„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 3. März 2019

Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018

1. Zusammenfassung
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän

Infrastrukturen sind äußerst effektive Synchronisierungsinstrumente, weshalb sie auch gerne von den verschiedensten politischen Regierungssystemen in Gebrauch genommen werden:
„Ausmaß und Funktionalität der Infrastrukturen werden bis heute mit Ordnung und guter Regierung in Verbindung gebracht, oft sogar damit gleichgesetzt.“ (Van Laak 2018, S.11)
Allerdings haben sie die ambivalente Tendenz, von beiden Seiten, Herrschern und Beherrschten, genutzt werden zu können und so umgekehrt wiederum bestehende Regime zu bedrohen. Letztlich mußte also auch der Gebrauch der Infrastrukturen durch die Nutzer kontrolliert werden. So gab es zwar im real existierenden Sozialismus Telephone, aber nicht sehr viele, und wer telephonieren wollte, mußte dorthin gehen, wo es eins gab:
„Man kann den Eindruck gewinnen, der Ausbau mobilisierender Infrastrukturen wie des Telefonnetzes sei im Realsozialismus künstlich verzögert worden, um die Gesellschaft kontrollierbarer zu halten.“ (Van Laak 2018, S.131)
Telephone waren im Ostblock nicht dazu gedacht, soziale Kommunikation zu ermöglichen, sondern Anweisungen möglichst effektiv und schnell an die Frau oder den Mann zu bringen:
„Schon in den frühen sowjetischen Filmen ist das Telefon zwar allgegenwärtig. Es erscheint aber fast ausschließlich als ein Apparat, um zentral durchgestellte Befehle zu empfangen, nicht als Medium einer selektiven Annäherung und des sozialen Austauschs.()“ (Van Laak 2018, S.82)
Aber auch im kapitalistischen Westen wurde das Telephon anders genutzt, als es die Anbieter ursprünglich vorgesehen hatten. Es waren vor allem die Frauen, die das Telephon für sich in Anspruch nahmen:
„Im Grunde wurde das Telefon jedoch von den Nutzern zu einem großen Teil entgegen den eigentlichen Absichten und Angeboten der Telefongesellschaften angeeignet. Als besonders attraktiv wurde offenbar die gleichsam intime Nähe trotz körperlicher Distanz empfunden. ... Die Möglichkeit zur Kontaktpflege über das Telefon haben wiederum vornehmlich Frauen aufgegriffen. Sie scheinen sich diese Möglichkeit auch deswegen angeeignet zu haben, weil das Telefon quasi aus der Küche heraus die distanzierte Pflege von Kontakten erlaubte.“ (Van Laak 2017, S.81f.)
Damit sind wir beim Thema dieses Blogposts: es geht hier um die divergierenden Interessen der Nutzer, die oft genug auch Nutzer wider Willen sind und sich sogar gelegentlich offensiv ganz verweigern. Ich möchte sie summarisch als ‚Anachronisten‘ bezeichnen, weil es sich, wie eingangs schon erwähnt, bei den Infrastrukturen um Synchronisierungsinstrumente handelt, und diese renitenten ‚Nutzer‘ sich einer solchen Synchronisierung widersetzen.

Von diesen Anachronisten hat es von Anfang an mehr gegeben, als mancher Zeitgenosse heute glauben mag. Allerdings ist ‚Anachronismus‘ ein weitgefaßter Begriff und umfaßt auch solche Leute, die wie die Reichsbürger noch immer am Kaiserreich festhalten wollen. Wenn wir uns in der heutigen sich zunehmend fragmentierenden Gesellschaft umsehen, können wir den Eindruck gewinnen, daß sie praktisch nur noch aus Anachronisten besteht, so daß die reale Gefahr besteht, daß die Gesellschaft völlig auseinanderfällt. Aber wenn wir genauer hinsehen, stellen wir fest, daß dies nur oberflächlich so ist. Tatsächlich benutzen ‚Anachronisten‘ aller Couleur, einschließlich den islamischen Fundamentalisten, Handys und Smartphones und sind deshalb letztlich doch mit der technologisch-wirtschaftlichen Entwicklung synchron.

Immerhin haben diese Fundamentalisten etwas verstanden, was die vorherrschende westliche Wohlstands- und Wachstumsrhetorik immer wieder zu kaschieren versucht. Die Nutzung der westlichen ‚Errungenschaften‘ zerstört alt hergebrachte Lebensformen in den nicht-westlichen Kulturen. Deren ‚Beglückung‘ mit Eisenbahnen und Staudämmen diente im 19. Jahrhundert allererst der Plünderung ihrer Ressourcen, was in Kolonisierungsdiktion auch als „Inwertsetzung“ unproduktiver Gebiete bezeichnet wurde:
„... so verfolgte die imperiale Expansion der Europäer vor allem die Absicht, die fernen Gebiete ‚in Wert‘ zu setzen. Das bedeutete, sie einer Produktivität zu unterwerfen, die dem von Wachstum und Fortschritt geprägten Denken Europas entsprach.“ (Van Laak 2018, S.138)
Der kapitalistisch geprägte Begriff der Produktivität entsprach aber nicht dem, was die indigenen Bevölkerungen unter Produktivität verstanden. Die von den Kolonisatoren angestrebte Inwertsetzung bestand also darin, deren ‚anachronistischen‘ Lebensformen mit der eigenen zu synchronisieren:
„Wer sich nicht beugte, wurde als bedauerliches Opfer am Wegesrand des Fortschritts betrachtet oder gar als Angehöriger einer ‚unproduktiven Rasse‘ dem Aussterben überantwortet.“ (Van Laak 2018, S.138)
Aber nicht nur in der exotischen Fremde galt es, solche Anachronisten zu kolonisieren. Jürgen Habermas spricht auch von einer Kolonialisierung der Lebenswelten mitten in der ‚ersten‘ Welt. Das war schon von Anfang an so: der Kapitalismus begann mit einer ursprünglichen Akkumulation, also mit der räuberischen Aneignung der Allmenden, der Commons, die die Lebensgrundlage der ‚vormodernen‘ Landbevölkerung bildeten. Durch diese räuberische Aneignung heimatlos geworden, mußte die Landbevölkerung sehen, wo sie blieb, und wurde zum Proletariat, das sich nun nach Karl Marxens Auffassung auf der Höhe der Zeit befand und das Subjekt einer radikalen Technisierung der Gesellschaft bilden sollte.

Auch hier verweigerten sich Anachronisten wie die Amish-Peoble, die van Laak auch als „Anabaptisten“ bezeichnet:
„Anabaptisten wie die Amish, die Hutterer, die Mennoniten, aber auch die orthodoxen Juden streben nach einem Leben jenseits weltlicher Annehmlichkeiten.“ (Van Laak 2018, S.142)
Diese Anababtisten bzw. Baptisten verweigerten sich radikal den in den letzten zwei, drei Jahrhunderten entwickelten Technologien. Von hier ist der Weg gar nicht mehr so weit bis zu der „ländlich-isolierte(n) Lebensweise“ von „alternative(n) Lebensformen“ in den USA und in Europa (vgl. van Laak 2018, S.142), deren Technologie-Verweigerung zwar nicht so radikal ausgeprägt ist, die aber an älteres Wissen anknüpfen, „das sich auf ökologische Praxen des vorindustriellen Zeitalters besinnt und sie zeitgemäß interpretiert“. (Vgl. van Laak 2018, S.155) Auch das ist Anachronismus: das Zurückblicken auf früher schon mal Gewußtes und das Vorausblicken auf bevorstehende Herausforderungen, um aus den beharrenden Zwängen der Gegenwart auszubrechen und neue Wege zu eröffnen. Das ist im besten Nietzscheschen Sinne ‚unzeitgemäß‘.

Die Geschichte der Infrastrukturierung der us-amerikanischen und europäischen Gesellschaften wird also von Anfang an von Konflikten begleitet, die potenzielle Nutzer verursachten, die sich dem Anschluß an die infrastrukturelle Moderne zu verweigern suchten. Solche Verweigerungsversuche gingen sowohl von indigenen Bevölkerungen wie auch von Betroffenen in der ‚ersten‘ Welt selbst aus. Die Anbieter (Energiewirtschaft) versuchten solche Widerstände mit der üblichen Rhetorik einzudämmern und mehr oder weniger gewaltförmig mundtot zu machen. (Vgl. van Laak 2018, S.77) Geschickter ging da John D. Rockefeller vor, der bei einer Campagne in China kostenlos Petroleumlampen verteilte, „um die Abnehmer auf eine dauerhafte Belieferung durch seine Standard Oil zu eichen“. (Vgl. van Laak 2018, S.79) Das wurde zum Vorbild für zahlreiche ähnliche Aktionen bis in die Gegenwart hinein.

Anachronisten gibt es in unserer Gegenwart auf vielen verschiedenen Ebenen, wie etwa die „Maulwurfsmenschen“, die zum Teil freiwillig, zum Teil unfreiwillig in Kanal- und U-Bahnschächten New Yorks leben und so paradoxerweise einerseits die vorhandenen Infrastrukturen, wenn auch zweckentfremdet, nutzen, sich aber andererseits den infrastrukturellen ‚Annehmlichkeiten‘ des oberirdischen Getriebes entziehen. (Vgl. van Laak 2018, S.253) Tatsächlich gibt es inzwischen sogar Cafés, die technikfreie Räume anbieten, in denen gestreßte Zeitgenossen eine Pause machen können vom Druck der permanenten Erreichbarkeit und vom Zwang, ständig Entscheidungen treffen zu müssen:
„Seit 2014 stellt das Café Seymore+ in Paris ein Offline-Versteck ohne Anschluss bereit. Dieses soll eine technikfreie Zone sein, unplugged und ohne Smartphones, in denen inzwischen das gesamte Berufs- und Privatleben zusammenfließt. Als neues Trendwort der digital junkies, an die sich das Angebot hauptsächlich richtet, gilt die mindfulness, also die Achtsamkeit für sich selbst und für andere.()“ (Van Laak 2018, S.253)
Inzwischen bezeichnen Geologen das Industriezeitalter als „Anthropozän“. (Vgl. van Laak 2018, S.271) Die Anachronisten des Anthropozäns, wie ich sie verstehe, sind nicht damit einverstanden, daß der Mensch den Planeten nach seinem Bilde geformt hat. Sie geben sich auch nicht mit der Tatsache ab, daß sich das nicht mehr ändern läßt. Sie wollen der Erde wieder mehr Raum zum Atmen geben, was bedeutet, daß die Menschen lernen, sich in Reservate zurückzuziehen und auf eine umfassende Ausplünderung der planetarischen Ressourcen zu verzichten.

Letztlich hält van Laak fest, daß unsere Gegenwart selbst durch einen fundamentalen Anachronismus gekennzeichnet ist, der darin besteht, „dass unser Erfahrungsraum sich noch in der infrastrukturisierten Hochmoderne bewegt, während unser Erwartungshorizont bereits auf eine Epoche vorausweist, in der wir sehr viel grundlegender umdenken und unsere Routinen nachhaltig ändern müssen“. (Vgl. van Laak 2018, S.276)

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