„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 28. Mai 2022

Gierkes Melencolia II: Ein Suchbild

Neben der „Melencolia II“ (1989) gibt es von Gierke noch eine „Melencolia I“ (1998). Aus den Jahreszahlen läßt sich schließen, daß die Nummerierungen ‚I‘ und ‚II‘ keine Reihenfolge dieser Ölgemälde angeben. Ich vermute, daß sich diese Nummern auf Dürers in beiden Gemälden im Hintergrund wiedergegebenen Kupferstich „Melencolia I“ (1514) beziehen. Dürers Original wird auf dem Ölgemälde „Melencolia I“ (1998), wo es an der Wand hängt, vollständig abgebildet, wenn man mal davon absieht, daß es teilweise durch die Stuhllehne und durch die linke Schulter der auf dem Stuhl sitzenden, nach hinten über diese Schulter hinweg auf Dürers Kupferstich schauenden Version von Gierkes Melencolia verdeckt wird. Die inhaltliche Vollständigkeit von Dürers Original – soweit es eben sichtbar ist –, motiviert wahrscheinlich die Betitelung, während ihm, ebenfalls im Hintergrund des Ölgemäldes „Melencolia II“ (1989), diesmal als gerahmter Kupferstich in Lebensgröße an der Wand lehnend, einzelne Dinge fehlen. „Melencolia II“ beinhaltet also eine Variation von Dürers Original und kann deshalb auch den Titel nicht eins zu eins übernehmen.

Melencolia II (1989), in: „Weltsprache Kunst“ (2007), S.8

Abgesehen von dem über die Schulter nach hinten auf den Kupferstich gerichteten Blick von Gierkes Melencolia in „Melencolia I“ (1998) gibt es keinerlei inhaltliche Verbindung zwischen Kupferstich und Ölgemälde. Das ist bei Gierkes „Melencolia II“ (1989) anders. Es ist im Grunde wie bei diesen Suchbildern, wo auf dem einen Bild Dinge fehlen, die auf dem anderen Bild vorhanden sind, und man muß herausfinden, welche. Wenn man Gierkes Version von Dürers auf dem Ölgemälde wiedergegebenen Kupferstich (1989) mit Dürers Original (1514) vergleicht, dann ist wie schon angedeutet Gierkes Version lückenhaft. Die auf einer Bank vor einem Haus sitzende Figur auf Dürers Original ist bekleidet und hat Flügel, was sie als Engel kennzeichnet, und Engel sind bekanntermaßen geschlechtslos. Bei Gierke ist dieser Engel aus dem Kupferstich herausgetreten – die Bank vor dem Haus auf dem Kupferstich ist leer –, sitzt jetzt auf einem niedrigen Podest mit dem Rücken zum Kupferstich, ist nackt und ohne Flügel und mit allen weiblichen Attributen ausgestattet. Sie hält in der rechten Hand einen Pinsel, während Dürers Engel einen Zirkel in der Hand hält. Dürers Engel schaut auf einem Horizont, über den ein Komet vorbeizieht, während Gierkes Melencolia nach unten auf einen ihr zu Füßen liegenden Spiegel schaut.

Auf Dürers Original befindet sich eine große Steinkugel, die auf Gierkes Ölgemälde aus dem Kupferstich herausgerollt ist und jetzt im Sitzschatten der Melencolia liegt. Anders als die Steinkugel befindet sich der zu Füßen von Dürers Melencolia schlafende Hund auch in Gierkes Version immer noch auf dem Kupferstich, aber zu Füßen seiner aus dem Kupferstich herausgetretenen Melencolia liegt jetzt kein Hund mehr, sondern der Spiegel.

Sonst ist auf Gierkes im Rücken von Melencolia an der Wand lehnenden Version von Dürers Kupferstich alles wie auf dem Original. Die Veränderungen betreffen vor allem die Figur (Engel/Frau), den Pinsel (Zirkel), die Steinkugel und den Spiegel.

Diese Veränderungen deuten meiner Ansicht nach auf eine veränderte kulturelle Verortung des Menschen im Kosmos hin. Es gibt keine Spannung mehr zwischen Erkenntnisfortschritt und Transzendenz, wie sie in Dürers Kupferstich als Melancholie des an den Grenzen der Erkenntnis sich abmühenden Menschen – in der Gestalt eines gefallenen Engels (?) – zum Ausdruck kommt. Gierkes Melancholie speist sich aus anderen Quellen. Sein Mensch, in weiblicher Gestalt, sucht seinen Ort außerhalb einer mit männlich konnotierten Requisiten ausgestatteten und entsprechend vereinnahmten Welt. Möglicherweise deutet der Pinsel in ihrer Hand darauf hin, daß sie Dürers Kupferstich, auf dem der Zirkel vielleicht für die Vermessung der Welt steht, neu malen will?

Gierkes Melencolia scheint mit einer Biologie zu hadern, die ihre Menschlichkeit einzuschränken droht. Ihr Blick in den Spiegel sucht nicht sich selbst, sondern ein anderes ihrer selbst. Vielleicht ist ja das Meer auf Dürers Kupferstich in Gierkes Ölgemälde zum Spiegel geworden. Dann schaut auch seine Melencolia hinaus auf einen Horizont, so wie Dürers Engel, und sucht dort den Kometen.

Mittwoch, 18. Mai 2022

Wahrheit und Lüge

Gestern verlief der größere Teil der Talkshow von Markus Lanz wieder wie üblich. Lanz nahm seinen Gast, diesmal den SPD-Vorsitzenden Klingbeil, in die Mangel, wegen seiner zum NRW-Wahlausgang versuchten Umdeutung der SPD-Niederlage in einen Sieg. Ich hatte mal mit einem Freund über die Talkshow gesprochen und meine Wertschätzung zum Ausdruck gebracht. Mein Freund meinte nur lapidar, er schätze es gar nicht, wie Lanz in seine Gäste ‚reinkriecht‘. Inzwischen muß ich ihm Recht geben.

Wiedermal versuchte Lanz seinen Gast zu moralisieren. Es ginge ihm, also Lanz, um „Wahrheit“ und „Ehrlichkeit“ in der Politik. Glücklicherweise machten seine anderen Gäste diesmal nicht mit. Sie blieben gegenüber Lanzens moralischen Attacken auf Klingbeil reserviert. Harald Welzer brachte es gut auf den Punkt. Er sei es leid, wie in der Politik über Politik und damit an den Wählerinnen und Wählern vorbei geredet werde. Welzer meinte damit eine ‚Politisierung‘ von Politik, wie sie Lanz in diesem Teil seiner Sendung  praktiziert – bevor er zu inhaltlichen Themen übergeht. Er meinte eine Meta-Politik, in der nicht mehr über Inhalte geredet, sondern sich nur noch über ‚Werte‘ moralisch erregt wird.

Hannah Arendt hat das viel nüchterner gesehen. (Vgl. „Wahrheit und Lüge in der Politik“ (2013/1972)) Ihrer Ansicht nach hat Wahrheit mit Politik überhaupt nichts zu tun. In der Politik geht es nicht um Wahrheit, sondern um gemeinsames Handeln. Dazu müssen sich die Menschen als Gleiche anerkennen. Und dazu gehört wiederum, daß wir in unseren politischen Entscheidungen immer die Standpunkte möglichst aller anderen Beteiligten mitbedenken müssen. Das ist Arendt zufolge der Kern der Gleichheit, und sie nennt das „Urteilskraft“. Urteilskraft ist nicht einfach, eine eigene Meinung zu haben, sondern die Meinung der anderen mit einzubeziehen. So wird die Urteilskraft zu einer handlungsentscheidenden politischen Größe.

Zu glauben, man sei im Besitz der Wahrheit, kann da nur kontraproduktiv sein. Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, ist nicht mehr Gleicher unter Gleichen, sondern hat schon alle anderen als ungleich abgewertet. Und seine Urteilskraft außer Kraft gesetzt.

Lüge ist hingegen nicht das Gegenteil der Wahrheit, sondern ein grundlegendes Merkmal der menschlichen Freiheit, die Dinge anders zu sehen als sie sind. Nur so können wir die Dinge verändern. Die Lüge ist Teil unseres Möglichkeitssinns. Und weil es in der Politik genau darum geht, die Dinge zu verändern, sei die Lüge eine der Politik verwandte menschliche Grundfähigkeit.

Das setzt die Wahrheit als Korrektiv der Lüge (und auch der Politik) nicht außer Kraft. Im Gegenteil gehe es, so Arendt, mit der „Idee der Wahrheit“ „um den Bestand der Welt“. (Vgl. Arendt 2013/1972, S.46) Denn die Wahrheit besteht in der Wirklichkeit einer Welt, die, gleichgültig wie sehr wir Menschen diese Welt ‚gemacht‘ haben, unabhängig von uns existiert. Die Wahrheit hat ihren Grund darin, daß die Menschen die Welt zwar ‚machen‘, sie aber nicht ‚kontrollieren‘.

Es gibt ‚Fakten‘, die wir Menschen nicht einfach aus der Welt schaffen können; nicht mal dann, wenn wir sie leugnen. ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ hängen nun eng damit zusammen, wie wir mit den Fakten umgehen. Nicht die Fakten als solche stehen für Wahrheit. Sie müssen erst eine Bedeutung für den Menschen bekommen, um als wahr oder falsch gelten zu können. Eine Bedeutung geben wir ihnen, wenn wir sie in eine Geschichte einbauen, die wir über sie erzählen. Im Rahmen dieser Geschichte erweist sich unsere Perspektive auf die Fakten als wahr oder falsch. Deshalb ist die Welt wie sie ist, als Wirklichkeit, nie einfach nur ein Fakt oder, wie Wittgenstein behauptet, alles, was der Fall ist, sondern eine Erzählung.

Diese Erzählung könnte, bei gleicher Faktenlage, möglicherweise anders sein. Und „Wahrheit“ steht dann für „das, was der Mensch nicht ändern kann“: „(M)etaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.“ (Arendt 2013/1972, S.92)

Ebendeshalb ist die Wahrheit keine politische Größe. Sie ist zu groß für Politik. In der Politik geht es um gemeinsames Handeln. Nicht um Wahrheit.

Sonntag, 15. Mai 2022

Die Erde

Ich habe in den vergangenen Wochen mehrmals auf Wörter hingewiesen, die zu groß sind, um wahr zu sein. Damit meinte ich Wörter wie die ‚Russen‘ oder die ‚Ukraine‘. Insbesondere meinte ich damit so ein Wort wie ‚Volk‘. Es gibt nur Menschen, die als Bürger oder Untertanen – je nach Perspektive – in unterschiedlichen Staaten leben. Deshalb ist mir auch das Wort ‚Menschheit‘, wenn es die Gattung bezeichnen soll, zu groß. Ich ziehe es vor, von Menschen zu reden.

Aber tatsächlich gibt es auch Wörter, die so groß sind, daß wir sie ständig verkleinern müssen, um sie unserem beschränkten Horizont einordnen zu können. Zu diesen Wörtern gehört ‚Erde‘. Seit Jahrhunderten verstehen wir die Erde als Rohstoffquelle, die der Mensch ausbeuten darf. Und im 20. Jhdt. kam mit der Science Fiction die Vorstellung auf, daß man die Erde eigentlich gar nicht brauche und daß man auch ganz gut woanders leben könne. Inzwischen gibt es Leute, die ernsthaft glauben, der kollabierenden Erde entkommen zu können, indem sie beispielsweise den Mars kolonisieren.

Die Erde ist definitiv ein Wort, das wir uns gar nicht groß genug denken können. Das Volk aber ist, egal wie wir es auszudifferenzieren versuchen, immer zu groß, um wahr zu sein.

Dienstag, 10. Mai 2022

Stöbern wird gewesen sein

Ich war heute in meiner Lieblingsbuchhandlung in Münster, früher Poertgen-Herder; heute gehört sie zu Thalia. Diese Buchhandlung ist eine klassische Universitätsbuchhandlung. Die Regale in den nach wissenschaftlichen Disziplinen geordneten Fächern quellen über von Büchern, die man direkt in die Hand nehmen und darin schmökern kann. Dank der fachlichen Kompetenz der für die verschiedenen Sparten zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bieten diese Regale einen guten Überblick über das, was auf dem Markt ist. Und natürlich über die Klassiker.

Diesmal ging ich in die Abteilung für DVDs. Dort sah ich einen Regalbereich ausgespart: keine DVDs, sondern ein QR-Code, für die Kunden, die sich mit Hilfe dieses Codes einen Überblick über weitere DVDs beschaffen wollen und dann die Bestellungen direkt zum Abholfach weiterleiten können. Vor den Kassen befinden sich Hinweise an diejenigen in der Schlange der Wartenden, die die Bezahlung ihrer Bücher per QR-Codes erledigen und sich so die Warteschlange ersparen können.

Ich denke derweil weiter. Demnächst werden keine Bücher mehr in den Regalen stehen, die man in die Hand nehmen kann, sondern überall nur noch QR-Codes. Die ganze Buchhandlung wird sich in einen virtuellen Raum verwandelt haben. Stöbern wird dann gewesen sein.

Samstag, 7. Mai 2022

Gelassenheit

Gehen heißt:
das Gehen geschehen lassen.

Atmen heißt:
das Atmen geschehen lassen.

Wahrnehmen heißt:
die Welt geschehen lassen.

Leben heißt:
sich selbst geschehen lassen.

Sterben heißt:
sich gehen lassen.

Donnerstag, 5. Mai 2022

Wahrheit, Vernunft und Politik

In der Öffentlichkeit wird immer gerne unterschiedslos von ‚Fakten‘ geredet; von Tatsachen, denen man uneingeschränkt zustimmen muß und denen man nicht widersprechen und die man nicht leugnen kann. Ich selbst unterscheide zwischen Daten und Fakten. ‚Daten‘ sind, wörtlich genommen, das Gegebene, also das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Diesen Daten kann man tatsächlich nicht widersprechen, weil man dann an seinem eigenen Verstand irre werden müßte.

‚Fakten‘ hingegen sind, wörtlich genommen, das Gemachte, also Tat-Sachen. Sie haben etwas mit unserem Handeln zu tun. Unser Handeln ist aber immer zweifelhaft. Es ist in Situationen eingebunden, die wir nicht unter Kontrolle haben. Dementsprechend gehen aus ihm Folgen hervor, die wir ebenfalls nicht unter Kontrolle haben. Es gibt also tatsächlich so etwas wie alternative Fakten.

Bei Arendt finde ich eine ähnliche Unterscheidung. Ihr zufolge gibt es Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. (Vgl. „Wahrheit und Lüge in der Politik“ (2013/1972), S.48) Unter den Vernunftwahrheiten sind nur die mathematischen und die wissenschaftlichen Wahrheiten unbezweifelbar. Die mathematischen Wahrheiten betreffen Gegenstände, die für die Menschen gleichgültig sind; außer für jene sonderbaren Persönlichkeiten, die einen Satz wie: „Die drei Winkel eines Dreiecks sind zwei rechten Winkeln gleich.“ (Arendt 2013/1972, S.47) für anbetungswürdig halten.

Bei den wissenschaftlichen Wahrheiten denkt Arendt vor allem an naturwissenschaftliche Gegenstände. Auch diese sind weitgehend unbezweifelbar. Hier haben wir es mit unseren Sinneswahrnehmungen zu tun; außer in der Quantenphysik und in der Kosmologie natürlich.

Und schließlich gibt es noch die philosophischen Wahrheiten, die uns nun wirklich etwas angehen: in ihnen geht es um die menschliche Existenz, und hier ist nicht die Gewißheit, sondern der Zweifel vorherrschend.

Das alles sind Vernunftwahrheiten. Die Tatsachenwahrheiten sind hingegen politischer Art und betreffen das menschliche Handeln. An diesem ist eben vor allem die Politik interessiert. Deshalb sind sie auch besonders gefährdet; am meisten in Kriegszeiten. Denn die Politik, insbesondere wenn sie nicht mehr von den Medien kontrolliert wird, hat Zugriff auf die politischen Tatsachen. Ohne Kontrolle durch die Medien sind sie beliebig formbar.

Soweit Arendt. – Bleibt mir nur noch zu ergänzen, daß die Medien heutzutage leider weniger denn je mit der seriösen Presse identisch sind. Und auch die seriöse Presse verfolgt leider oft genug ihre eigene Agenda. Es gibt Medien, die parteipolitisch agieren, auch wenn sie sich überparteilich geben. Es gibt Medien, die tatsächlich weitgehend überparteilich sind. Und es gibt Medien, die das vorherrschende Dogma, daß permanentes Wirtschaftswachstum das A und O einer prosperierenden Gesellschaft ist, vertreten und so eine wirksame Klimapolitik behindern. Und was Corona betrifft, war zumindestens mein subjektiver Eindruck, daß auch fast alle seriösen Medien in den letzten Jahren mehr oder weniger in staatspolitischer Verantwortung, also affirmativ unterwegs gewesen waren.

Deshalb muß zu der medialen Kontrolle der Politik durch die freie Presse unverzichtbar immer auch der individuelle Gebrauch des eigenen Verstandes zu der Rezeption dieser Presse hinzukommen. Medienkontrolle geht also in zwei Richtungen: Kontrolle der Politik durch die Medien und Kontrolle der Medien durch den verantwortlichen Staatsbürger.

So kompliziert ist das mit der Wahrheit.

Erregungsmedien zum dritten

Maximale Erregung. Minimale Information.

Mittwoch, 4. Mai 2022

Erregungsmedien die zweite

Die gestrige Talkshow von Markus Lanz, dessen Talkshows ich sehr schätze, war gestern rund 22 Minuten lang das, was ich hier als Erregungsmedium bezeichne. Von einer Gesamtsendezeit über 1:15 waren für mich diese 22 Minuten überflüssig und verlorene Zeit. Worum ging es? Um Scholz und seine Weigerung nach der Ausladung des Bundespräsidenten gleich selbst in die Ukraine zu reisen und ‚Haltung‘ zu zeigen; natürlich Haltung für die Ukraine.

Hat irgendjemand Zweifel an der diesbezüglichen Haltung des Bundeskanzlers? Kann man vernünftigerweise seine Haltung bezweifeln?

Diese Haltung wird ihm abgesprochen und gleichzeitig wird Empathie für die Ukraine bzw. für die für die Ausladung des Bundespräsidenten Verantwortlichen – auch ‚Ukraine‘ ist ein zu großes Wort, um es einfach so pauschal zu verwenden – eingefordert. Ist es aber nicht so, daß Scholz tatsächlich Haltung zeigt, indem er vorerst nicht in die Ukraine reist? Und ist diese ganze Hinreiserei von Politikern, die Empathie zeigen, immer auch gleich identisch mit Empathie?

Für mich ist diese ganze Auseinandersetzung um die Person des Bundeskanzlers vor allem Erregungspolitik und Erregungsjournalismus.

Und, Herr Lanz, was Ihren Hinweis während dieser Diskussion auf Ihre staatsbürgerliche Befindlichkeit betrifft – warum eigentlich? Was trägt dieser Hinweis zur Sachlage bei? –, auch ich bin ein Staatsbürger dieses Landes. Da sollte man nicht so viel Aufhebens von machen.

Dienstag, 3. Mai 2022

Wahrheit und Subjektivität

Hannah Arendt zufolge geht es in der „Idee der Wahrheit“ „um den Bestand der Welt“. (Vgl. „Wahrheit und Lüge in der Politik“ (2013/1972), S.46) Deshalb bedarf es der Zivilcourage, wenn wer auch immer sich für die Wahrheit einsetzt: „Seit eh und je haben die Wahrheitssucher und Wahrheitssager um das Risiko ihrer Unternehmung gewußt: solange sie sich abseits der Welt halten, sind sie nur dem Lachen der Mitbürger preisgegeben, wie Thales dem Lachen der thrakischen Bauernmagd; sollte aber einer versuchen, seine Mitbürger aus den Fesseln des Irrtums und der Illusion zu lösen, so würden sie, ‚wenn sie seiner habhaft werden und ihn töten könnten, auch wirklich töten‘ – wie Plato im letzten Satz des Höhlengleichnisses sagt.“ (Arendt 2013, S.46f.)

Arendt spricht hier vorsichtig von der ‚Idee‘ der Wahrheit, nicht von der Wahrheit selbst, als könnten wir sie unmittelbar vorfinden oder auf sie stoßen, um sie dann couragiert zu bezeugen, bereit, die unangenehmen Folgen auf uns zu nehmen. Sie behält also eine gewisse Distanz zur Wahrheit als solcher. Und das ist gut so! Würde sie von der Wahrheit selbst sprechen, statt nur von ihrer Idee, würde sie sich selbst widersprechen; denn der wichtigste Begriff ihrer politischen Philosophie ist die Pluralität, also die Verschiedenheit der subjektiven Zugänge zur Wirklichkeit. Wenn es nicht um ganz elementare Augenzeugenschaft geht, wie etwa beim Beobachten einer brutalen Gewaltszene, eines Mordes, ist die Wahrheit in einer komplizierten Welt immer zweifelhaft. Vor allem aber ist sie plural.

Das gilt auch in mancherlei Hinsicht (nicht in allen Hinsichten!) von dem Krieg in der Ukraine. So weit eigene Augenzeugenschaft oder die Augenzeugenschaft glaubwürdiger Beobachter vorliegt, können wir von der Brutalität des Putinschen Angriffskrieges wissen, wenn wir das denn wollen. Wer davon nichts wissen will, wird weiterhin glauben, was Putins Propaganda ihn/sie glauben macht.

Trotzdem gibt es Begrifflichkeiten, die eine Wirklichkeit vorgaukeln, die es so nicht gibt; nicht geben kann, wenn meine eigene Erfahrung und die Geschichte dieses Landes, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, irgendeine Bedeutung haben sollen. Zu diesen Begriffen gehört die Aussage, der Angriffskrieg auf die Ukraine sei ‚russisch‘ bzw. ‚die Russen‘ hätten die Ukraine angegriffen, was dann noch einmal durch entsprechende Umfrageergebnisse belegt wird.

Selbst wenn diese Umfrageergebnisse angezweifelt werden – was haben Umfragen in einem Land, in dem der Gebrauch des Wortes ‚Krieg‘ mit mehrjährigen Haftstrafen bedroht wird, für einen Wert? –, wird doch immer wieder gerne darauf verwiesen, daß sie nicht allzu weit von der Wirklichkeit entfernt seien: also vielleicht nicht 82%, sondern vielleicht nur 75%.

Für mich hat die Statistik in diesem Fall überhaupt keinen Wert, um Aussagen wie, ‚die Russen‘ unterstützen diesen Krieg, zu rechtfertigen. Ich bleibe dabei: es ist Putins Angriffskrieg. Es ist Putins Propaganda, die die Leute verdummt, und es ist Putins Gesetz, das diejenigen, die sich nicht dumm machen lassen wollen, mit Haftstrafen belegt. Wir haben es hier mit einem der seltenen Fälle zu tun, in denen ein Verantwortlicher namhaft gemacht werden kann.

Das Wort ‚die Russen‘ ist einfach zu groß, um wahr sein zu können; gleichgültig wie man es benutzt bzw. einschränkt oder nicht einschränkt. Es gibt das Volk nicht, das etwas will, wie z.B. den Angriff auf die Ukraine. Das Volk hat keinen Willen. Es ist bloß eine Idee, so wie die Wahrheit.

Wenn es also in der Idee der Wahrheit, wie Arendt schreibt, um den Bestand der Welt geht, dann nur, wenn wir – wie sie – wissen, daß die Wahrheit immer plural ist.

Montag, 2. Mai 2022

Erregungsmedien

In „Wahrheit und Lüge in der Politik“ (2013/1972) stoße ich auf eine Bemerkung zur Ohnmacht der Wahrheit, wo Hannah Arendt fragt, ob mit einer politischen Öffentlichkeit, in der die Wahrheit keine Rolle mehr spielt, nicht auch die Welt selbst, in die wir hineingeboren werden und in der wir sterben werden und die es schon vor uns gab und die es auch nach uns noch geben wird, gefährdet ist. (Vgl. Arendt 2013, S.44)

Vieles, was Arendt in den zwei Essays in diesem Buch schreibt, erinnert an den aktuellen Putinschen Angriffskrieg auf die Ukraine. Und auch Arendts Frage nach dem Status einer zur Lüge bereiten und die Lüge akzeptierenden Öffentlichkeit erinnert mich sofort an die Debatten in unserem Land zu einem angemessenen politischen Umgang mit Putins Angriffskrieg. – Nicht etwa, weil ich glaube, daß hier die Lüge über die Wahrheit triumphiert, so wie in manchen anderen Ländern. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß man den Begriff ‚Wahrheit‘ auch mit dem Begriff ‚Medien‘ konfrontieren könnte; wenn man also Arendts Satz entsprechend umformuliert: „Welche Art Wirklichkeit können wir der Wahrheit noch zusprechen, wenn sie sich gerade in den Medien, also in einem Bereich, der mehr als jeder andere den gebürtlichen und sterblichen Menschen Wirklichkeit vermittelt, als ohnmächtig erweist?“

Denn es ist nicht einfach nur die bewußte Lüge als solche, sondern auch die von den Medien begleitete und nicht selten auch verursachte öffentliche Erregung, die das subjektive Bewußtsein, die Wahrheit zu sagen, infiziert und mit der „gemeinsamen öffentlichen Welt“ die Welt, die es schon immer gab und nach uns noch geben wird, gefährdet. Das ist mir zum ersten Mal in den zwei Jahren der Corona-Pandemie so richtig bewußt geworden. Erregung – und mit ihr die jederzeitige Empörungsbereitschaft (Stéphane Hessel) – torpediert den Versuch einer pragmatischen, an den hygienischen Notwendigkeiten der Pandemie orientierten Politik und führt zu einer gespaltenen Gesellschaft. Mit ‚Spaltung‘ meine ich, daß im öffentlichen Raum nicht mehr diskutiert und argumentiert wird, sondern die jeweiligen Positionen nicht nur nach richtig und falsch, sondern auch nach moralisch und nicht moralisch sortiert werden. – Daran haben sich die Erregungsmedien zumindestens beteiligt; wenn nicht sogar auch Öl ins Feuer gegossen.

Dieses Phänomen findet sich in allen möglichen Streitfragen wieder. Von „me-too“ über Windkraftanlagen bis hin zu den aktuellen Auseinandersetzungen um schwere-Waffen-Lieferungen oder Verhandlungs- und Waffenstillstandslösungen. Da kann jemand nicht mal mehr von Jungs-und-Mädeln sprechen, ohne daß sich darüber tage- und wochenlang erregt wird.

Es kommt ein weiteres Moment hinzu, das mir wichtig ist. Medien sind nicht einfach nur Presse und ‚soziale‘ Netzwerke. Auch die ganze digitale Infrastruktur selbst ist ein Medium; auch diese bzw. ihr digitaler Ausbau wird in höchster Erregung und mit Empörungsausbrüchen hinsichtlich ihres ‚zögerlichen‘ Ausbaus begleitet, ohne daß die Techno-Fans – Fan kommt von Fanatiker; aber vielleicht paßt Techno-Zombies ja besser; oder es stimmt beides – auch nur einen Moment innehalten und an diejenigen denken, die mit der Entwicklung nicht mithalten können: Rentner, die die digitalen Medien, und bewegungseingeschränkte Mitbürger, die die automatischen Bezahlfunktionen, die an die Stelle der Kassiererinnen und Kassierer treten, nicht bedienen können. Und natürlich Leute wie ich, die gerne weiterhin die Wahl hätten, ein Offline-Leben zu führen.

Auch das ist eine Gefahr für die von Arendt angesprochene gemeinsame öffentliche Welt, zu der nur noch die allzeit innovationsbereiten und anpassungswilligen und -fähigen Mitbürger Zugang haben werden. Denn eines ist gewiß: diese Welt, in die wir hineingeboren wurden und die es vor uns schon gab, wird es nach uns nicht mehr geben.