„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. März 2019

Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a.M. 2018

1. Zusammenfassung
2. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
3. Anachronisten im Anthropozän

Phänomenologen befassen sich mit dem Sichtbaren und seinen Rückseiten, ohne die es das Sichtbare nicht gibt; und mit den Hintergründen, aus denen es hervortritt und in die es zurückweicht. Es gibt keine Phänomene ohne das Unsichtbare. Und für die lebensweltlichen Phänomene gilt sogar, daß sie immer unsichtbar sind und sich zeigen, indem sie sich auf unterschiedliche Weisen nicht zeigen. Auch für die Thematik von Dirk van Laaks Buch „Alles im Fluss“ (2018), für die „Infrastrukturisierung“ der Hochmoderne (vgl. van Laak 2018, S.154 und S.286), spielen die verschiedenen Varianten des Unsichtbaren eine so gewichtige Rolle, daß es gerechtfertigt ist, die Infrastruktur als das technokratische Gegenstück zum phänomenologischen Begriff der Lebenswelt zu bezeichnen.

Van Laaks Methode weist dem Unsichtbaren eine wichtige Funktion zu. Es geht dem Historiker nicht um die großen Geschichtszeichen von Politikern, Unternehmern, Erfindern oder Gesellschaftsreformern, sondern um die „alltäglichen Routinen“ im Umgang mit Infrastrukturen, deren sich die jeweiligen Zeitgenossen in den verschiedenen geschichtlichen Epochen oft gar nicht bewußt sind, und für diese „Gebrauchsgeschichte“ ist „das Unsichtbare oft wichtiger als das Sichtbare“. (Vgl. van Laak 2018, S.21)

Beides, die Unsichtbarkeit von Gegenständen – Heidegger spricht von der Zuhandenheit des Zeugs – und die Unmerklichkeit des Umgangs mit ihnen, bildet wesentliche Momente einer genuin phänomenologischen Konzeption des Mensch-Weltverhältnisses:
„Es gehört zu den hervorstechenden Merkmalen der Infrastrukturen, dass sie sich meist rasch in die alltäglichen Routinen ihrer Nutzer einschleichen. Insofern stellen sie so etwas wie das kollektive Unterbewusste dar, eine entlastende Voraussetzung für weitergehende kreative und zerstreuende Tätigkeiten.“ (Van Laak 2018, S.284)
Dabei schwankt der phänomenale Status der Infrastrukturen je nach dem, wie gut sie funktionieren, bis hin zu den spektakulären Momenten, wo sie vollständig ausfallen (vgl. van Laak 2018, S.229ff.); ein weiteres Merkmal auch der Lebenswelt, deren wir uns immer erst dann bewußt werden, wenn wir aufgrund von Krisen oder Unglücksfällen aus ihr herausfallen:
„Wenn sie (die Infrastrukturen – DZ) aber sichtbar werden oder ins Bewusstsein treten, ist dies oft mit Ärger verbunden, so wenn das, was fließen soll, ins Stocken gerät, wenn die Preise überhöht erscheinen oder wenn Ressourcen oder Gelder offenkundig verschwendet werden. Die Sichtbarkeit von Infrastrukturen reicht vom Unmerklichen bis zum großen Spektakel, mit sämtlichen Schattierungen dazwischen.()“ (Van Laak 2018, S.185)
Aber nicht nur die ‚Vulnerabilität‘ zusammenbrechender Infrastrukturen trägt zu deren variierenden Sichtbarkeit bei. Infrastrukturen haben darüberhinaus Lebenszyklen. (Vgl. van Laak 2018, S.202ff.) Sie können veralten und werden dann entweder abgebaut und verschwinden vollständig, oder sie werden überbaut und bilden Schichten, quasigeologische Ablagerungen, über die sich immer neue Infrastrukturen legen:
„Neue Technologien legen sich gleichsam über die alten, sie werden ‚überplant‘ und schaffen, wie beim Internet in Bezug zum Telefonnetz, ein Overlay-Netzwerk, bis auch dieses durch ein neues Netz, etwa die Breitband- und Glasfaserkabel, abgelöst wird.()“ (Van Laak 2018, S.208)
Dabei geht das Wissen um die älteren Strukturschichten oft verloren, was dann bei späteren Grabungen entsprechende Überraschungen verursacht:
„Der genaue Verlauf der unterirdischen Leitungen wurde dabei in aller Regel nur unvollständig dokumentiert und noch seltener zentralisiert zugänglich gemacht. Seither kann jede Grabung, jeder Weg in den Untergrund – beziehungsweise das Unterbewusste der Städte – für Überraschungen sorgen.()“ (Van Laak 2018, S.67)
Van Laak spricht hier zurecht vom „Unterbewussten der Städte“, denn auch das menschliche Bewußtsein bildet Schichten, zu denen die verschiedenen biologischen, kulturellen und individuellen Entwicklungsebenen des Unterbewußten gehören; ein weiterer Grund also, warum das methodische Vorgehen des Historikers van Laak als phänomenologisch bezeichnet werden kann.

Bekannterweise gibt es zahlreiche Nostalgiker, die technische Relikte, wie etwa Oldtimer, aus früheren Zeiten sammeln und restaurieren:
„An ihnen offenbaren sich zeitliche Schichtungen, an sie heften sich nostalgische Erinnerungen an Tempi passati. Alte Bahnhofsgebäude und Oldtimer, die letzten Doppeldeckerbusse Berlins, ältere Computer oder Handys sind sichtbare Relikte einer früheren Zeitschicht.“ (Van Laak 2018, S.203)
Auffällig dabei ist allerdings, daß sich diese Nostalgien selten auf die Infrastrukturen selbst richten, nicht einmal dann, wenn es sich dabei um mal gelbe, mal rote Telephonzellen handelt. Denn bei diesen Telephonzellen handelt es sich wie bei Pilzen nicht um den ‚Pilz‘ selbst, dessen unterirdisches Geflecht unserer Aufmerksamkeit entgeht, sondern um die ‚Fruchtkörper‘, sprich: ‚Endgeräte‘, also um die eigentlichen Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Allenfalls die „Aus- und Einstiege in die Netze“ (van Laak 2018, S.203), also das Verlegen von Kabeln oder der Rückbau von Straßen, erregen punktuell unsere Aufmerksamkeit, werden dann aber auch gleich wieder vergessen.

Noch ein weiterer Aspekt der prekären infrastrukturellen Sichtbarkeit besteht darin, daß Infrastrukturen nicht nur selbst unauffällig sind, sondern auch unsichtbar machen können, wie im Falle der New Yorker „Maulwurfsmenschen“: vorwiegend Obdachlose, aber auch Vietnamveteranen, makrobiotische Hippies, Cracksüchtige, kubanische Flüchtlinge, verurteilte Mörder, Computernerds, philosophierende Einsiedler etc., die sich übergangsweise in die „Gas-, Elektrizitäts-, Kanal- und Eisenbahnschächte() unterhalb New Yorks“ zurückziehen. (Vgl. van Laak 2018, S.253) Wir haben es also bei diesem ‚Untergrund‘ mit einer modernen Version einer ‚Höhle‘ zu tun, was an Platons Höhlengleichnis erinnert und eine Parallele zur Nutzung gewisser ‚Endgeräte‘, wie etwa den Smartphones, erlaubt, die man auch als tragbare Höhlen bezeichnen könnte, die ihre bis in beide Ohren verkabelten Nutzer sogar dann von der Welt abschirmen, wenn diese Nutzer sich draußen durch den Stadtverkehr oder joggend durch die Natur bewegen.

Da fragt man sich, wer die eigentlichen Höhlenbewohner sind: möglicherweise nicht die Maulwurfsmenschen.

Ein letztes Merkmal der prekären Sichtbarkeit von Infrastrukturen, auf das van Laak in seinem Buch zu sprechen kommt, bildet die öffentliche Hand, die an die Stelle der unsichtbaren Hand des Marktes getreten ist, wie sie Adam Smith beschrieben hat. (Vgl. van Laak 2018, S.62) Diese öffentliche Hand finanziert den Ausbau der Infrastruktur und nutzt dabei die Tendenz infrastruktureller Neuerungen, sogleich im ‚Untergrund‘ zu verschwinden und unsichtbar zu werden, zur „Camouflage“, also zur Kaschierung von Partikularinteressen und Korruption, die von der Tendenz unterstützt wird, daß „(i)mmer umfassender zugängliche Infrastrukturen ... immer unmerklicher zur Verfügung gestellt (werden)“. (Vgl. van Laak 2018, S.287)

Neue Infrastrukturen werden selten, eigentlich nie, aufgrund demokratischer Entscheidungen unter Einbeziehung aller vom Bau dieser Infrastrukturen Betroffenen eingeführt. Indigene Bevölkerungen mußten gigantischen Infrastrukturbauten weichen, wie etwa beim Eisenbahnbau in den USA (19.Jhdt.), bei Staudämmen oder bei Straßen durch den Amazonas. Nicht nur in Diktaturen, auch in Demokratien werden Infrastrukturprojekte in dunklen Hinterzimmern beschlossen, wo Profitinteressen ausgehandelt werden. Die Debatten im Bundestag sind dann nur noch Camouflage. So tritt die „öffentliche Hand“ an die Stelle der „unsichtbaren Hand“ des Marktes, ohne dadurch allerdings an Sichtbarkeit (Transparenz) zu gewinnen.

Das Argument ist immer wieder die Fürsorge des Staates. Die sogenannte ‚Daseinsvorsorge‘. Das paternalistisch fürsorgliche Verhalten des Staates ist vorgeblich am Gemeinwohl ausgerichtet. Aber schon von Beginn an betrieb der Kapitalismus (Stichwort ‚ursprüngliche Akkumulation‘) mit diesem Gemeinwohl sein eigenes perfides Spiel. Das ist die bislang letzte Drehung in der Spirale einer durchgehenden Infrastrukturierung, die aufgrund ihrer phänomenalen Eigenschaften zur scheinbar perfekten Falle für das auf seine Souveränität so stolze Bürgerbewußtsein geworden ist, einer Falle, an der die Bürger selbst unbewußt mitarbeiten. Gäbe es nicht Geschichtssignale wie „Greenwich-Village“ in den 1960er Jahren (vgl. van Laak 2018, S.124), die jahrzehntelange, mehrere Generationen umfassende Anti-Atomkraftbewegung oder heute Stuttgart 21 und den Hambacher Forst, möchte man an der Möglichkeit, dieser Falle zu entkommen, verzweifeln. Auf dieses Thema werde ich im dritten und letzten Blogpost noch einmal zurückkommen.

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