„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 18. Mai 2022

Wahrheit und Lüge

Gestern verlief der größere Teil der Talkshow von Markus Lanz wieder wie üblich. Lanz nahm seinen Gast, diesmal den SPD-Vorsitzenden Klingbeil, in die Mangel, wegen seiner zum NRW-Wahlausgang versuchten Umdeutung der SPD-Niederlage in einen Sieg. Ich hatte mal mit einem Freund über die Talkshow gesprochen und meine Wertschätzung zum Ausdruck gebracht. Mein Freund meinte nur lapidar, er schätze es gar nicht, wie Lanz in seine Gäste ‚reinkriecht‘. Inzwischen muß ich ihm Recht geben.

Wiedermal versuchte Lanz seinen Gast zu moralisieren. Es ginge ihm, also Lanz, um „Wahrheit“ und „Ehrlichkeit“ in der Politik. Glücklicherweise machten seine anderen Gäste diesmal nicht mit. Sie blieben gegenüber Lanzens moralischen Attacken auf Klingbeil reserviert. Harald Welzer brachte es gut auf den Punkt. Er sei es leid, wie in der Politik über Politik und damit an den Wählerinnen und Wählern vorbei geredet werde. Welzer meinte damit eine ‚Politisierung‘ von Politik, wie sie Lanz in diesem Teil seiner Sendung  praktiziert – bevor er zu inhaltlichen Themen übergeht. Er meinte eine Meta-Politik, in der nicht mehr über Inhalte geredet, sondern sich nur noch über ‚Werte‘ moralisch erregt wird.

Hannah Arendt hat das viel nüchterner gesehen. (Vgl. „Wahrheit und Lüge in der Politik“ (2013/1972)) Ihrer Ansicht nach hat Wahrheit mit Politik überhaupt nichts zu tun. In der Politik geht es nicht um Wahrheit, sondern um gemeinsames Handeln. Dazu müssen sich die Menschen als Gleiche anerkennen. Und dazu gehört wiederum, daß wir in unseren politischen Entscheidungen immer die Standpunkte möglichst aller anderen Beteiligten mitbedenken müssen. Das ist Arendt zufolge der Kern der Gleichheit, und sie nennt das „Urteilskraft“. Urteilskraft ist nicht einfach, eine eigene Meinung zu haben, sondern die Meinung der anderen mit einzubeziehen. So wird die Urteilskraft zu einer handlungsentscheidenden politischen Größe.

Zu glauben, man sei im Besitz der Wahrheit, kann da nur kontraproduktiv sein. Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, ist nicht mehr Gleicher unter Gleichen, sondern hat schon alle anderen als ungleich abgewertet. Und seine Urteilskraft außer Kraft gesetzt.

Lüge ist hingegen nicht das Gegenteil der Wahrheit, sondern ein grundlegendes Merkmal der menschlichen Freiheit, die Dinge anders zu sehen als sie sind. Nur so können wir die Dinge verändern. Die Lüge ist Teil unseres Möglichkeitssinns. Und weil es in der Politik genau darum geht, die Dinge zu verändern, sei die Lüge eine der Politik verwandte menschliche Grundfähigkeit.

Das setzt die Wahrheit als Korrektiv der Lüge (und auch der Politik) nicht außer Kraft. Im Gegenteil gehe es, so Arendt, mit der „Idee der Wahrheit“ „um den Bestand der Welt“. (Vgl. Arendt 2013/1972, S.46) Denn die Wahrheit besteht in der Wirklichkeit einer Welt, die, gleichgültig wie sehr wir Menschen diese Welt ‚gemacht‘ haben, unabhängig von uns existiert. Die Wahrheit hat ihren Grund darin, daß die Menschen die Welt zwar ‚machen‘, sie aber nicht ‚kontrollieren‘.

Es gibt ‚Fakten‘, die wir Menschen nicht einfach aus der Welt schaffen können; nicht mal dann, wenn wir sie leugnen. ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘ hängen nun eng damit zusammen, wie wir mit den Fakten umgehen. Nicht die Fakten als solche stehen für Wahrheit. Sie müssen erst eine Bedeutung für den Menschen bekommen, um als wahr oder falsch gelten zu können. Eine Bedeutung geben wir ihnen, wenn wir sie in eine Geschichte einbauen, die wir über sie erzählen. Im Rahmen dieser Geschichte erweist sich unsere Perspektive auf die Fakten als wahr oder falsch. Deshalb ist die Welt wie sie ist, als Wirklichkeit, nie einfach nur ein Fakt oder, wie Wittgenstein behauptet, alles, was der Fall ist, sondern eine Erzählung.

Diese Erzählung könnte, bei gleicher Faktenlage, möglicherweise anders sein. Und „Wahrheit“ steht dann für „das, was der Mensch nicht ändern kann“: „(M)etaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.“ (Arendt 2013/1972, S.92)

Ebendeshalb ist die Wahrheit keine politische Größe. Sie ist zu groß für Politik. In der Politik geht es um gemeinsames Handeln. Nicht um Wahrheit.

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