbst als ein weiteres Geschichtlichkeitsregime denunzieren oder ob er im Gegenteil technologiekritisch gewendet werden muß, wie ich es in diesem Blog vertrete: letztlich geht es nicht um eine ideologische Position, um einen weiteren ‚-ismus‘, sondern um die Zukunft des Menschen.
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Samstag, 1. Juni 2019
Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018
2. Traumata und Anachronismen
Christopher Clark, der Autor von „Die Schlafwandler“ (2012/2013), Professor für Neuere Geschichte am St. Catherine’s College in Cambridge, gibt seinem neuen Buch, „Von Zeit und Macht“ (2018), einen Titel, der nicht von ungefähr an Heideggers „Sein und Zeit“ erinnert, obwohl dieser nur an zwei Stellen kurz erwähnt wird und insgesamt keine große Rolle in diesem Buch spielt. (Vgl. Clark 2018, S.13 und S.17) Immerhin führt Clark einen der für sein Buch zentralen Begriffe, die „Zeitlichkeit“, auf Heidegger zurück. (Vgl. Clark 2018, S.17)
Clarks Verweis auf Heidegger beinhaltet zumindest das Eingeständnis, daß wir es hier trotz des machtpolitischen Fokusses auf zwei Monarchen, einen Staatsmann und eine gleichermaßen staats- wie menschenfeindliche Partei mit einem phänomenologischen Thema zu tun haben, nämlich mit „Veränderungsprozesse(n) ohne Akteur“ (vgl. Clark 2018, S.232); genauer: mit einer zwischen mal mehr pragmatischen, mal mehr reflektierten Selbstverortungen im „Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ und einem ungewissen, eher lebensweltlichen, intuitiv erfaßten „Zeitgefühl“ changierenden „Chronopolitik“ (vgl. Clark 2018, S.9 und S.25).
An den vier Machtzentren, mit denen sich Christopher Clark befaßt, der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1620-1688), Friedrich II. (1712-1786), Otto von Bismarck (1815-1898) und die NSDAP, will er eine „ganz spezifische temporale Signatur“ sichtbar machen. (Vgl. Clark 2018, S.12) Diese ‚Signaturen‘ ergeben sich aus den unterschiedlichen Verschiebungen in den für das ganze Buch zentralen Begriffen der Geschichtlichkeit, der Zeitlichkeit und des Staates in einem rund 300 Jahre umfassenden Zeitraum:
„Zu den vielleicht ungewöhnlichen Merkmalen dieses Buches zählt, dass es eine langfristige Betrachtung bietet, indem es der gleichen angestammten territorialen Einheit (Brandenburg-Preußen) über mehrere aufeinanderfolgende politische Inkarnationen folgt.“ (Clark 2018, S.23)Mit „Geschichtlichkeit“ meint Clark „keineswegs eine Lehre oder Theorie über den Sinn der Geschichtsschreibung, geschweige denn eine bestimmte Schule der historiographischen Praxis“, sondern eine spezifische aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geformte „Zeitlandschaft“, eine spezifische „Konfiguration“. (Vgl. Clark 2018, S.9) Von solchen Konfigurationen sind kulturelle Epochen und politische Regime geprägt, die mal mehr der Vergangenheit, mal mehr der Zukunft zugewandt sind oder die sich in einer mal dynamischen, mal statischen oder in einer heillos zerrissenen Gegenwart zurechtfinden müssen. Unter „Zeitlichkeit“ wiederum versteht Clark „etwas, das weniger reflektiert und spontaner ist: ein Empfinden des Fortgangs der Zeit“ (vgl. Clark 2018, S.14), also die primär phänomenologische Dimension eines subjektiven Zeitbewußtseins.
Für mich, den Rezensenten, ermöglicht Christopher Clark mit seinem Buch, den eigenen Anachronismus besser zu verstehen. Dazu gehören auch die Gefahren dieses Anachronismusses, wie sie vor allem an der nationalsozialistischen Ablehnung von Staat und Fortschritt deutlich werden. Darauf werde ich im folgenden Blogpost noch zu sprechen kommen.
Der Große Kurfürst
Ein großer Teil seines Lebens und die ersten acht Jahre seiner Regentschaft (1640-1688) waren vom Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) geprägt. Wegen dieses Krieges verbrachte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm einige dieser acht Jahre in Preußen, denn Berlin war nicht sicher genug. Es ist also verständlich, daß die Bewahrung des Westfälischen Friedens (1648) für ihn zur Staatsräson gehörte:
„Er war ein Mann, der sich an Fragen der Macht und Sicherheit orientierte, der nicht zu spekulativen Überlegungen oder zur Erörterung von Grundsatzfragen neigte.() Und ‚Geschichte‘ im heutigen Sinn, ein Abstraktum im Kollektivsingular, das einen allumfassenden, vielschichtigen Transformationsprozess bezeichnet, kannte man damals noch gar nicht. Das Wort hatte noch nicht den Prozess der Erweiterung und ‚Verzeitlichung‘ durchgemacht, der es zu einem der prägenden Begriffe der Moderne machen sollte.()“ (Clark 2018, S.31)Obwohl der Große Kurfürst also noch keinen eigenen Begriff von Geschichte im heutigen Sinne hatte, hatte er ein sehr genaues und sensibles Gespür für die ständige Gefährdung des status quo, zumal Brandenburg-Preußen noch über keine ständige Armee verfügte und er sich im andauernden Kampf mit den ‚Ständen‘, den Städten und dem Landadel, um Gelder für die Aushebung von Streitkräften befand. Diese Stände waren Vertreter der alten Vorkriegsordnung, denen es vor allem um die Bewahrung ihrer althergebrachten Privilegien ging, während es dem Kurfürsten vor allem darum ging, die nach wie vor unsichere politische Lage zu sondieren und auf militärische Gefahren von gleichermaßen verbündeten wie gegnerischen Mächten sowohl militärisch als auch mit einer flexiblen, wechselhaften Bündnispolitik zu reagieren:
„... der Kurfürst und sein Regime besaßen, wie dieses Kapitel ausführt, etwas Intuitiveres, eine höchst eigenständige und dynamische Form der Geschichtlichkeit, die in dem Gespür dafür wurzelte, dass sich der monarchische Staat an einem exponierten Ort an der Schwelle zwischen einer katastrophalen Vergangenheit und einer Zukunft voller Gefahren befand.“ (Clark 2018, S.31)Das wichtigste Argument im Kampf gegen die Stände war die „necessitas“, die Notwendigkeit der ständigen Gefahrenabwehr:
„Als der Begriff ‚necessitas‘ radikaler angewendet wurde und sich von einem spontanen Argument für temporäre Eingriffe zu einer allgemeinen Rechtfertigung für dauerhafte Instrumente der Zentralgewalt wandelte (ein neues und umfassenderes Steuerregime, ein stehendes Heer und so weiter), wurde er zugleich zeitlich erweitert. Er bezog sich immer weniger auf eine klare und akute Gefahr und immer stärker auf eine dauerhafte, vorausgreifende Haltung, einen Sicherheitsapparat, der auf künftige Eventualfälle ausgerichtet war.“ (Clark 2018, S.52)Für den Großen Kurfürsten bildete die ‚Geschichte‘ ein offenes, durch die Vergangenheit nicht vorherbestimmtes Feld von Entscheidungsnotwendigkeiten, aus denen sich wiederum neue Entscheidungsnotwendigkeiten ergaben, so daß die politische Entwicklung auf längere Sicht unvorhersehbar blieb:
„Was den Leser (des Hofgeschichtsschreibers Samuel von Pufendorf (1632-1694) – DZ) an seiner Behandlung internationaler Beziehungen erstaunt, ist die Offenheit der Zwickmühlen, in denen die Staaten steckten. Wie die misslichen Lagen am Ende ausgehen, ist deshalb offen, weil sich das künftige Verhalten anderer Staaten in dem System niemals mit Bestimmtheit vorhersagen lässt. ... Die Interaktion zwischen Mächten im gleichen synchronen Zeitrahmen war exakt die Antithese zu Tradition und Kontinuität, weil die Interessen von Staaten und die dadurch implizierten möglichen Aktionen sich unablässig veränderten. ... die Gesetze, die dieses ‚System‘ lenkten, beschrieben lediglich Prozesse, sie sagten nicht deren Ausgang voraus.“ (Clark 2018, S.75f.)Unter dem Großen Kurfürsten wurde das kleine, geographisch zerrissene Brandenburg-Preußen zu einer „Zeitmaschine“, „ein Apparat, der Geschichte geschehen“ ließ und die europäische Landschaft nachhaltig umgestaltete. (Vgl. Clark 2018, S.77) Am Ende seiner Regentschaft gab es ein stehendes Heer, und Brandenburg-Preußen war zu einer europäischen Macht geworden, mit der die anderen Großmächte rechnen mußten. Er hatte die an der Vergangenheit orientierten Stände entmachtet und ihrer Privilegien beraubt und sie durch einen zentral organisierten Staat ersetzt.
Friedrich II.
Friedrich II. war der Urgroßenkel des Großen Kurfürsten. Sein Großvater, also der Sohn des Großen Kurfürsten, wurde 1701 zum König gekrönt. Friedrich II. erbte ein konsolidiertes brandenburgisch-preußisches Reich, das als europäische Großmacht galt. Mit seinem Vater hatte Friedrich II aber weniger Glück. Er durchlebte unter seinem „brutalen und sadistischen Vater“ „eine traumatische Kindheit und Jugend“ – der Vater ließ seinen Jugendfreund, der ihm bei einem gescheiterten Fluchtversuch aus dem Einflußbereich seines Vater geholfen hatte, hinrichten –, was ein dauerhaft gebrochenes Verhältnis zur Macht hinterließ. (Vgl. Clark 2018, S.128) Er lehnte es ab, „zusammen mit seinen männlichen Vorfahren bestattet zu werden“, und er weigerte sich, mit der von seinem Vater bestimmten Ehefrau einen dynastischen Nachfolger zu zeugen. (Vgl. ebenda)
Er sah sich auch nicht als zentrale Autorität eines Staates, den er in seiner Person hätte verkörpern sollen, sondern er konzentrierte die Macht auf seine Person selbst:
„Im Gegensatz zum Großen Kurfürsten, der vor allem von seiner (staatlichen – DZ) ‚Souveränität‘ gesprochen hatte, verwies Friedrich häufig auf ‚den Staat‘, den er als transzendente Abstraktion heraufbeschwor; dabei erlebte seine Herrschaft in Wirklichkeit eine dezidierte Personalisierung der Macht.“ (Clark 2018, S.88)Friedrich II. identifizierte sich mit der Macht, aber nicht mit dem Staat, was, wie Clark schreibt, „auch im zeitlichen Gefüge seiner Herrschaft“ Spuren hinterließ. Denn mit der „rhetorische(n) Selbstdistanzierung von den Strukturen des Staates“ (vgl. Clark 2018, S.88) distanzierte er sich auch von der Vorstellung einer dynamischen, zukunftsoffenen Geschichtlichkeit. Obwohl Friedrich II. zwei Kriege führte und die geopolitische Landschaft Mittel- und Osteuropas energisch und tatkräftig veränderte, zog er sich selbst in eine statische Welt zurück, hielt an künstlerischen Vorlieben seiner Jugend fest und arbeitete an historischen Werken, in denen er das antike Rom mit der Gegenwart verknüpfte, ohne die über tausendjährige Geschichte und ihre historischen Prozesse angemessen zu würdigen:
„Diese intensiv empfundene Wahlverwandtschaft mit dem alten Rom implizierte eine Geschichtlichkeit, die analog und rekursiv statt linear und entwicklungsorientiert war. Türen öffneten sich zwischen der Gegenwart und einer alten Vergangenheit; die Zeit war um die Analogie zwischen zwei verschiedenen Epochen herum gefältet; die Tyrannei der jüngsten Vergangenheit über die zeitgenössische Erfahrung, die für Pufendorf und den Großen Kurfürsten so axiomatisch gewesen war, wurde relativiert, wenn nicht ganz aufgehoben.“ (Clark 2018, S.123)An der Zukunft interessierte Friedrich II. nur, wie er sich seinen Nachruhm sichern konnte. Er wollte das keiner künftigen Geschichtsschreibung überlassen, sondern lieber selbst für eine angemessene Deutung seines politischen und geistigen Wirkens sorgen:
„Das Trachten nach Ruhm, so erklärte er in einer 1734 komponierten ‚Ode auf den Ruhm‘, sei das Hauptmotiv der großen Helden des Altertums gewesen. ... Ein auffälliges Merkmal dieser Fantasien über den Ruhm, die den König sein Leben lang begleiteten, ist der Umstand, dass sie sich allein auf die Person des Königs selbst konzentrierten. Mit der Anweisung, seinen Leichnam nach antiker Art zu verbrennen und danach im Garten seiner ‚Villa‘ zu begraben, distanzierte sich Friedrich von der herkömmlichen Praxis der europäischen dynastischen Repräsentation seiner Epoche, die tendenziell nicht die Individualität des Monarchen in den Vordergrund rückte, sondern ihn oder sie in die Abfolge der Generationen einbettete. ... Auch in dieser Hinsicht wehrte sich Friedrich gegen die Eingliederung in ein Narrativ, das größer als er selbst war, und suchte stattdessen Zuflucht im zeitlosen Ansehen, das die Nachwelt einer einzigartigen Persönlichkeit schuldete.“ (Clark 2018, S.124f.)Friedrich II. steht, so Clark, für eine „neoklassische Zeitlichkeit des Status quo“. Für ihn ist der Staat „nicht mehr Motor des historischen Wandels, sondern eine historisch unspezifische Tatsache und logische Notwendigkeit“. An die Stelle eines zukunftsoffenen, linearen Geschichtsprozesses treten „Zeitlosigkeit“ und „rekursive Wiederholung“. (Vgl. Clark 2018, S.10)
Otto von Bismarck
Ähnlich wie sich Friedrich II als Monarch vom Staat distanzierte und so eine souveräne Position abseits vom Staat beanspruchte, nutzte Bismarck sein Amt als direkt dem König verantwortlicher Ministerpräsident und dann als Reichskanzler für eine randständige Positionierung zum Staat:
„... er stand über dem Geschehen und strahlte eine Autorität aus, die von etwas Unveränderlichem ausging: der Macht der Krone. Für Bismarck verhinderte der monarchische Staat mit seinen beständigen Strukturen, dass die Veränderlichkeit der Geschichte zu einem reinen Chaos ausartete, und gewährleistete damit die Identität und Kontinuität des Gemeinwesens.“ (Clark 2018, S.136)Zugleich erkannte Bismarck die durch die Revolution von 1848 eingetretenen Veränderungen im Verhältnis zwischen der Monarchie auf der einen Seite und dem Staat und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite unbedingt an. Zwei Metaphern, deren sich Bismarck gerne bediente, bringen diese gleichzeitige Distanzierung und Anerkennung anschaulich zum Ausdruck. Geschichtliche Ereignisse wie die Revolution von 1848 brechen wie eine Schicksalsgewalt über eine Gesellschaft herein. Hier ist der Staatsmann, so die erste Metapher, nur ein „Steuermann im Strom der Zeit“. (Vgl. Clark 2018, S.147) Er kann den Lauf des Stromes nicht verändern, nur auf ihm navigieren. Der Steuermann befindet sich also nicht auf dem sicheren Ufer, sondern mitten auf dem Strom. Diese Einsicht schreibt Bismarck nicht nur sich, sondern auch den anderen Vertretern der alten Ordnung zu:
„Man sucht daher die bisherige Ritterschaft als solche Leute zu bezeichnen, die den alten Zustand erhalten und zurückführen wollen, während die Rittergutsbesitzer wie jeder andre vernünftige Mensch sich selbst sagen, dass es unsinnig und unmöglich wäre, den Strom der Zeit aufhalten oder zurückdämmen zu wollen.“ (Zitiert nach Clark 2018, S.147)Die andere Metapher beschreibt Bismarcks Position als Reichskanzler an der Seite des Königs, der die monarchische Struktur wie ein Schachbrett nutzt, auf dem er die verschiedenen, einander widerstreitenden gesellschaftlichen Interessen gegeneinander ausspielen kann. (Vgl. Clark 2018, S.160) Bismarck sah sich also selbst nicht als Teil dieser gesellschaftlichen Interessengruppen, sondern als Schachspieler, der sich der Schachfiguren bedient, ohne sich mit ihnen zu identifizieren:
„Bismarck distanzierte sich selbstbewusst von den ideologischen Vorgaben jeder Interessengruppe – kein Schachspieler, der für eine bestimmte Figur eine besondere Zuneigung empfinde, ... könne darauf hoffen, erfolgreich Schach zu spielen.()“ (Clark 2018, S.156f.)Bismarck übernahm zwar im Großen und Ganzen den aufklärerischen Glauben seiner Zeit an die Geschichte als einem linearen, fortschrittlichen Entwicklungsprozeß, nahm aber den Monarchismus davon aus. Im Einklang mit seinem christlichen Glauben verhinderte Bismarcks Überzeugung zufolge der Monarchismus, „dass die Veränderlichkeit der Geschichte zu einem reinen Chaos ausartete“, und gewährleistete auf diese Weise „die Identität und Kontinuität des Gemeinwesens“. (Vgl. Clark 2018, S.177 und S.136)
Dieser Verbindung von Staat und Monarchismus entsprach eine quasi-religiöse Überhöhung der Geschichte als Ganzes, wie sie paradigmatisch von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) auf den philosophischen Begriff gebracht worden war. Monarchie, Staat und Geschichte verschmolzen zu einem Amalgam, in dem zunächst Brandenburg-Preußen und dann das deutsche Kaiserreich als Krönung und Erfüllung der Menschheitsgeschichte wahrgenommen wurden:
„Die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts war geprägt von einem starken Gefühl der Entwicklung, häufig als Weg durch eine Abfolge von ‚Stufen‘ oder ‚Stadien‘ konzipiert, die mit Heranwachsen, Reife und Vergreisung den Phasen des menschlichen Lebens ähnelten. ... Für Hegel, den Bismarck nach eigener Aussage als junger Mann gelesen, aber nicht verstanden hat, besaß Geschichte in diesem unergründlich tiefen Sinn eine fast schon theologische Würde, da sie die Zeichen der fortschreitenden Entfaltung der Vernunft oder des ‚Geistes‘ durch die Zeit offenlegte.“ (Clark 2018, S.134)Nationalsozialismus
Wie Christopher Clark schreibt, brachte der Zusammenbruch des Kaiserreichs im Gefolge des Ersten Weltkriegs eine „Krise im historischen Bewusstsein“ hervor, „weil damit eine Form der Staatsmacht zerstört wurde, die zum Brennpunkt und Garanten des historischen Denkens und Bewusstseins geworden war“. (Vgl. Clark 2018, S.11) Große Teile der Bevölkerung und der Intellektuellen wandten sich vom Geschichtsoptimismus eines linearen, unvermeidlichen Fortschritts der gesellschaftlichen Verhältnisse ab. Zwar sei schon in den bisher von Clark behandelten Epochen seit dem Großen Kurfürsten die Vorstellung eines einheitlichen, mit dem „Geschichtlichkeitsregime“ des jeweiligen Machthabers übereinstimmenden gesellschaftlichen Geschichtsbewußtseins illusionär gewesen (vgl. Clark 2018, S.25), aber nach dem Ersten Weltkrieg fragmentierte sich das Geschichtsbewußtsein so sehr, daß, so Clark, grundsätzliche Zweifel daran aufkommen müssen, ob sich die einfache binäre Differenzierung zwischen „vormodernen und modernen Varianten der Zeitlichkeit“ so aufrechterhalten läßt (vgl. Clark 2018, S.233).
Damit verweist Clark auf den von Modernitätstheoretikern gerne geleugneten Umstand, daß Anachronismen aller Art, also die Nichtübereinstimmung von gesellschaftlichen Gruppen und von einzelnen ‚Zeitgenossen‘ mit dem jeweiligen angeblichen ‚Entwicklungsstand‘ der Gesellschaft, ein so verbreitetes kulturelles Phänomen sind, daß es, wie ich an dieser Stelle ergänzen möchte, auch auf anthropologischer Ebene reflektiert werden muß.
Diese allgemeine Fragmentierung des Geschichtsbewußtseins und die damit verbundene Distanzierung vom Staat hat zur Folge, daß sich Clark für die vierte Epoche nicht einer einzelnen paradigmatischen Persönlichkeit zuwendet, also in diesem Fall Adolf Hitler, sondern einer ganzen Partei, der NSDAP. Denn auch der Nationalsozialismus bildete kein einheitliches Geschichtlichkeitsregime, sondern wir haben es hier mit einer Vielzahl von Akteuren zu tun, die sich gegenseitig bekämpften. Auch im engeren Führungszirkel der Partei unterschied sich das Geschichtsbewußtsein von Hitler, der die römische Antike mit ihrer Architektur bevorzugte, und Himmler, der von den germanischen Lehmdörfern schwärmte und „über jeden Tonscherben und jede Steitaxt“, die irgendwo ausgegraben wurden, in „Begeisterung“ geriet. (Vgl. Clark 2018, S.212)
Während des zwölfjährigen „Dritten Reichs“ wurden in ganz Deutschland zahlreiche, der Geschichte des Nationalsozialismusses gewidmete Museen gegründet, deren Stifter und Direktoren sich ebenfalls untereinander über die korrekte Darstellung dieser Geschichte stritten. Clark richtet sein Hauptaugenmerk auf diese Museen, denn an ihnen wird die besondere Geschichtlichkeit des Nationalsozialismus deutlich. Die Geschichte wird in ihnen nicht als ein linearer Prozeß verstanden, sondern mit der nationalsozialistischen Machtergreifung ist der Geschichtsprozeß insgesamt beendet. Das deutsche Volk hat seine Bestimmung, nämlich den Wiedereintritt in eine urgermanische Volkseinheit, erreicht. Was folgt ist nurmehr Geopolitik: die Eroberung neuen Lebensraums im Dienste der Selbsterhaltung, also Subsistenz:
„Statt Objekte (oder sogar Subjekte) der Kräfte des internationalen Marktes zu sein, würden die Deutschen ein eigenes, historisch bewährtes, autonomes tausendjähriges Produktionssystem schaffen. ... Das war eine vehemente Ablehnung jeder Fremdbestimmung, einer Ordnung, in der die Nation gezwungen ist, in der Zeit eines – oder etwas – anderen zu leben. Für die Deutschen unter Hitler sollte der Weg aus der Geschichte in der so gut wie grenzenlosen Ausdehnung des biologischen Raumes, in der Eroberung von ‚Lebensraum‘ liegen.“ (Clark 2018, S.218f.)Anders als viele Modernitätstheoretiker meinen, war der Nationalsozialismus keineswegs ‚modern‘, im Unterschied z.B. zum italienischen Faschismus, der trotz seines Rückgriffs auf das antike Rom am linearen Fortschrittsgedanken festhielt:
„Während das faschistische Regime nämlich diese chronopolitischen Manipulationen (Ausgrabungen, Verwischung der räumlichen und zeitlichen Grenzen zwischen der römischen Antike und der faschistischen Moderne – DZ) auf eine Zeitlichkeit projizierte, deren Logik im Wesentlichen historisch, linear und modern blieb, schmückte sich das deutsche Regime zwar mit modernen Attributen, artikulierte seine ultimativen und bestimmenden Ansprüche jedoch im Rahmen eines ahistorischen, rassistischen Zeitkontinuums.()“ (Clark 2018, S.229)Die nationalsozialistischen Museen verherrlichten also das „Dritte Reich“, indem sie paradoxerweise die Deutschen als Ethnie musealisierten, und verhielten sich so genau gegensätzlich zu den ‚modernen‘ Kolonialmächten, in denen die von ihnen unterworfenen indigenen Völker musealisiert wurden:
„Die weiße Mehrheitsgesellschaft beanspruchte (normalerweise – DZ) für sich die dynamische, fortschrittliche Zeit der Moderne. Im ‚Dritten Reich‘ sollten die Deutschen selbst als Ethnie musealisiert werden.“ (Clark 2018, S.219)Mit der Abschaffung der Geschichte schaffte der Nationalsozialismus auch den Staat ab, nicht als Institution, aber als von der Geschichte autorisierte moralische Instanz, und setzte an deren Stelle die ‚Rasse‘ bzw. das ‚Volk‘:
„Weder die Zivilgesellschaft noch der Staat nötigten der NS-Bewegung Respekt ab – beide wurden vielmehr als ‚jüdische‘ Erfindungen einer liberalen politischen Theorie verunglimpft.“ (Clark 2018, S.233)Politik wurde von Biopolitik abgelöst. An die Stelle der Gesellschaft, trat das Blut.
Christopher Clark führt, wie schon erwähnt, das nationalsozialistische Modell einer staats- und geschichtsfeindlichen Geschichtlichkeit auf das Trauma des Ersten Weltkriegs zurück, und er fragt, ob das Erleben eines Traumas möglicherweise eine „generische Dimension“, also eine geschichtlichkeitsbildende Kraft beinhaltet. (Vgl. Clark 2018, S.235) Darauf und auf die inhärenten Anachronismen einer fragmentierten Geschichtlichkeit werde ich im folgenden Blogpost zu sprechen kommen.
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Sonntag, 3. März 2019
Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän
Infrastrukturen sind äußerst effektive Synchronisierungsinstrumente, weshalb sie auch gerne von den verschiedensten politischen Regierungssystemen in Gebrauch genommen werden:
„Ausmaß und Funktionalität der Infrastrukturen werden bis heute mit Ordnung und guter Regierung in Verbindung gebracht, oft sogar damit gleichgesetzt.“ (Van Laak 2018, S.11)Allerdings haben sie die ambivalente Tendenz, von beiden Seiten, Herrschern und Beherrschten, genutzt werden zu können und so umgekehrt wiederum bestehende Regime zu bedrohen. Letztlich mußte also auch der Gebrauch der Infrastrukturen durch die Nutzer kontrolliert werden. So gab es zwar im real existierenden Sozialismus Telephone, aber nicht sehr viele, und wer telephonieren wollte, mußte dorthin gehen, wo es eins gab:
„Man kann den Eindruck gewinnen, der Ausbau mobilisierender Infrastrukturen wie des Telefonnetzes sei im Realsozialismus künstlich verzögert worden, um die Gesellschaft kontrollierbarer zu halten.“ (Van Laak 2018, S.131)Telephone waren im Ostblock nicht dazu gedacht, soziale Kommunikation zu ermöglichen, sondern Anweisungen möglichst effektiv und schnell an die Frau oder den Mann zu bringen:
„Schon in den frühen sowjetischen Filmen ist das Telefon zwar allgegenwärtig. Es erscheint aber fast ausschließlich als ein Apparat, um zentral durchgestellte Befehle zu empfangen, nicht als Medium einer selektiven Annäherung und des sozialen Austauschs.()“ (Van Laak 2018, S.82)Aber auch im kapitalistischen Westen wurde das Telephon anders genutzt, als es die Anbieter ursprünglich vorgesehen hatten. Es waren vor allem die Frauen, die das Telephon für sich in Anspruch nahmen:
„Im Grunde wurde das Telefon jedoch von den Nutzern zu einem großen Teil entgegen den eigentlichen Absichten und Angeboten der Telefongesellschaften angeeignet. Als besonders attraktiv wurde offenbar die gleichsam intime Nähe trotz körperlicher Distanz empfunden. ... Die Möglichkeit zur Kontaktpflege über das Telefon haben wiederum vornehmlich Frauen aufgegriffen. Sie scheinen sich diese Möglichkeit auch deswegen angeeignet zu haben, weil das Telefon quasi aus der Küche heraus die distanzierte Pflege von Kontakten erlaubte.“ (Van Laak 2017, S.81f.)Damit sind wir beim Thema dieses Blogposts: es geht hier um die divergierenden Interessen der Nutzer, die oft genug auch Nutzer wider Willen sind und sich sogar gelegentlich offensiv ganz verweigern. Ich möchte sie summarisch als ‚Anachronisten‘ bezeichnen, weil es sich, wie eingangs schon erwähnt, bei den Infrastrukturen um Synchronisierungsinstrumente handelt, und diese renitenten ‚Nutzer‘ sich einer solchen Synchronisierung widersetzen.
Von diesen Anachronisten hat es von Anfang an mehr gegeben, als mancher Zeitgenosse heute glauben mag. Allerdings ist ‚Anachronismus‘ ein weitgefaßter Begriff und umfaßt auch solche Leute, die wie die Reichsbürger noch immer am Kaiserreich festhalten wollen. Wenn wir uns in der heutigen sich zunehmend fragmentierenden Gesellschaft umsehen, können wir den Eindruck gewinnen, daß sie praktisch nur noch aus Anachronisten besteht, so daß die reale Gefahr besteht, daß die Gesellschaft völlig auseinanderfällt. Aber wenn wir genauer hinsehen, stellen wir fest, daß dies nur oberflächlich so ist. Tatsächlich benutzen ‚Anachronisten‘ aller Couleur, einschließlich den islamischen Fundamentalisten, Handys und Smartphones und sind deshalb letztlich doch mit der technologisch-wirtschaftlichen Entwicklung synchron.
Immerhin haben diese Fundamentalisten etwas verstanden, was die vorherrschende westliche Wohlstands- und Wachstumsrhetorik immer wieder zu kaschieren versucht. Die Nutzung der westlichen ‚Errungenschaften‘ zerstört alt hergebrachte Lebensformen in den nicht-westlichen Kulturen. Deren ‚Beglückung‘ mit Eisenbahnen und Staudämmen diente im 19. Jahrhundert allererst der Plünderung ihrer Ressourcen, was in Kolonisierungsdiktion auch als „Inwertsetzung“ unproduktiver Gebiete bezeichnet wurde:
„... so verfolgte die imperiale Expansion der Europäer vor allem die Absicht, die fernen Gebiete ‚in Wert‘ zu setzen. Das bedeutete, sie einer Produktivität zu unterwerfen, die dem von Wachstum und Fortschritt geprägten Denken Europas entsprach.“ (Van Laak 2018, S.138)Der kapitalistisch geprägte Begriff der Produktivität entsprach aber nicht dem, was die indigenen Bevölkerungen unter Produktivität verstanden. Die von den Kolonisatoren angestrebte Inwertsetzung bestand also darin, deren ‚anachronistischen‘ Lebensformen mit der eigenen zu synchronisieren:
„Wer sich nicht beugte, wurde als bedauerliches Opfer am Wegesrand des Fortschritts betrachtet oder gar als Angehöriger einer ‚unproduktiven Rasse‘ dem Aussterben überantwortet.“ (Van Laak 2018, S.138)Aber nicht nur in der exotischen Fremde galt es, solche Anachronisten zu kolonisieren. Jürgen Habermas spricht auch von einer Kolonialisierung der Lebenswelten mitten in der ‚ersten‘ Welt. Das war schon von Anfang an so: der Kapitalismus begann mit einer ursprünglichen Akkumulation, also mit der räuberischen Aneignung der Allmenden, der Commons, die die Lebensgrundlage der ‚vormodernen‘ Landbevölkerung bildeten. Durch diese räuberische Aneignung heimatlos geworden, mußte die Landbevölkerung sehen, wo sie blieb, und wurde zum Proletariat, das sich nun nach Karl Marxens Auffassung auf der Höhe der Zeit befand und das Subjekt einer radikalen Technisierung der Gesellschaft bilden sollte.
Auch hier verweigerten sich Anachronisten wie die Amish-Peoble, die van Laak auch als „Anabaptisten“ bezeichnet:
„Anabaptisten wie die Amish, die Hutterer, die Mennoniten, aber auch die orthodoxen Juden streben nach einem Leben jenseits weltlicher Annehmlichkeiten.“ (Van Laak 2018, S.142)Diese Anababtisten bzw. Baptisten verweigerten sich radikal den in den letzten zwei, drei Jahrhunderten entwickelten Technologien. Von hier ist der Weg gar nicht mehr so weit bis zu der „ländlich-isolierte(n) Lebensweise“ von „alternative(n) Lebensformen“ in den USA und in Europa (vgl. van Laak 2018, S.142), deren Technologie-Verweigerung zwar nicht so radikal ausgeprägt ist, die aber an älteres Wissen anknüpfen, „das sich auf ökologische Praxen des vorindustriellen Zeitalters besinnt und sie zeitgemäß interpretiert“. (Vgl. van Laak 2018, S.155) Auch das ist Anachronismus: das Zurückblicken auf früher schon mal Gewußtes und das Vorausblicken auf bevorstehende Herausforderungen, um aus den beharrenden Zwängen der Gegenwart auszubrechen und neue Wege zu eröffnen. Das ist im besten Nietzscheschen Sinne ‚unzeitgemäß‘.
Die Geschichte der Infrastrukturierung der us-amerikanischen und europäischen Gesellschaften wird also von Anfang an von Konflikten begleitet, die potenzielle Nutzer verursachten, die sich dem Anschluß an die infrastrukturelle Moderne zu verweigern suchten. Solche Verweigerungsversuche gingen sowohl von indigenen Bevölkerungen wie auch von Betroffenen in der ‚ersten‘ Welt selbst aus. Die Anbieter (Energiewirtschaft) versuchten solche Widerstände mit der üblichen Rhetorik einzudämmern und mehr oder weniger gewaltförmig mundtot zu machen. (Vgl. van Laak 2018, S.77) Geschickter ging da John D. Rockefeller vor, der bei einer Campagne in China kostenlos Petroleumlampen verteilte, „um die Abnehmer auf eine dauerhafte Belieferung durch seine Standard Oil zu eichen“. (Vgl. van Laak 2018, S.79) Das wurde zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Aktionen bis in die Gegenwart hinein.
Anachronisten gibt es in unserer Gegenwart auf vielen verschiedenen Ebenen, wie etwa die „Maulwurfsmenschen“, die zum Teil freiwillig, zum Teil unfreiwillig in Kanal- und U-Bahnschächten New Yorks leben und so paradoxerweise einerseits die vorhandenen Infrastrukturen, wenn auch zweckentfremdet, nutzen, sich aber andererseits den infrastrukturellen ‚Annehmlichkeiten‘ des oberirdischen Getriebes entziehen. (Vgl. van Laak 2018, S.253) Tatsächlich gibt es inzwischen sogar Cafés, die technikfreie Räume anbieten, in denen gestreßte Zeitgenossen eine Pause machen können vom Druck der permanenten Erreichbarkeit und vom Zwang, ständig Entscheidungen treffen zu müssen:
„Seit 2014 stellt das Café Seymore+ in Paris ein Offline-Versteck ohne Anschluss bereit. Dieses soll eine technikfreie Zone sein, unplugged und ohne Smartphones, in denen inzwischen das gesamte Berufs- und Privatleben zusammenfließt. Als neues Trendwort der digital junkies, an die sich das Angebot hauptsächlich richtet, gilt die mindfulness, also die Achtsamkeit für sich selbst und für andere.()“ (Van Laak 2018, S.253)Inzwischen bezeichnen Geologen das Industriezeitalter als „Anthropozän“. (Vgl. van Laak 2018, S.271) Die Anachronisten des Anthropozäns, wie ich sie verstehe, sind nicht damit einverstanden, daß der Mensch den Planeten nach seinem Bilde geformt hat. Sie geben sich auch nicht mit der Tatsache ab, daß sich das nicht mehr ändern läßt. Sie wollen der Erde wieder mehr Raum zum Atmen geben, was bedeutet, daß die Menschen lernen, sich in Reservate zurückzuziehen und auf eine umfassende Ausplünderung der planetarischen Ressourcen zu verzichten.
Letztlich hält van Laak fest, daß unsere Gegenwart selbst durch einen fundamentalen Anachronismus gekennzeichnet ist, der darin besteht, „dass unser Erfahrungsraum sich noch in der infrastrukturisierten Hochmoderne bewegt, während unser Erwartungshorizont bereits auf eine Epoche vorausweist, in der wir sehr viel grundlegender umdenken und unsere Routinen nachhaltig ändern müssen“. (Vgl. van Laak 2018, S.276)
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