„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 1. März 2019

Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018

1. Zusammenfassung
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän

Dirk van Laak bezeichnet in seinem Buch „Alles im Fluss“ (2018) Infrastrukturen als „Fließräume, in die wir uns im Bedarfsfall einklinken, indem wir das Leitungswasser laufen lassen, den Strom anschalten, die Bahn besteigen und ins Internet gehen“. (Vgl. van Laak 2018, S.13) Das verweist zum einen auf ein wichtiges Funktionsmerkmal von Infrastrukturen, nämlich eine möglichst umfassende Zirkulation von „Menschen, Waren und Ideen“ zu gewährleisten. (Vgl. van Laak, S.51) Zum anderen erinnert das Wort ‚Fließraum‘ an die natürlichen Urbilder der heutigen technischen Infrastrukturen, nämlich Flüsse und Meere:
„Die Seeschifffahrt wird in ihrer Bedeutung für die Zirkulation von Gütern, gerade in der Gegenwart, oft unterschätzt.“ (Van Laak, S.38)
Ähnlich wie Fluglinien und Zugfahrpläne (und parkende PKWs an Straßenrändern und in Garagen) halten das fließende Wasser in den Flüssen und die Winde auf den Weltmeeren Bewegung vor, in die sich Reisende und Güter „im Bedarfsfall einklinken“ können. Dabei prägen diese natürlichen Infrastrukturen ein weiteres Merkmal der heutigen technischen Infrastrukturen vor: sie halten sich nicht an Grenzen. Sie geben an ihre Nutzer einen „grenzüberschreitende(n) Impuls“ weiter, der zum Mantra eines „technokratische(n) Internationalismus“ geworden ist. (Vgl. van Laak 2018, S.102f.) Die heutigen technischen Infrastrukturen stehen im Dienste eines kapitalistisch geprägten Globalismusses, der sich wenig um die regional divergierenden Lebensweisen und Lebensnöte derjenigen schert, die seinen Profitinteressen im Wege stehen, so wenig wie er sich Gedanken über die Begrenztheit von Ressourcen macht, zu deren größtmöglich effektiven Plünderung diese technischen Infrastrukturen ja beitragen sollen.

So steht der grenzüberschreitende Impuls der heutigen technischen Infrastrukturen ineins mit einem globalisierten Kapitalismus für ein uneingeschränktes Wirtschaftswachstum, ein Konzept, das, wie van Laak schreibt, „aber nicht ohne Grund auf dem Prüfstand (steht)“. (Vgl. van Laak 2018, S.12)

Ebenfalls nicht ohne Grund ist hier bisher von den ‚heutigen technischen Infrastrukturen‘ die Rede gewesen. Van Laak macht von Beginn an klar, daß es ihm in seinem Buch nicht um vormoderne Infrastrukturen geht, wie etwa die Fernstraßen Roms und Japans, die chinesischen Kanalnetze, die Bewässerungssysteme in Ägypten, Indien und Mittelamerika oder die zentralasiatische Seidenstraße. (Vgl. van Laak 2018, S.17) Es geht ihm vielmehr um ein bestimmtes neuzeitliches Infrastrukturkonzept, das vor allem der Infrastrukturentwicklung seit dem 18. Jhdt. in Europa und Nordamerika zugrundegelegen hat. Dieses Infrastrukturkonzept weist bestimmte Merkmale auf, an die die Technokraten und mit ihnen die kapitalistische Gesellschaftsordnung – mit durchaus unterschiedlich ausgeprägter ‚Beteiligung‘ der Bevölkerung – geglaubt haben wie an religiöse Dogmen.

Bei diesen Merkmalen handelt es sich allererst um die umfassende Inklusivität von Infrastrukturen:
„Von ‚Infrastrukturen‘ soll hier – gerade in Abgrenzung zu früheren Stadien der Verkehrserschließung, des Informationsaustauschs oder der Fürsorge – daher erst dann gesprochen werden, wenn tendentiell eine Mehrzahl an Menschen im Alltag auf entsprechende Einrichtungen tatsächlich zugreift.“ (Van Laak 2018, S.17f.)
Niemand soll von ihrer Nutzung ausgeschlossen sein, was bei den vormodernen Infrastrukturen van Laak zufolge nicht der Fall gewesen war, da ihre Nutzung „auf repräsentative oder wohlhabende Nutzer beschränkt“ geblieben sei. (Vgl. van Laak 2018, S.80f.) Ein weiteres Merkmal dieses modernen Infrastrukturkonzepts habe ich schon erwähnt: es bildet eigentlich einen Merkmalskomplex, das
  • aus der Vorstellung von der Notwendigkeit einer umfassenden „Zirkulation von Gütern, Menschen und Ideen sowie einer möglichst gleichmäßigen Versorgung und Kommunikation aller Bürger“ (vgl. van Laak 2018, S.17.),
  • aus einer mit den technischen Infrastrukturen verbundenen, gleichermaßen Grenzen überschreitenden wie Grenzen auflösenden Tendenz (vgl. van Laak 2018, S.102ff.)
  • und aus einem mit den Infrastrukturen  verbundenen, ebenfalls unbegrenzten Wirtschaftswachstum (vgl. van Laak 2018, S.12, 14, 59)
besteht, mit dem die europäischen Kolonialmächte meinten – im Glauben, einer „Zivilisierungsmission“ zu folgen –, auch den Rest der Welt beglücken zu müssen (vgl. van Laak 2018, S.138).

Die zunächst innere Infrastrukturierung der nationalen Gesellschaften Europas und dann ihre Ausdehnung auf den ‚Rest‘ der Welt wurde zudem ideologisch mit bis heute immer gleichen und wiederkehrenden Argumenten gerechtfertigt. Demnach ging es im 19. Jhdt. mit den Eisenbahnen und dem Telegraphen, im 20. Jhdt. mit dem Automobil und aktuell im beginnenden 21. Jhdt. mit dem Smartphone vor allem um die Verwirklichung der demokratischen Ideale der Aufklärung und des bürgerlichen Liberalismusses (vgl.i.f. van Laak 2018, S.254):
  • um die „Unabhängigkeit von räumlichen und sozialen Begrenzungen“,
  • um die „Souveränität des Konsumenten“,
  • um die „informationelle Selbstbestimmung“,
  • um die „flexible Entfaltung zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit“
  • und um die Autonomie „sich selbst regulierender Individu(en)“.
Marx hatte in diesem Sinne Wilhelm von Humboldts neuhumanistischen Bildungsbegriff in das Konzept einer polytechnischen Bildung umgemünzt.

Die hier aufgezählten Merkmale des modernen Infrastrukturkonzepts entstanden also zeitgleich „mit der Aufklärung, den Revolutionen in den USA und in Frankreich, mit der industriellen Revolution, mit dem liberalen Wirtschaftsbürgertum und der modernen Massengesellschaft“. (Vgl. van Laak 2018, S.17)

Van Laak zeigt zugleich mit den, mit dem Infrastrukturkonzept und seiner Umsetzung verbundenen, technischen und wohlfahrtsstaatlichen Forschritten deren Schattenseiten auf. Dazu gehört z.B. eine spezifische, der Verknüpfung von Zirkulation und Wachstum geschuldete Blindheit des modernen Infrastrukturkonzepts für die durch Produktion und Konsum erzeugten Gifte, für den Müll und für die Abgase. (Vgl. van Laak 2018, S.149ff.) Diese ‚Ausscheidungen‘ fielen lange Zeit aus der Zirkulation von „Menschen, Waren und Ideen“ heraus und verschwanden im Boden oder in der Luft, ohne daß es jemanden kümmerte:
„Allmenden wie das Wasser, der Boden oder die Luft wurden aber weiterhin ungeniert als Depots für belastende Stoffe benutzt, die dort diffundieren sollten.“ (Van Laak 2018, S.154)
Auf die Problematik eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums wurde schon kurz hingewiesen. Eine fundamentale Frage hinsichtlich der weiteren Entwicklung in den kommenden Jahren wird deshalb sein, wie van Laak in seiner „Zwischenbilanz“ festhält, inwiefern sich die „Verfügbarkeit von Infrastrukturen“ von dem „Konzept der industriellen Wachstumsmoderne“ trennen läßt und inwiefern sich „die globalen Lebensgrundlagen schonendere Alternativen denken und vor allem auch etablieren lassen“. (Vgl. van Laak 2018, S.287)

Zu ergänzen wäre die Frage, ob Infrastrukturen so konzipiert werden können, daß sie weniger inklusiv sind, so daß ‚Nutzer‘ die Chance haben, sich gegen ihre Nutzung zu entscheiden. Denn hier haben wir es mit einer weiteren Schattenseite der modernen Infrastrukturentwicklung zu tun. Van Laak zeigt an zahlreichen Beispielen, wie Infrastrukturen an den Bedürfnissen von Nutzern vorbei und immer wieder auch eindeutig gegen ihre Interessen installiert wurden. Beliebtes ‚Argument‘ bei ihrer Durchsetzung war immer wieder das „Gemeinwohl“-Interesse, dem sich einzelne renitente Bürger zu beugen hätten. (Vgl. van Laak 2018, S.21, 23, 43) Dabei wurde den Infrastrukturen eine ‚neutrale‘, unpolitische Funktion unterstellt, so daß diejenigen, die sich für ihren Ausbau einsetzten, sich selbst den Anschein eines überpolitischen Engagements geben konnten:
„Ansonsten handelt es sich um einen Politikbereich, der sich oft ausdrücklich unhistorisch, ja unpolitisch gibt, weil er für sich beansprucht, keine spezifischen Interessen zu betreffen, sondern der Allgemeinheit und dem Gemeinwohl zu dienen. Dieses zeit- und politikferne Labeling ist ein integraler Bestandteil des Konzepts Infrastruktur.“ (Van Laak 2018, S.21)
Zu den Opfern einer so begründeten Planungs- und Entscheidungshoheit gehörten an prominenter Stelle die Indianer, die dem us-amerikanischen Eisenbahnbau im 19. Jhdt. weichen mußten (vgl. van Laak 2018, S.41f.), und bis heute gehören dazu indigene Bevölkerungen des Amazonas und anderswo auf der Welt, die von gigantischen Staudammbauten entwurzelt werden und deren Lebensräume von Straßenbauprojekten fragmentiert werden. Aber auch in Europa selbst verweigerten sich oft regionale Nutzer dem Anschluß an neue Infrastrukturen, wie z.B. an die Stromversorgung:
„Die Energieanbieter bemühten sich zunächst, Konflikte zu umgehen, indem sie im Vorfeld aufzuklären versuchten. ... Waren die Widerstände renitent, wurde zunächst meist nachverhandelt. Nutzte auch dies nichts, wurden oft unverständlich schwadronierende Experten aufgefahren, die mit Sachzwängen argumentierten. Beeindruckte auch das nicht, drohten die Gesellschaften mit rechtlichen Schritten oder damit, die Widerständigen vom künftigen Strombezug auszuschließen.()“ (Van Laak 2018, S.77)
Während des Nationalsozialismusses wurde ein Energiewirtschaftsgesetz geschaffen, das einen „Anschlusszwang für die Nutzer sowie eine Anschlusspflicht für die Anbieter“ durchsetzte. (Vgl. van Laak 2018, S.111) Noch drastischer wirkt sich eine bis zum Beginn des 19. Jhdts. zurückreichende Reihe von Enteignungsgesetzen aus, auf deren Grundlage im Zuge des Braunkohletagebaus in Nordrhein-Westfalen die Bevölkerungen ganzer Dörfer enteignet und vertrieben wurden, selbstverständlich im besten Gemeinwohlinteresse. Wie üblich begründete der Betreiber RWE die Abholzung des Hambacherforstes zunächst mit dem allgemeinen Interesse an einer gesicherten Stromversorgung und offenbarte dann angesichts eines gerichtlichen Rodungsverbots das eigentliche Motiv, indem er sich öffentlich über die zu erwartenden Gewinnverluste beklagte.

Beeindruckend sind van Laaks Schilderungen der Interessenkonflikte, die bei der Planung und der Realisierung von Infrastrukturen aufeinanderprallen auch deshalb, weil diese Vorzeigeprojekte der industriellen Moderne, diese vielgepriesenen Ingenieursleistungen, viel weniger rational umgesetzt wurden und werden, als die Politik uns gerne glauben machen möchte. Tatsächlich werden mit den üblichen, schon genannten Argumentationsschablonen nur die verschiedenen Partikularinteressieren camoufliert:
„Die heutigen Infrastruktur-Netze sind das Resultat von unzähligen Entscheidungen im Schnittfeld von Technik, Wirtschaft und Politik, von individuellen und partikularen Interessen. Es finden sich außerdem stets Konstellationen des Augenblicks oder des Zufalls darin.“ (Van Laak 2018, S.281)
Die Realisierung von Infrastrukturprojekten ist deshalb ein ständiger Kampf mit divergierenden Partikularinteressen, wofür nicht zuletzt Stuttgart 21 steht. Van Laak verweist auf den erfolgreichen Widerstand der Stadtbevölkerung der Bronx in den 1950er Jahren gegen die ‚Sanierung‘ ihres Stadteils mit Stadtautobahnen (vgl. van Laak 2018, S.123) und auf den ebenfalls erfolgreichen Widerstand der Bevölkerung gegen eine „Flächensanierung des Greenwich Village“ in den 1960er Jahren. (Vgl. van Laak 2018, S.124) Erstmals im 20. Jhdt. mußten Städteplaner und Architekten zur Kenntnis nehmen, daß sie ihre Pläne nicht mehr über die betroffenen Anwohner hinweg umsetzen konnten, die sich an anderen Werten als an denen eines gleichsam naturwüchsigen ‚Fortschritts‘ orientierten, und zwar an den Werten einer „intakten Nachbarschaft, gewachsener sozialer Strukturen und historischer Identitäten“, und die „ökologische Bedenken“ artikulierten. (Vgl. ebenda)

In zweierlei Hinsicht kann man hinsichtlich des modernen Infrastrukturkonzepts von einer Infrastrukturfalle sprechen: zum einen bringt die konzeptionelle Verknüpfung zwischen Infrastruktur und Wohlstand es mit sich, daß jeder Ausstieg aus diesem Konzept Ängste hinsichtlich eines damit einhergehenden Wohlstandsverlustes hervorruft:
„So ist die paradoxe Situation entstanden, dass die Gesamtsituation verändert werden muss, man aber zugleich den einmal erreichten und in die Alltagsroutinen eingeschriebenen Komfort nicht gefährden will.“ (Van Laak 2018, S.286)
Diese Sorge ist der Grund dafür, daß statt der notwendigen grundsätzlichen Kehrtwende zu einem anderen Wohlstands- und Wirtschaftskonzept vor allem an Techniken geforscht wird, die den ‚Verbrauch‘ der bestehenden Technologien reduzieren. Van Laak bezeichnet das als „End-of-pipe-Technologie“:
„Denn verändert wird letztlich nur, was an Emissionen aus den Rohren strömt.“ (Van Laak 2018, S.286)
Zum zweiten wächst mit der zunehmenden Infrastrukturierung der Gesellschaft die Abhängigkeit der Menschen von diesen Infrastrukturen, und das macht jeden Ausfall eines Infrastrukturmoduls, etwa der Stromversorgung, aufgrund der Vernetzung der verschiedenen Infrastrukturen zu einer Katastrophe:
„Eine Falle der heute umfassenden Vernetzung besteht jedoch darin, dass – bei aller durch selbstoptimierte Menschen zur Schau gestellten outdoor- und survival-Kompetenz – solche Praktiken der Improvisation wie etwas das Reparieren von technischen Geräten oder scheinbar überlebte Kulturtechniken wie Feuermachen oder Kochen bei vielen Jüngeren kaum noch abrufbar sind.() ... Je besser eine Gesellschaft in ihren Versorgungseinrichtungen funktioniert, umso stärker wirkt sich jede Störung aus.()“ (Van Laak 2018, S.230)
Van Laaks Buch bietet keine umfassende, systematische Geschichte der Infrastruktur. Sein Interesse gilt vor allem der Perspektve der „Zeitgenossen“ in ihrer jeweiligen Gegenwart, wie sie die Infrastrukturen ihrer Zeit erlebt und als Normalfall wahrgenommen haben. (Vgl. van Laak 2018, S.13) Die von van Laak angeführten Beispiele und Episoden sind „subjektiv gefärbt und werden in fortgesetzten Wechseln zwischen punktuellen Geschichten und globalen Einordnungen vorgestellt, als in einem sehr wörtlichen Sinne miteinander verflochtene Episoden“. (Vgl. van Laak 2018, S.14)

Van Laaks Methode ist deshalb im engeren Sinne phänomenologisch. Es geht nicht einfach um eine systematisch-begriffliche Analyse des von ihm beschriebenen Infrastrukturkonzepts, sondern um die aus Betroffenenperspektive prekäre Sichtbarkeit der Infrastrukturen. Das für Infrastrukturen typische Changieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erinnert an den Begriff der Lebenswelt, so daß man sagen kann, daß es sich bei der Infrastruktur um das technokratische Gegenstück zum phänomenologischen Begriff der Lebenswelt handelt. Dieses prekäre Moment der Infrastruktur, ihre Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, wird so zu einem willkommenen Instrument techno-politischer „Camouflage“, und zwar mit steigender Tendenz:
„Immer umfassender zugängliche Infrastrukturen werden immer unmerklicher zur Verfügung gestellt.“ (Van Laak 2018, S.287)
Van Laaks Buch bietet für die kritische Leserin, den kritischen Leser eine Fülle an Material zu den anstehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen unserer Zeit, ein Buch also, dem der Rezensent eine zahlreiche Leserschaft wünscht.

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