„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 8. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Es sind vor allem zwei Entwicklungsebenen, die Markus Gabriel thematisiert:
„Der Mensch hat zwei Komponenten, die sich allerdings gegenseitig beeinflussen und deswegen nicht etwa, wie der Dualismus meint, auf zwei abgetrennte Wirklichkeitsbereiche verteilt werden.“ (Gabriel 2018, S.312) 
Bei den zwei Komponenten handelt es sich um die biologische und um die soziale Entwicklungsebene, die laut Zitat einen einheitlichen Wirklichkeitsbereich bilden, wobei die soziale Komponente, wie Gabriel auf der nächsten Seite schreibt, festlegt, wer oder was der Mensch sein soll. (Vgl. Gabriel 2018, S.313)

Es gibt eine Textstelle, wo er sich umfassender zu den Entwicklungsebenen äußert, aus denen der heutige Mensch hervorgeht. Dort heißt es, daß wir die biologische „Grundausstattung sinnlicher Vermögen“ „niemals vollständig kartografieren können“:
„Denn sie ist untrennbar mit unserer ökologischen Nische und letztlich mit unüberschaubar vielen Überlebensbedingungen vernetzt, die sich in Jahrmillionen der Evolution von Arten und ihrer Interaktion mit der unter anderem durch ihre Lebensvollzüge generierten Atmosphäre auf unserem Planeten entwickelt haben. Hinzu kommen die uns nur teilweise bekannte Rolle, welche die kosmische Strahlung für die Evolution spielt (sie greift, wie wir heute wissen, in biologische Vorgänge auf unserem Planeten ein), die geologischen Phänomene, die unsere Atmosphäre mit beeinflussen, und heute besonders der von Menschen mit angetriebene Klimawandel.“ (Gabriel 2018, S.309)
Neben der biologischen Entwicklungsebene werden hier drei weitere Entwicklungsebenen aufgezählt: die Geologie, die Kosmologie und das Anthropozän. Das Anthropozän könnte man auch als Produkt einer im engeren Sinne technologischen Entwicklungsebene bezeichnen. Zwei Entwicklungsebenen werden in dieser Zusammenstellung nicht erwähnt: die soziale und die individuelle. Es gibt allerdings eine andere Stelle, wo Gabriel auch die individuelle Entwicklungsebene, die Ontogenese anspricht, wenn auch nur negativ als sozial nicht integrierbare, asoziale Entwicklungskomponente:
„Den Unterschied zwischen sozialer Personalität und nicht sozialer Individualität kann man prinzipiell nicht vollständig überbrücken. Daraus ergibt sich eine Spannung, die sich gesellschaftlich in verschiedenen Teilbereichen auswirkt. Diese Spannung besteht darin, dass es zur Struktur sozialer Systeme gehört, dass sie Individualität nicht erfassen können. ... Unsere vergesellschaftete Seite streitet mit der nicht sozialen Komponente.“ (Gabriel 2018, S.186)
Von diesem Antagonismus zwischen Sozialität und Individualität führt bei Gabriel kein Weg zur Anerkennung einer eigenständigen individuellen Entwicklungsebene. Das zeigt sich besonders deutlich an Gabriels Begriff der Narrativität. Er interpretiert die Geschichtlichkeit des Menschen narrativ: Geschichte haben bedeutet, Geschichten zu erzählen. (Vgl. Gabriel 2018, S.310f.) Allerdings sind es hier nicht die Individuen, die sich gegenseitig Geschichten erzählen und sich auf diese Weise individualisieren. Vielmehr haben wir es bei der menschlichen Kulturgeschichte mit „dichten Netze(n) des Erzählens“ zu tun, in die der Mensch „verwoben“ ist. Der Mensch ist ein „Geschichtenerzähler“, der seinen Geschichten „niemals entkommen“ kann. (Vgl. Gabriel 2018, S.311)

Narrativität hat also bei Gabriel nichts befreiendes. Wir haben es hier vielmehr mit einem dichten Netz zu tun, ähnlich dem Internet, dem wir als Individuen nicht entkommen können. Tatsächlich ist das auch gut so; denn Individualität stört bei der sozialen Integration des Menschen.

Das ist so ungefähr das Bild, das Gabriel von der individuellen Entwicklungsebene zeichnet. Worauf es ankommt, ist das Verhältnis zwischen biologischer und sozialer Entwicklungsebene. Dann gibt es noch einige andere Entwicklungsebenen, die ebenfalls mit der Entwicklung des Menschen zusammenhängen. Die individuelle Entwicklungsebene hingegen bedarf der domestizierenden Narration.

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Sonntag, 7. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Wenn Markus Gabriel der menschlichen Intelligenz bescheinigt, ein „Regelsystem zur Datenverarbeitung“ zu sein (vgl. Gabriel 2018, S.118), und sogar postuliert, daß sie in einem eigentlicheren Sinne als „künstliche“ Intelligenz bezeichnet werden müsse als die Rechenmaschinen der KI-Forscher, die er im Unterschied zur menschlichen Intelligenz als K.K.I. (künstliche künstliche Intelligenz) bezeichnet (vgl. Gabriel2018, S.312), dann frage ich mich, ob das vielleicht am Gebrauch des Intelligenzbegriffs selbst liegt. Ich mag diesen Begriff nicht, der einerseits ein Moment des tierischen und des menschlichen Bewußtseins bilden soll, aber zugleich mit einer Meßbarkeitsillusion im Sinn des IQ, des Intelligenzquotienten einhergeht.

Mit dieser Meßbarkeitsillusion ist die Machbarkeitsillusion eng verknüpft: was man messen kann, kann man auch machen. Und schon wird die Intelligenz zu einem Artefakt.

So etwas würde beim Begriff des Bewußtseins nicht so schnell passieren. Der Bewußtseinsbegriff beinhaltet zwei Komponenten, ohne die ein menschliches Bewußtsein nicht denkbar ist: eine transzendentale Komponente und eine phänomenale Komponente. Beides läßt den Gedanken, das Bewußtsein künstlich herstellen zu können, als abwegig erscheinen. Bei der transzendentalen Komponente handelt es sich um das „Ich denke“, von dem Immanuel Kant sagt, daß es alle unsere Wahrnehmungen begleiten muß, damit sie uns bewußt werden können. Ich nehme also nicht einfach nur etwas wahr, sondern ich denke bzw. ich weiß, daß ich etwas wahrnehme.

Diese transzendentale Komponente hat im Sinne des kartesianischen „cogito“ zugleich die Qualität einer Seinsgewißheit. Gabriel bezeichnet diese Seinsgewißheit als „intrinsische Existenz“:
„Die intrinsische Existenz besteht darin, dass etwas von sich selber weiß, dass es existiert.“ (Gabriel 2018, S.214)
Damit kommen wir auch schon zum phänomenalen Moment. Die innere Selbstgewißheit, als die das Bewußtsein zu verstehen ist, ist nicht einfach nur intellektueller Art. Die transzendentale Apperzeption gäbe es nicht ohne das subjektive Erleben, also ohne die Gefühlszustände, die mit allen sinnlichen und geistigen Vollzügen und Akten einhergehen und die Gabriel seltsamerweise als „Nichtgedanken“ bezeichnet, so als hätten sie mit dem eigentlichen Denken nichts zu tun. (Vgl. Gabriel 2018, S.304 und S.308) Es gibt eine der transzendentalen Apperzeption entsprechende pathische Apperzeption.

Dabei macht Gabriel selbst auf die Bedeutung des phänomenalen Bewußtseins für die Philosophie aufmerksam. (Vgl. Gabriel 2018, S.218) Die Intentionalität, ein phänomenologischer Grundbegriff, ist, wie Gabriel schreibt, die orientierende Kraft des Denksinns:
„Intentionalität ist in der gegenwärtigen Philosophie der Name für die Ausrichtung unserer Gedanken auf Gegenstände“; und Gabriel fügt hinzu, daß „die Intentionalitätstheorie“, also die Phänomenologie, „sich überwiegend für Gedanken über Nichtgedanken interessiert“. (Vgl. Gabriel 2018, S.304)
Die ‚Intentionalitätstheoretiker‘, ein etwas umständlicher Ausdruck für ‚Phänomenologen‘, befassen sich also mit einem Gegenstand, der für das Denken einerseits enorm wichtig ist, der aber andererseits, so Gabriel, für die „Denker von Gedanken partiell unbekannt“ ist. (Vgl. Gabriel 2018, S.304) Darin sieht Gabriel seltsamerweise eine Gefahr, vor der er meint, warnen zu müssen:
„Wer das Denken auf das Nachdenken über Nichtgedanken reduziert, verfängt sich in der Logik des Unbewussten.“ (Gabriel 2018, S.306)
Es ist mir schleierhaft, wieso Gabriel meint, ausgerechnet vor dem „Nachdenken über Nichtgedanken“ warnen zu müssen. Liegt die größere Gefahr denn nicht im Gegenteil darin, das Denken auf ein Nachdenken über das Nachdenken, also auf reines Denken zu reduzieren? Müssen wir unsere Aufmerksamkeit nicht gerade wieder der intrinsischen Existenz, dem subjektiven Erleben zuwenden, um den Gefahren, die dem menschlichen Bewußtsein von der künstlichen Intelligenz drohen, zu begegnen?

Trotz aller Kritik an der KI-Forschung: Gabriel hat seine Entscheidung getroffen. Er bedient sich des Intelligenzbegriffs, weil auch er in den Kategorien dieses Forschungsbereichs denkt.

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Samstag, 6. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Mit Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ (1921) setzte eine das ganze 20. Jhdt. prägende Bewegung ein, die als „linguistische Wende“ bezeichnet wurde und insbesondere im angelsächsischen Sprachraum die Denkschule der analytischen Philosophie bzw. der Sprachanalytik begründete:
„Die linguistische Wende ist die Umstellung von der Untersuchung des Wirklichen auf die Untersuchung unserer sprachlichen Werkzeuge zur Untersuchung des Wirklichen.“ (Gabriel 2018, S.42)
Die grundlegende These dieser Denkschule bestand und besteht darin, daß das menschliche Denken vollumfänglich von der Sprache bestimmt sei und daß es so etwas wie ein vorsprachliches Denken nicht gebe. Gabriel hält das „von vorne bis hinten für falsch“:
„Auch andere Lebewesen verfügen über Sprache, und es ist abwegig, davon auszugehen, das Denken sei ein Vorrecht des Menschen. Das leuchtet nur ein, wenn man bestimmte Formen des Denkens mit dem Denken selber identifiziert.“ (Gabriel 2018, S.42)
Letztlich ist die sprachanalytische Philosophie in ihrer Denkweise eng verwandt mit dem Konstruktivismus. Wenn nämlich das menschliche Denken auf Sprache beschränkt ist, dann liegt es nahe, die ganze menschliche Wahrnehmung im Sinne des kartesianischen „cogito“ auf die Fähigkeit zu sprechen zu begrenzen. Letztlich ist also die Wirklichkeit nichts anderes als die Art und Weise, wie wir über sie sprechen. Kurz: die Wirklichkeit, einschließlich der Wirklichkeit des Denkens als Künstliche Intelligenz, ist eine Simulation. Gabriel hält dagegen, daß die angeblichen „Simulationen des Denkens ... ebenso wenig ein Denken (sind), wie eine Michelin-Karte Frankreichs identisch ist mit dem Gebiet, das sie abbildet ...“ (Vgl. Gabriel 2018, S.32) – Auch für den Konstruktivismus gilt also: „Der Konstruktivismus ist falsch.()“ (Gabriel 2018, S.64)

Wenn Gabriel aber meint, daß Wirklichkeit und Begriff des Denkens mehr umfassen als Sprache, dann kann sich das nur auf die Formen des ‚Denkens‘ beziehen, die wir gemeinhin mit der Intuition oder dem Unterbewußten gleichsetzen. Bei Tieren hätten wir es hier vor allem mit Instinkten zu tun, die auch uns Menschen nicht ganz fremd sind. Insgesamt haben wir es mit einer körperlichen Form des Denkens zu tun, der auf sprachlicher Ebene Metaphern und auf literarischer Ebene die Dichtung entsprechen.

Gabriel zeigt sich hier ambivalent. Mal hebt er hervor, daß wir es beim Denken vor allem mit ‚reinem‘ Denken zu tun haben: „Das reine Denken besteht darin, dass sich der Denkakt als solcher erfasst.“ (Gabriel 2018, S.308) – Das reine Denken ist das logische Denken, und dieses Denken ist rein formal, weit entfernt von körperleiblichen Einflüssen; denn reines Denken besteht darin, „dass wir uns nicht mit Nichtgedanken, sondern mit der Form des Denkens selbst beschäftigen“. (Vgl. ebenda)

Was aber sind diese „Nichtgedanken“? Es besteht im subjektiven Erleben, also in dem, was wir als vorsprachliches Denken bezeichnen würden; und mit dem soll sich vor allem die Psychologie befassen, nicht aber die Philosophie. (Vgl. Gabriel 2018, S.304 und S.306)

Ganz im Gegensatz dazu heißt es aber an anderer Stelle über die Dichtung:
„Dichtung ist keine Praxis der Unschärfe, sondern häufig umgekehrt der Versuch, Gedanken darzustellen, die bisher ungesagt geblieben sind.“ (Gabriel 2018, S.278)
Was „bisher ungesagt geblieben ist“, ist das, was im im engeren Sinne Begrifflichen, dem rein Logischen nicht aufgeht und das Hans Blumenberg als das Unbegriffliche bezeichnet. Für dieses Unbegriffliche sind die Metaphern zuständig, die eine Vorform der Begriffssprache bilden und die Intuitionen aufgreifen, die der Begriffssprache entgehen:
„Um einen neuen Gedanken zu artikulieren, ist es in der Geschichte des Denkens unumgänglich, dass neue Ausdrücke geprägt werden, die ursprünglich Metaphern, das heißt Brücken zwischen Gedanken und Sätzen sind.“ (Gabriel 2018, S.278)
Das Denken, auch das im engeren Sinne philosophische Denken, ist also doch nicht so ‚rein‘, wie Gabriel uns glauben machen will. Die sogenannten ‚Nichtgedanken‘ lassen sich von den explizit gemachten, versprachlichten Gedanken nicht so einfach trennen.

Die Ambivalenz von Gabriels Ablehnung des Konstruktivismusses einerseits und seinem eigenen Denkformalismus andererseits wird besonders an der Stelle deutlich, wo er den animalischen bzw. biologischen Anteil des menschlichen Denkens als eine Form der Informationsverarbeitung beschreibt. Das zeigt sich zunächst implizit an folgender Analogie:
„Die Informationsverarbeitung in nicht biologischen Rechenmaschinen läuft ohne Bewusstsein ab, was sie fundamental vom menschlichen Verstehen unterscheidet.“ (Gabriel 2018, S.98)
Diesen Satz kann man auf verschiedene Weise verstehen. Zunächst einmal bezeichnet Gabriel Computer als „nicht biologische() Rechenmaschinen“. Meint er damit, daß Lebewesen wie Tiere und Menschen keine Rechenmaschinen sind, oder meint er damit, daß Computer nicht-biologische Rechenmaschinen sind, während Menschen biologische Rechenmaschinen sind? – Desweiteren hält Gabriel fest, daß die Informationsverarbeitung in nicht-biologischen Rechenmaschinen „ohne Bewusstsein“ abläuft. Meint er damit, daß die Informationsverarbeitung deshalb ein ausschließliches Merkmal von Rechenmaschinen ist und nichts mit Tieren und Menschen zu tun hat, oder meint er damit, daß die Informationsverarbeitung in Rechenmaschinen ohne Bewußtsein und, vielleicht nicht bei Tieren, aber doch zumindestens bei Menschen bewußt abläuft?

Beide Deutungsweisen sind möglich. Wenn man andere Textstellen hinzunimmt, in denen Gabriel dem Menschen bescheinigt,
  • eine künstliche Intelligenz zu sein, die ein „Regelsystem zur Datenverarbeitung“ bildet (vgl. Gabriel 2018, S.118f.; zur künstlichen Intelligenz vgl. auch S.19f. und S.310),
  • daß wir unsere Umwelt nicht einfach wahrnehmen, sondern „scannen“ (vgl. Gabriel 2018, S.35),
  • daß wir über unsere Sinnesorgane nicht Reize, sondern „Daten“ empfangen, ohne sie auf dieser Ebene schon bewußt zu „verarbeiten“ (vgl. Gabriel 2018, S.40), 
  • und wenn man bedenkt, daß Gabriel keine Probleme damit hat, Gedanken mit Informationen gleichzusetzen (vgl. Gabriel 2018, S.84f. und S.133),
dann ist es nicht so abwegig, anzunehmen, daß Gabriel nicht nur die bewußte menschliche Intelligenz, sondern auch vorsprachliche Intuitionen als eine Form von Informationsverarbeitung versteht.

Freitag, 5. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Im letzten Blogpost war schon von Intentionalität die Rede gewesen. Dort hatte es geheißen, daß die Intentionalität die Gedanken auf Gegenstände ausrichtet. (Vgl. Gabriel 2018, S.304) Dabei muß man auf Gabriels besonderen Gebrauch der Begriffe „Inhalt“ und „Gegenstand“ achten:
„Der Gegenstand eines Gedankens ist dasjenige, wovon der Gedanke handelt. Der Inhalt eines Gedankens ist dagegen die Art und Weise, wie der Gedanke von seinem Gegenstand handelt (als was beziehungsweise wie einem Denker sein Gegenstand erscheint).“ (Gabriel 2018, S.39)
Ich selbst spreche immer, in Anlehnung an Fritz Mauthner, von der Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen. (Vgl. meinen Blogpost vom 23.10.2013) Dabei verzichte ich auf den Begriff des Objekts und verwende stattdessen den Begriff des Prädikats, der dem Gabrielschen Begriff des Inhalts entspricht, also die „Art und Weise“ meint, wie ein Satz bzw. ein Gedanke – ich spreche fortan einfachheitshalber nur noch von Sätzen – „von seinem Gegenstand handelt“. Beim Gegenstand handelt es sich um ein dem Satz transzendentes, wirkliches Objekt, auf das der Satz nur verweisen kann. Dieses Realobjekt können wir mit Mauthner auch als das eigentliche Subjekt des Satzes bezeichnen, das nicht mit dem grammatischen Subjekt identisch sein muß. Nennen wir das grammatische Subjekt deshalb ‚S‘ und das Realobjekt ‚S'‘.

Mit dieser S/P-Struktur, also der Unterscheidung von Prädikat und Objekt und von S und S', versuche ich dem Umstand gerecht zu werden, daß Sätze von wirklichen Gegenständen handeln, aber nicht mit diesen wirklichen Gegenständen identisch sind. Sätze spiegeln auf diese Weise die Struktur unserer Intentionalität:
„Dass Gedanken und Sätze von etwas handeln, das in der Wirklichkeit vorkommt, ist die Eigenschaft der Intentionalität.“ (Gabriel 2018, S.100)
In der Philosophie, so Gabriel, wird der „Inhalt des Denkens“ als „etwas als etwas“ gefaßt. Nichts anderes sind Gedanken: „etwas als etwas“, also Prädikate. Nun macht Gabriel, nicht zum ersten Mal, wie wir in den vorangegangenen Blogposts gesehen haben, etwas Seltsames. Er bezeichnet die Subjekt-Objekt-Spaltung als einen „Grundirrtum der neuzeitlichen Erkenntnistheorie“, mit dem er in seinem Buch „Der Sinn des Denkens“ aufräumen will:
„Diese besteht in der falschen Auffassung, dass wir als denkende Subjekte einer Wirklichkeit gegenüberstehen, in die wir nicht eingepasst sind. ... Wir stehen als denkende und wahrnehmende Lebewesen aber nicht einer von uns abgetrennten Wirklichkeit gegenüber. Subjekt und Objekt sind nicht entgegengesetzte Teile eines übergeordneten Ganzen. Vielmehr sind wir Teil der Wirklichkeit, und unsere Sinne sind Medien, die Kontakt herstellen zwischen Wirklichem, das wir selber sind, und Wirklichem, das wir nicht selber sind.“ (Gabriel 2018, S.29f.)
Die „Subjekt-Objekt-Spaltung“ besteht also in der „falschen Auffassung“, daß wir nicht Teil der Wirklichkeit sind. Richtig ist hingegen, daß wir Teil der Wirklichkeit sind, weil unsere Sinne „Medien“ sind und, wie es im Folgesatz heißt, „Schnittstelle(n)“ zwischen uns und der Wirklichkeit bilden.

Abgesehen von der technologischen Ausdrucksweise, mit der Gabriel eine Analogie zwischen Mensch und Computer zieht, haben wir es hier mit einem ziemlichen Durcheinander zu tun: wir sind also Teil der Wirklichkeit, und unsere Sinnesorgane bilden Schnittstellen zwischen uns und der Wirklichkeit? Entweder sind wir Teil der Wirklichkeit oder nicht. Die Redeweise von Schnittstellen hilft uns hier nicht weiter, da sie nur darauf hinweist, daß wir es hier mit zwei disparaten Wirklichkeitsbereichen zu tun haben: einem Wirklichen, das wir selbst sind, und einem anderen Wirklichen uns gegenüber.

Damit wird das Problem deutlich: indem Gabriel zweierlei Wirkliches behauptet, stellt er sie einander gegenüber, wie Subjekt und Objekt, ohne daß sie allerdings als in Subjekt und Objekt gespaltene Wirklichkeit aufgefaßt werden sollen. Stattdessen soll das eine Wirkliche, nämlich wir selbst, zugleich mit dem anderen Wirklichen uns gegenüber Teil einer umfassenden, über ominöse Schnittstellen miteinander verbundenen Wirklichkeit sein. Es ist offensichtlich daß wir es hier mit der Plessnerschen Doppelaspektivität von Innen und Außen zu tun haben, wobei die Schnittstellen die Funktion der exzentrischen Positionalität, also des auf der Grenze zwischen Innen und Außen positionierten Subjekts übernehmen.

Tatsächlich ist die Subjekt-Objekt-‚Spaltung‘ kein verhängnisvoller erkenntnistheoretischer Grundirrtum, sondern sie bildet ein zentrales Moment der Anthropologie. Der Mensch hat eine Welt! Und diese Welt ist ihm zugleich innerlich und äußerlich. Diese Doppelaspektivität bildet ein Strukturmerkmal seiner Intentionalität und spiegelt sich in der S/P-Struktur von Sätzen und Gedanken: in der Differenz von Satzsubjekt und wirklichem Subjekt und in der Differenz von Prädikat und Objekt.

Genau deshalb ist die Philosophie auch nicht, anders als Gabriel meint, „noch allgemeiner als die Mathematik“. (Vgl. Gabriel 2018, S.12) Und die Mathematik ist auch keine Sprachform. (Vgl. ebenda) Die Mathematik mag eine Denkform sein; dieses Attribut kann man ihr nicht streitig machen. Aber als Denkform ist sie nicht welthaltig. Sie ist genau das Denken, das sich selbst denkt, von dem Gabriel fälschlicherweise meint, daß das die Philosophie sei. (Vgl. Gabriel 2018, S.308) Denn hinsichtlich der Mathematik stimmt der Satz, daß es die Welt nicht gibt, und zwar weil sie keine S/P-Struktur hat. Die Mathematik prädiziert nicht. Sie meint immer nur sich selbst.

Nehmen wir als Beispiel eine einfache Formel: „2+2=4“. (Vgl. Gabriel 2018, S.278) – Die Formel „Zwei plus zwei ist vier“ ist kein Satz, weil sie keine S/P-Struktur hat: „Zwei plus zwei“ ist kein Subjekt und „vier“ ist kein Prädikat! Nur die Ziffern selbst haben eine gewisse Welthaltigkeit, da sie Mengenverhältnisse bezeichnen. Der Weltbezug ist allerdings völlig beliebig und kann in Äpfeln, Birnen oder Einhörnern bestehen. Was ist aber mit den negativen, den irrationalen oder den imaginären Zahlen? Erst als Erwin Schrödinger auf die Idee kam, die imaginären Zahlen auf die Wellenfunktion zu beziehen, bekamen sie einen gegenständlichen Sinn. Aber dieser Sinn ist ihnen ursprünglich nicht zueigen gewesen. Ich habe deshalb den Verdacht, daß die Mathematik gerade aufgrund ihrer konstitutiven Weltlosigkeit so vielseitig anwendbar ist.

Das gilt übrigens auch für Informationen. Gedanken sind, anders als Gabriel meint (vgl. Gabriel S.84ff., 133), keine Informationen. Denn Informationen haben keine Inhalte. Und Informationen haben deshalb keine Inhalte, weil sie mathematische Konstrukte sind. Um sie für informationsverarbeitende Maschinen tauglich zu machen, müssen sie meßbar sein. Sie werden deshalb in Bits zerlegt, kleinste Informationseinheiten, die nichts anderes transportieren als die maschinelle Anweisung ‚Ja‘ oder ‚Nein‘, also das Öffnen oder Schließen eines Stromkreises:
„Wir kennen alle die Maßeinheit ‚Bit‘, die wir der Informatik verdanken. Bits messen Informationen, indem sie Gedanken in einfache Fragen und Antworten zerlegen. Ein Bit ist eine binary digit, eine binäre Einheit. Ein Code ist binär, sofern wir uns zwei Einstellungen vorstellen können, die einem ‚An‘ (1) beziehungsweise ‚Aus‘ (0) eines Schalters entsprechen.“ (Gabriel 2018, S.94)
Wieviel Bits enthält also ein Wort wie „Wahrheit“? Oder „Fingernagel“? Welche Kombination aus „Ja“ und „Nein“, aus „an“ und „aus“‚ informiert mich darüber, ob das, was ich tue oder sage, Sinn macht?

Informationen sind also völlig weltlos. Sie haben keine S/P-Struktur. Maschinen brauchen nicht zu verstehen, was sie tun, wenn sie mit ihnen arbeiten. Nur deshalb können Maschinen Informationen verarbeiten.

Deshalb ist Gabriels Feststellung, daß das „digitale Zeitalter“ in der „Herrschaft der Logik über das menschliche Denken“ besteht (vgl. Gabriel 2018, S.145), gleichermaßen richtig wie fatal. Logik ist zwar ein Instrument des Denkens, aber auch sie denkt letztlich nur sich selbst. Die Logik ist sich selbst vollkommen transparent, was das menschliche Denken nicht ist. Denken ist im wesentlichen intuitiv, worauf Gabriel selbst immer wieder hinweist, wenn er schreibt, daß wir Gedanken nicht produzieren, sondern rezipieren (vgl. Gabriel 2018, S.39), oder daß Denkvorgänge „unscharfe Suchprozesse“ bilden (vgl. Gabriel 2018, S.303). Gabriel hält sogar ausdrücklich fest, „dass unsere Gedanken ihr eigenes Zustandekommen niemals vollständig durchschauen“. (Vgl. Gabriel 2018, S.305)

Gedanken sind also nicht logisch, denn die Logik ist vollkommen transparent. Wenn also im „digitalen Zeitalter“ die Logik der Informationsverarbeitung die Herrschaft über das Denken übernommen hat, bedeutet das nichts anderes, als daß wir in ein Zeitalter eingetreten sind, in dem wir aufgehört haben zu denken.

Ich habe hier einfachheitshalber hauptsächlich von Sätzen gesprochen. Sätze sind gegliederte Gedanken, während es sich bei einzelnen Wörtern um einfache, ungegliederte Gedanken handelt. Daß es auch ein vorsprachliches Denken gibt, ist Thema des folgenden Blogposts.

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Donnerstag, 4. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Gabriel will das Denken wieder versinnlichen: „Denken ist etwas Sinnliches (im besten Fall also Vergnügliches) und keine Gewaltübung, in der man sich kreative Gedankengänge verbietet.“ (Gabriel 2018, S.12) – Deshalb spricht er vom Denken als einem biologischen Sinn wie „Sehen, Hören, Fühlen, Tasten oder Schmecken“. (Vgl. Gabriel 2018, S.18)

Das ist einerseits erfreulich und erinnert an Plessners Körperleib. Aber es hat auch etwas Bedenkliches: wenn das Denken ein biologischer Sinn sein soll, fragt man sich gleich nach dem Sinnesorgan. Welches Organ käme dafür in Frage? Natürlich das Gehirn. Und schon wird das Gehirn zu einem Mechanismus, der denkt. Und nicht genug damit stellt sich natürlich auch gleich die Frage nach dem Code, dem Algorithmus, mit dessen Hilfe das Sinnesorgan ‚Gehirn‘ die Signale, die es empfängt, in Gedanken umwandelt. Die Suche nach dem Homunkulus kann beginnen.

Genau das will Gabriel eigentlich nicht. Das Bewußtsein, so hält Gabriel mit dem Neurowissenschaftler Giuli Tononi fest, läßt sich nicht „über das Gehirn oder irgendein anderes komplexes System () erklären“. (Vgl. Gabriel 2018, S.213f.) Und was für das Bewußtsein gilt, das gilt doch wohl auch für das Denken?

An anderer Stelle wird Gabriel noch deutlicher:
„Ein heute grassierendes Beispiel für einen besonders schlechten Reduktionismus ist dasjenige, was ich in ‚Ich ist nicht Gehirn‘ als ‚Neurozentrismus‘ bezeichnet habe, das heißt hier die Identifikation von Denk- und Hirnvorgängen.“ (Gabriel 2018, S.282)
Genau das impliziert aber Gabriels Redeweise vom Denksinn als biologischem Sinnesorgan: die Identifikation von Denkvorgängen mit einem Organ, naheliegenderweise also mit dem Gehirn.

Aber „Denksinn“ soll noch etwas anderes bedeuten:
„Gleichzeitig plädiere ich aber auch dafür, dem Denken einen neuen Sinn, eine Richtung zur Orientierung in unserer Zeit zu geben, da es – wie eh und je – von vielfältigen ideologischen Strömungen und zugehöriger Propaganda in Unruhe versetzt wird.“ (Gabriel 2018, S.18)
Gabriel denkt hier nicht nur an Ideologiekritik. Es geht um etwas grundlegenderes: er verknüpft diese Orientierung gebende Leistung des Denksinns mit dem phänomenologischen Begriff der Intentionalität. „Intentionalität“ ist, so Gabriel, „in der gegenwärtigen Philosophie der Name für die Ausrichtung unserer Gedanken auf Gegenstände“. (Vgl. Gabriel 2018, S.304) Der Denksinn richtet uns also auf Gegenstände aus, mit denen wir uns dann gedanklich auseinandersetzen. Oder anders ausgedrückt: dem Denksinn fällt etwas ein, und dann denken wir über das, was uns eingefallen ist, nach. (Vgl. Gabriel 2018, S.301)

Der Denksinn wäre also ein anderes Wort für ‚Intuition‘. Dann wäre die Gleichsetzung des Denksinns mit einem ‚Sinnesorgan‘ eine Metapher dafür, daß wir es beim Denken mit einer Art Wahrnehmung zu tun haben, die ähnlich sensibel auf Gedanken reagiert wie unsere biologischen Sinnesorgane auf Geräusche, Gerüche und Lichtreize.

Aber für Gabriel ist die Biologie nicht nur eine Analogie. Es ist ihm ernst damit, daß „denken wesentlich biologisch“ ist. (Vgl. Gabriel 2018, S.198) Und dann doch wieder nicht; denn an anderer Stelle heißt es:
„Unsere menschliche Intelligenz ist nicht durch und durch biologisch, obwohl es sie nicht gäbe, wenn wir keine Lebewesen wären.“ (Gabriel 2018, S.310)
Wenn wir davon ausgehen, daß ‚Intelligenz‘ wesentlich etwas mit ‚denken‘ zu tun hat und Intelligenz „nicht durch und durch biologisch“ ist, dann kann Denken auch nicht wesentlich biologisch sein. Was mich bei diesen Begrifflichkeiten stört, ist, daß Gabriel nirgends definiert, in welchem Verhältnis Intelligenz und Denken und Bewußtsein zueinander stehen.

Doch zurück zum Denksinn: der Denksinn ist Gabriel zufolge nicht nur ein (biologisches) Sinnesorgan und ein geistiger Orientierungssinn, sondern noch etwas Drittes, nämlich ein „Gemeinsinn“. Das paßt zu seiner Orientierungsfunktion, denn der Denksinn ist nicht nur ein Sinn unter Sinnen, sondern er steht zugleich über allen anderen Sinnen und fügt sie zur Einheit einer Wahrnehmung zusammen: ich rieche tierische Ausdünstungen, ich höre etwas flattern und gackern und ich sehe etwas in mein Blickfeld huschen. Und was ich wahrnehme ist ein Huhn. Ich empfange nicht einfach einzelne Reize, die meine Sinne bombardieren, sondern ich habe eine Gestaltwahrnehmung:
„Deshalb lautet Aristoteles’ Lösungsvorschlag, dass wir einen Gemeinsinn haben, den er in Verbindung mit dem Denken (noein) beziehungsweise der Einbildungskraft (phantasia) bringt.() Der entscheidende Gedanke lautet dabei, dass die Wahrnehmung deswegen imstande ist, sich ihrer selbst bewusst zu werden ...“ (Gabriel 2018, S.55)
Interessant ist an dieser Textstelle, daß der Gemeinsinn hier nicht nur mit dem Bindungsproblem in Zusammenhang gebracht wird, also mit dem Problem des Zusammenfügens von Einzelreizen zu einer Gestalt. Der Gemeinsinn hat zugleich eine bewußtseinsstiftende Funktion: seinetwegen ist die Wahrnehmung imstande, „sich ihrer selbst bewusst zu werden“. Gabriel drückt das an anderer Stelle so aus: „Dank unseres Denkens sind alle unsere Sinnesmodalitäten objektiv.“ (Gabriel 2018, S.88) – Wir sind intentional auf Objekte ausgerichtete Subjekte.

Der Gemeinsinn leistet also letztlich nichts anderes als Immanuel Kants transzendentale Apperzeption. Dank ihm sind wir in der Lage, allen unseren Wahrnehmungen ein „Ich denke“ hinzuzufügen und sie uns so bewußt zu machen. Das geht weit über bloße Gestaltwahrnehmung hinaus.

Kants Begriff der transzendentalen Apperzeption entspricht übrigens René Descartes’ „cogito“. So wie Kants „Ich denke“ uns unsere Wahrnehmungen allererst bewußt werden läßt, so begründet Descartes’ „cogito“ die Gewißheit unserer Existenz: Ich denke, also bin ich! Beides meint dasselbe: ich nehme wahr, also bin ich; ich denke, also bin ich.

Gabriel weist darauf hin, daß das kartesianische „cogito“ einen größeren Bedeutungsumfang hat als das Denken von Gedanken im engeren Sinne. Es umfaßt auch „sinnliche Vollzüge“, z.B. Wahrnehmungen und Gefühle:
„Für Descartes sind Empfinden (sentire) und Vorstellen (imaginari) ebenso wie Wollen (velle) Denkvorgänge.() Er reduziert das Denken gerade nicht auf das intelligere, also auf die Ausübung rein rationaler Berechnungsvorgänge.“ (Gabriel 2018, S.261)
Trotzdem hat es Descartes nicht so mit der körperlichen Sinnlichkeit. Der Körper ist für ihn nur eine Maschine und trägt nichts zum seiner selbst gewissen Bewußtsein, zum „cogito“ bei. Von einem biologischen Denksinn kann bei ihm keine Rede sein. Und auch Kant versteht die Apperzeption, also das „Ich denke“, transzendental, nicht empirisch. Helmuth Plessner hat seine eigene Lösung für dieses denkende Bewußtsein gefunden: es ist exzentrisch positioniert. Es ist weder ‚Körper‘ noch ‚Leib‘, weder außen noch innen. Es ist auf der Grenze zwischen beidem oder auch einfach nirgendwo. Damit meint Plessner, daß das exzentrisch positionierte Selbstbewußtsein ‚neutral‘ ist gegenüber den Dualismen, mit denen sich die Philosophie seit der Antike so herumplagt, also gegenüber Leib und Seele, Körper und Geist.

Mit diesem neutralen Nirgendwo hat Gabriel übrigens seine Probleme: es gibt „keinen Blick von Nirgendwo“, so Gabriel; es gibt „keine absolut standpunktfreie Objektivität“. Subjekte sind niemals neutral. (Vgl. Gabriel 2018, S.58f.)

Aber dies nur am Rande. Das eigentliche Problem liegt woanders: ist der Denksinn nun vor allem ein geistiges oder ein physisches Organ? Wenn er ein physisches Organ ist, kann er kein Gemeinsinn im aristotelischen Sinne sein. Wenn er ein geistiges Organ ist, kann er kein biologisches Sinnesorgan sein. Wir haben wieder ein Problem mit den üblichen Dualismen, die sich hier auftun.

Ähnlich wie Plessner will sich Gabriel nicht entscheiden. Er pendelt zwischen beiden Polen hin und her. Denn ungeachtet dessen, daß der Denksinn ein biologisches Sinnesorgan sein soll, soll er zugleich auch ein Organ sein, das für das Unendliche empfänglich ist, z.B. für Mathematik oder für die Quantentheorie:
„Wenn wir die Fähigkeit haben, mathematische Gegenstände wie Zahlen, geometrische Figuren, mehrdimensionale Räume und unendliche Mengen zu erkennen, kann unsere Erkenntnis nicht wie beim Empirismus insgesamt damit begründet werden, dass wir Reize vom Universum empfangen, die wir interpretieren. Denn die abstrakten Strukturen entstehen nicht durch unsere Interpretation, sondern zeigen vielmehr häufig auf, was wirklich der Fall ist.“ (Gabriel 2018, S.48)
Obwohl der Denksinn also ein biologisches Organ ist, soll er vor allem für „reines Denken“ zuständig sein. Gabriel bezeichnet das als seine „Nooskopthese“:
„Unser Denken ist demnach ein Sinn, mittels dessen wir das Unendliche ausspähen und unter anderem mathematisch darstellen können.“ (Gabriel 2018, S.197)
Der Denksinn, „unser Nooskop“, überschreitet „die körperliche Wirklichkeit und verbindet uns mit dem Unendlichen“. (Vgl. Gabriel 2018, S.29)

Trotz der beabsichtigten Versinnlichung des Denkens als Denksinn soll dieser Denksinn Gabriel zufolge also nichts mit unserer beschränkten Sinnlichkeit zu tun haben und sich ausschließlich auf das Unendliche richten. Er soll nicht mehr etwas denken, vor allem nicht etwas Sinnliches, sondern er soll als reines Denken das Unendliche denken; und er soll sich selber denken. (Vgl. Gabriel 2018, S.308) Mit anderen Worten: unser Denksinn soll sich nur noch mit Gedanken befassen, und nicht mit Nichtgedanken. Um die Nichtgedanken soll sich die Psychologie kümmern, aber nicht die Philosophie. (Vgl. Gabriel 2018, S.304 uns S.306) Das reine Denken ist nicht mehr intentional; es beschäftigt sich nur noch mit sich selbst.

Wie paßt das alles zusammen? Gabriel bleibt die Erklärung schuldig. Der Denksinn besteht aus lauter Widersprüchlichkeiten. Er macht keinen Sinn.

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Mittwoch, 3. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Der erste Band der Trilogie, zu der auch das von mir besprochene Buch „Der Sinn des Denkens“ gehört, trägt den Titel „Warum es die Welt nicht gibt“. Ich habe dieses Buch nicht gelesen, aber da Gabriel zufolge jedes Buch der Trilogie einen eigenständigen Charakter hat und auch ohne Kenntnis der anderen beiden Bände gelesen werden kann und der dritte Band Inhalte der ersten beiden Bände wiederholt (vgl. Gabriel 2018, S.15), kann ich mit einigem Recht aufgrund der Eigenständigkeit dieses Bandes von den darin enthaltenen Wiederholungen auf die vorangegangenen Bände zurückschließen. In welchem Sinne ist es also gemeint, wenn Gabriel apodiktisch festlegt, daß es die Welt nicht ‚gibt‘?

In „Der Sinn des Denkens“ heißt es dazu: „Der Neue Realismus behauptet, dass wir die Wirklichkeit so erkennen können, wie sie ist, ohne dass es genau eine Welt oder Wirklichkeit gibt, die alle Gegenstände oder Tatsachen umfasst, die es gibt.“ (Gabriel 2018, S.64) – An anderer Stelle heißt es ganz ähnlich: „Es gibt nicht die eine, allumfassende Wirklichkeit. Die Welt existiert gar nicht. Dafür habe ich an anderer Stelle ausführlich argumentiert.()“ (Gabriel 2018, S.222)

Aus diesen beiden Textstellen kann man zweierlei schließen: zum einen gibt es ‚die‘ Welt nicht, weil es viele verschiedene ‚Welten‘ gibt, die alle möglichen „Gegenstände oder Tatsachen“ umfassen, für die bloß eine Welt im Singular nicht ausreicht. Zweitens kann man aus den zitierten Textstellen schließen, daß die Begriffe „Welt“ und „Wirklichkeit“ Synonyme bilden. Beides ist problematisch und kann nicht einfach so hingenommen werden.

Was die Gleichsetzung von ‚Welt‘ und ‚Wirklichkeit‘ betrifft, ist es seltsam, daß es zwar die Welt nicht geben soll, die Wirklichkeit aber schon:
„Wirklichkeit ist der Umstand, dass es Gegenstände und Tatsachen gibt, über die wir uns täuschen können, weil sie nicht darin aufgehen, dass wir bestimmte Meinungen über sie haben.“ (Gabriel 2018, S.267)
Gabriel argumentiert immer wieder in diesem Sinne: Es gibt die Wirklichkeit, weil wir uns täuschen können und es immer wieder vorkommt, daß die Dinge anders sind, als wir denken. Diese These ist ihm so wichtig, weil mit der Wirklichkeit auch der Begriff der Wahrheit verknüpft ist: weil wir uns täuschen können, gibt es Wahrheit, nämlich als Unterschied zwischen wahr und falsch:
„Sätze, mit deren Äußerung wir beanspruchen festzustellen, was der Fall ist, können wir als Aussagen bezeichnen. Aussagen sind üblicherweise entweder wahr oder falsch (lassen wir die sinnlosen einmal beiseite).“ (Gabriel 2018, S.70)
Dieser inhaltliche Nexus zwischen Wirklichkeit und Wahrheit ist für Gabriels Argumentation enorm wichtig, denn nur so kann er die demagogische „Lüge vom postfaktischen Zeitalter“ zurückweisen. (Vgl. Gabriel 2018, S.231)

Also noch einmal: Es gibt die Welt nicht, aber es gibt ‚die‘ Wirklichkeit, und es gibt ‚die‘ Wahrheit?

Was die Wirklichkeit betrifft, schränkt Gabriel diese Behauptung wieder ein. Es gibt auch die Wirklichkeit nicht, sondern nur das Wirkliche, und zwar als Komplexität:
„An die Stelle der einen Welt oder der einen Wirklichkeit tritt eine Unendlichkeit von Sinnfeldern. Das Wirkliche gibt es nicht im Singular, vielmehr handelt es sich beim Wirklichen um eine irreduzible, niemals zu vereinfachende Komplexität.“ (Gabriel 2018, S.38)
Also gibt es ‚die‘ Wirklichkeit doch nicht. Und wie steht es mit ‚der‘ Wahrheit? – ‚Wahrheit‘ ist ein großes Wort und verleitet deshalb auch zu großartigen Formulierungen. So heißt es: „Was zählt ist nichts als die Wahrheit.“ (Gabriel 2018, S.15) Oder: „im Angesicht der Wahrheit über uns“ (Vgl. Gabriel 2018, S.18) Eine Kapitelüberschrift lautet: „Nichts als die Wahrheit“. (Vgl. Gabriel 2018, S.70ff.)

Im Gebrauch des Wortes ‚Wahrheit‘ sollte man etwas vorsichtiger sein. Sie hat weder ein „Angesicht“, denn die Wahrheit ist kein personales Gegenüber, noch wissen wir irgendetwas über uns, das im emphatischen Sinne ‚wahr‘ wäre!

Gabriel macht dann auch wieder einen Schritt zurück und begrenzt den Geltungsbereich auf simple Aussagenwahrheit und darauf, daß Aussagen „heute wahr und morgen falsch sein“ können: „Halten wir nur fest, dass Aussagewahrheit keine spektakuläre Angelegenheit ist.“ (Vgl. Gabriel 2018, S.72f.)

Aussagewahrheiten, die festhalten, was im Koordinatensystem von Raum und Zeit der Fall ist, sind, was die „Wahrheit über uns“ betrifft, belanglos. ‚Die‘ Wahrheit gibt es also ebenso wenig, wie es ‚die‘ Wirklichkeit gibt.

Wie steht es aber nun mit der Welt? Gibt es die Welt ebenso wenig wie die Wirklichkeit und die Wahrheit? – Hier muß man einen wichtigen Unterschied machen. Die Welt bildet ein unverzichtbares Korrelat des menschlichen Bewußtseins. Der Mensch ist das Lebewesen, das eine Welt hat, und unterscheidet sich deshalb vom Tier, das nur eine Umwelt hat. Es mag die eine Welt nicht geben. Da gehe ich mit Gabriel durchaus d’accord. Aber darum geht es bei dem Begriff der Welt gar nicht. Die Welt gehört zu den Phänomenen, von denen Hans Blumenberg sagt, daß man über sie nur in Metaphern reden kann. Die Welt ist wesentlich unbegrifflich.

Natürlich hat jeder Mensch als Individuum ein anderes „Weltbild“. Erstaunlicherweise leugnet Gabriel zwar, daß es die Welt gibt, aber er gesteht ein, daß es Weltbilder gibt: „Ein Weltbild ist eine Auffassung davon, wie alles, was es gibt, mit allem, was es gibt, zusammenhängt.“ (Gabriel 2018, S.283)

Also: Jeder Mensch hat aufgrund seiner Individualität ein anderes Weltbild; mit anderen Worten: er hat ein individuelles Mensch-Welt-Verhältnis. Um dieses Mensch-Welt-Verhältnis geht es in der Bildung. Wilhelm von Humboldt unterscheidet dabei zwischen zwei Formen von Welt: der Menschenwelt und der Nicht-Menschwelt, und meint damit das Verhältnis des Menschen zu seinesgleichen und zur nichtmenschlichen Natur. Mit Helmuth Plessner können wir zwischen einer Außenwelt und einer Innenwelt unterscheiden. Hier steht der Mensch als Subjekt auf der Grenze zwischen Innen und Außen, und in beide Richtungen eröffnen sich ihm Horizonte. Die Welt ist genau das: der Horizont des Menschen.

Es gibt sie also: die Welt, nämlich als Menschenwelt; und sie umfaßt „alle Gegenstände oder Tatsachen“, und zwar in ihrer unendlichen Perspektivenvielfalt. Was sollte sie sonst sein? Wäre die Welt nicht ein Ganzes aus Verweisungszusammenhängen, dann, aber nur dann gäbe es sie tatsächlich nicht. Deshalb ist sie auch nicht die Wirklichkeit; aber sie ist wirklich. Und sie ist auch nicht der Ort der Wahrheit. Denn die gibt es nur als Aussagenwahrheit.

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Dienstag, 2. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

An verschiedenen Stellen seines Buches nimmt Gabriel zur Aufgabe der Philosophie Stellung. Das hat etwas mit dem Sinn des Denkens zu tun, um den es in seinem Buch geht. Den Sinn des Denkens bestimmt Gabriel zweifach; als biologischen Sinn, wie „Sehen, Hören, Fühlen, Tasten oder Schmecken“, und als Orientierung gebendes Denken, also im Sinne eines geistigen Sinns:
„Gleichzeitig plädiere ich aber auch dafür, dem Denken einen neuen Sinn, eine Richtung zur Orientierung in unserer Zeit zu geben, da es – wie eh und je – von vielfältigen ideologischen Strömungen und zugehöriger Propaganda in Unruhe versetzt wird.“ (Gabriel 2018, S.18)
Gabriels Denkbegriff beinhaltet also eine Ethik, und dieselbe Ethik bestimmt auch seinen Philosophiebegriff:
„Eine wichtige Aufgabe des philosophischen Denkens besteht darin, uns mit der Wirklichkeit zu konfrontieren und die Scheinkonstruktionen zu entlarven, in denen wir uns einrichten, um unser Gewissen angesichts von Missständen zu beruhigen, die wir sehenden Auges nicht ertragen können. Das ist Teil der philosophischen Mission der Aufklärung, das heißt des ‚unvollendeten Projekts der Moderne‘, wie Jürgen Habermas (*1929) dies genannt hat.“ (Gabriel 2018, S.240)
Diese philosophische Aufgabenbestimmung entspricht Gabriels eigener Position als aufgeklärter Humanist. (Vgl. Gabriel, 2018, S.14f. und S.24) Auch sein spezieller philosophischer Standpunkt, der Neue Realismus, ist ethisch begründet:
„Der Neue Realismus, dessen theoretische Grundzüge in der mit diesem Buch abgeschlossenen Trilogie einer über die Universität hinausgehenden Öffentlichkeit vorgestellt wurden, ist mein Vorschlag zur Überwindung der fundamentalen Denkfehler, denen wir zu unserem gesellschaftlichen und menschlichen Schaden weiterhin verhaftet sind.“ (Gabriel 2018, S.15)
Immer wieder geht es also um Aufklärung und um Ideologiekritik. Aber das ist Gabriel zufolge nicht die einzige Aufgabe der Philosophie. Eine andere, mit der Ideologiekritik konkurrierende, wenn nicht sogar ihr widersprechende Aufgabe besteht im Nachdenken über das Nachdenken. (Vgl. Gabriel 2018, S.11f. und S.141) Dieses selbstbezogene Denken hat durchaus einen ideologiekritischen Impuls, denn es geht ja um das Dingfestmachen und Ausmerzen von Denkfehlern. Ein methodisches Instrument des Nachdenkens über das Nachdenken bildet deshalb die Sprachkritik. (Vgl. Gabriel 2018, S.63 und S.198ff.) Auf dieser Ebene der Sprachkritik ist das Nachdenken über das Nachdenken mit der Ideologiekritik kompatibel.

Schwieriger wird es aber, wenn Gabriel dieses Nachdenken über das Nachdenken mit dem „reinen Denken“ gleichsetzt (vgl. Gabriel 2018, S.308) und ausdrücklich festhält, daß nur Gedanken Gegenstand der Philosophie sein können, nicht aber „Nichtgedanken“ (vgl. Gabriel 2018, S.306). – Was genau sind Nichtgedanken? Im Glossar heißt es tautologisch: „Gegenstände, die selber keine Gedanken sind.“ (Gabriel 2018, S.358) An anderer Stelle verbindet Gabriel den Begriff des Nichtgedankens mit dem phänomenologischen Grundbegriff der Intentionalität: unsere Denkakte richten sich auf etwas, „ohne dass wir allein aus dem Erleben dieser Akte darauf schließen können, warum sie sich gerade auf dasjenige richten, womit sie sich beschäftigen“. (Vgl. Gabriel 2018, S.304)

Diese dem Denker bzw. Philosophen „partiell unbekannt(en)“ intentionalen Akte bezeichnet Gabriel als „Nichtgedanken“, also letztlich alles subjektive Erleben. Einfach gesprochen: Nichtgedanken sind Gefühle, und Gabriel zufolge sind Gefühle kein Gegenstand der Philosophie!

An dieser Aufgabenbestimmung wird aber jeder Anspruch auf Aufklärung und Ideologiekritik zunichte. Wenn es um „Denkfehler“ geht, kann es nicht nur um Logik gehen. Gabriel geht an dieser Stelle sogar noch weiter und behauptet, daß die „Philosophie die allgemeinste Art und Weise“ sei, „über unser Nachdenken nachzudenken“:
„Sie ist noch allgemeiner als die Mathematik, die eine Sprach- und Denkform bildet, die den Natur und Technowissenschaften als Grundlage dient.“ (Gabriel 2018, S.12)
Wenn die Philosophie also tatsächlich noch allgemeiner als Mathematik sein soll und eine Form des reinen Denkens bildet, die darin besteht, daß sich „der Denkakt als solcher erfasst“ (vgl. Gabriel 2018, S.308), dann kann sie nicht mehr ideologiekritisch sein. Denn wer sich mit Denkfehlern auseinandersetzen will, muß sich immer auch mit unserem dunklen, intransparenten Begehren auseinandersetzen. Es gibt kein menschliches Denken, das im mathematischen Sinne rein wäre. Und es gibt kein menschliches Denken ohne Intentionalität!

Übrigens: Mathematik mag eine Denkform sein, wie es im letzten Zitat heißt. Aber eine Sprachform ist sie nicht. Darauf werde ich in einem der folgenden Blogposts zurückkommen.

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Montag, 1. Juli 2019

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens, Berlin 2018

1. Humanismus
2. Aufgabe der Philosophie
3. Welt und Wahrheit
4. Sinnlichkeit, reines Denken und Nichtgedanken
5. Subjekt-Objekt-Spaltung
6. Linguistische Wende und Konstruktivismus
7. Bewußtsein
8. Die fehlende Entwicklungsebene

Markus Gabriels Buch „Der Sinn des Denkens“ (2018) bildet den dritten Band einer Trilogie. Die beiden vorangegangen Bände sind „Warum es die Welt nicht gibt“ (2013) und „Ich ist nicht Gehirn“ (2015). Gabriel zufolge sind die drei Bände weitgehend eigenständig, so daß die Kenntnis der jeweiligen anderen Bände nicht vorausgesetzt werden muß. (Vgl. Gabriel 2018, S.15) Allerdings kommt es aufgrund dieser Eigenständigkeit, so Gabriel, auch zu Wiederholungen, wodurch ich mich als Rezensent wiederum ermächtigt sehe, von diesen Wiederholungen auf die vorangegangenen Bände zurückschließen zu dürfen, ohne sie gelesen zu haben. Die Basis dieser Rezension bildet also ausschließlich der mir vorliegende dritte Band.

Gabriel hebt hervor, daß er sich um eine „allgemeinverständliche und zugängliche“ Ausdrucksweise bemüht hat (vgl. Gabriel 2018, S.11), und der Rezensent  kann bestätigen, daß ihm das überaus gelungen ist. Der Autor hat weitgehend auf philosophischen Fachjargon verzichtet, so daß auch der Laie in der Lage ist, sich eine eigene Meinung über die Thesen des Autors zu bilden und dessen Argumente zu prüfen. Dabei ist ihm, dem Laien, ein umfassendes Glossar am Ende des Buches behilflich. (Vgl. Gabriel 2018, S.350-363) Fettgedruckte Wörter im Verlauf des Haupttextes weisen auf die entsprechenden Definitionen im Glossar hin, so daß man als Leser dort niemals erfolglos nachschlägt. Der Autor unterstützt so das eigenständige Denken seiner Leserinnen und Leser, was auch der erklärte Zweck seines Buchprojekts ist.

Es lohnt sich also in jedem Fall, sich mit Gabriels Thesen auseinanderzusetzen, auch wenn man, wie der Rezensent, zwar mit einigen seiner Thesen, leider aber überhaupt nicht mit seinen Argumenten einverstanden ist. Wie groß aber der Widerspruch im Einzelfall ausfallen mag: am Ende der Lektüre ist man schlauer als vorher, was man nicht von vielen Büchern sagen kann.

Beginnen wir mit dem – aus Sicht des Rezensenten – Erfreulichen. Markus Gabriel bezeichnet sich als aufgeklärten Humanisten und wendet sich entschieden gegen den Antihumanismus der Post- und Transhumanisten. (Vgl. Gabriel 2018, S.14f.) ‚Aufgeklärt‘ ist Gabriels Humanismus, weil er durchaus um die oft hohlen Phrasen vieler klassischer Humanisten weiß, die nur weiße, wohlhabende Männer als Menschen akzeptierten und „Ausländer, Inländer, Freunde, Nachbarn, Frauen, Kinder, Männer, Komatöse oder Transsexuelle“ aus der Menschheit ausschlossen. (Vgl. Gabriel 2018, S.24) Das ist aber für Gabriel kein Grund, die humanen Ansprüche des Humanismusses über Bord zu werfen und das Ende der Menschheit zu prophezeihen, das im übrigen schneller kommen kann, als es die Post- und Transhumanisten eingestehen wollen, nämlich im ökologischen Sinne, weil dieser Planet an seine Grenzen gekommen ist.

Die Ausplünderung und Vergiftung der Erde ist den Post- und Transhumanisten herzlich egal, wenn sie von einem Ende des Menschen träumen: sie wollen den Menschen vielmehr durch eine künstliche Superintelligenz ersetzen, die dann auch schon Mittel und Wege finden wird, mit den ökologischen Problemen fertigzuwerden, sei es auch durch das letzte Mittel einer Auswanderung in den Weltraum, wobei es auch hier nicht mehr auf den Menschen ankommt; denn auswandern werden nicht wir, sondern unsere Nachkommen, die Maschinen.

Gabriel läßt keinen Zweifel daran, daß er sich mit seinem aufgeklärten Humanismus gegen diese Form der Menschenverachtung wendet:
„Das sich heute abzeichnende transhumanistische Menschenbild, das auf der Vorstellung aufbaut, dass unser gesamtes Leben und unsere Gesellschaft möglicherweise eine Art von Simulation ist, die wir nur überwinden können, indem wir unser Menschsein ganz am Modell des technologischen Fortschritts ausrichten, ist eine gefährliche Illusion. Diese Illusion müssen wir durchschauen, da wir ansonsten immer tiefer in die Zerstörung der Lebensbedingungen des Menschen verstrickt werden, die sich nicht zuletzt auf längst alarmierende Weise in Form der ökologischen Krise manifestiert.“ (Gabriel 2018, S.239)
Gabriel wirft den Post- und Transhumanisten einen Konstruktivismus vor, aufgrund dessen sie glauben, den Menschen als künstliche Intelligenz nachbauen zu können. Basis dieses Konstruktivismusses ist die These, daß die Intelligenz substratunabhängig sei, also Intelligenz nicht auf Fleisch und Blut angewiesen ist, sondern „im Wesentlichen“ auch aus „Silizium oder irgendeinem anderen nicht lebendigen Material“ bestehen könne. (Vgl. Gabriel 2018, S.19) Gabriel hält diesen Konstruktivismus für falsch. (Gabriel 2018, S.64) Nur lebendige Organismen können Intelligenz hervorbringen, unter anderem deswegen, weil Intelligenz im wesentlichen eine Frage des Überlebens ist:
„Für Computerprogramme gibt es keine Fragen des Überlebens, weil sie nicht lebendig sind. ... eines ist sicher: Kein heute existierendes artifizielles System, das aus nicht lebendiger Materie gebaut wurde, hat Überlebensinteressen, weil keines dieser Systeme lebendig ist.“ (Gabriel 2018, S.193)
Der Rezensent ist dem Autor überaus dankbar für diese Stellungnahme, denn der überall grassierende, mal latente, mal explizite Antihumanismus ist zu einem Mainstream in der Wissenschaft geworden, die mit ihrem Naturalismus – wie Friedrich Kittler es einmal mit entwaffnender Offenheit ausdrückte – eifrig dabei ist, den (menschlichen) Geist aus den Wissenschaften auszutreiben. Gabriel bezeichnet diesen Naturalismus als „Pseudowissenschaft“, weil es keine vernünftigen, also rationalen Argumente für dessen materialistisches Weltbild gibt. (Vgl. Gabriel 2018, S.286) Tatsächlich, so Gabriel, hat der Naturalismus zu einem „Verfall der öffentlichen philosophischen Debattenkultur“ geführt, weil er „alles echte Wissen und alle(n) Fortschritt auf eine Kombination aus Naturwissenschaft und technologischer Beherrschung der Überlebensbedingungen des Menschen reduziert“ hat. (Vgl. Gabriel 2018, S.14)

Dennoch ist Gabriels eigene Argumentation insgesamt problematisch. Sie beruht insgesamt auf genau dem Informationsverarbeitungsmodell, das er den K.I.-Forschern vorwirft. Zwar lautet die erste Hauptthese seines Buches, „dass unser menschliches Denken ein Sinn ist, so wie unser Hören, Fühlen Schmecken, unser Gleichgewichtssinn und vieles mehr, was heute zum sensorischen System des Menschen zählt“. (Vgl. Gabriel 2018, S.19) – Deshalb, so Gabriel, könne „unser Denken“ kein „Vorgang der Informationsverarbeitung“ sein. (Vgl. ebenda)

Die überaus erfreuliche, gegen die angebliche Substratunabhängigkeit der Intelligenz gerichtete These, daß die menschliche Intelligenz kein Vorgang der Informationsverarbeitung sein könne, wird aber gleich wieder eingeschränkt: sie kann kein Vorgang der Informationsverarbeitung sein, insofern dieser sich als Teil einer K.I. „im Wesentlichen in Silizium oder irgendeiner anderen nicht lebendigen Materie nachbauen lässt“. (Vgl. Gabriel 2018, S.19)

Auch an anderen Stellen schränkt Gabriel seine Distanzierung gegenüber dem Intelligenzbegriff der K.I.-Forscher ein. So heißt es z.B., daß Gedanken keine „Form der Informationsverarbeitung“ seien, „die man physikalisch messen könnte“. (Vgl. Gabriel 2018, S.31) Gemeint ist hier keineswegs, daß die Informationsverarbeitung prinzipiell ein meßbarer Prozeß sei und deshalb niemals mit Gedanken gleichgesetzt werden könne, sondern daß sie nur insofern nicht mit Gedanken gleichgesetzt werden könne, als sie im Sinne einer K.I. meßbar sei, Gedanken als Teil einer menschlichen Intelligenz hingegen nicht.

Gedanken bilden eine nicht meßbare Form der Informationsverarbeitung, zu der Gabriel zufolge auch alle biologischen Prozesse unterhalb der Bewußtseinsschwelle zählen, wie eben Hören, Fühlen, Schmecken und unser Gleichgewichtssinn. Wir „empfangen“, so Gabriel, mittels unserer biologischen Sensoren bzw. ‚Sonden‘ „Daten“, ohne daß wir „diesen Vorgang“ „steuern“ bzw. die Daten bewußt „bearbeiten“. (Vgl. Gabriel 2018, S.39f.) Die menschliche Wahrnehmung ist also insgesamt ein Vorgang der Informationsverarbeitung, nur eben unterhalb der Bewußtseins- bzw. Intelligenzschwelle und zudem außerhalb jeglicher physikalischen Meßbarkeit. Das intuitive Moment des menschlichen Denkens, daß wir Gedanken nicht „produzieren“, sondern daß sie uns einfallen (vgl. Gabriel 2018, S.301), uns demnach unser eigenes Denken – anders als die Algorithmen einer K.I. – nicht vollkommen transparent ist (vgl. Gabriel 2018, S.305), basiert auf einer intransparenten Form der Informationsverarbeitung.

So kann es dann auch nicht mehr verwundern, wenn Gabriel die menschliche Intelligenz selbst als echte künstliche Intelligenz bezeichnet und sie von der künstlichen künstlichen Intelligenz, der K.K.I., unterscheidet. (Vgl. Gabriel, S.19f. und S.312) Die menschliche Intelligenz ist selber nur ein „Artefakt“, obwohl sie auf ihre biologische Basis angewiesen ist, also nicht substratunabhängig ist, denn letztlich ist sie ein Effekt der kulturellen Entwicklung und im besonderen von „Erziehung und Unterricht“. (Vgl. Gabriel 2018, S.311f.)

Damit zeigt sich zweierlei: Gabriels Anthropologie ist eine unreflektierte Abwehrreaktion auf den Post- und Transhumanismus, und er hat keinen Bildungsbegriff. Was seine Anthropologie betrifft, beruht sie auf der unverdrossenen Wiederholung der simplen Feststellung, daß der Mensch kein Tier ist und kein Tier sein will. (Vgl. Gabriel 2018: S.17, 23, 311, 318f.) Wer sich aber nur ein wenig mit der menschlichen Kulturgeschichte auskennt und sich mit Anthropologie und Ethnologie beschäftigt hat, weiß, daß die Menschen nie ein Problem damit gehabt haben, Tiere zu sein. Erst der platonische Idealismus und der zeitgenössische Antihumanismus verleugnet bzw. verachtet die animalische Herkunft des Menschen.

In seiner Auseinandersetzung mit dem Post- und Transhumanismus wird deutlich, daß Gabriels anthropologische These zum „universalen Kern des Menschseins“ (Gabriel 2018, S.318) der Geringschätzung der Antihumanisten gegenüber der ‚animalischen‘, also biologischen Herkunft des Menschen entspricht, die im Falle des Cyborgs nur noch ein verbesserungsbedürftiges Moment neben dem technischen bildet:
„Beide Bewegungen (Post- und Transhumanisten – DZ) bauen auf der Verabschiedung des Menschen und der Begrüßung des Cyborg auf, der aus animalisch-menschlichen und technischen Anteilen besteht.“ (Gabriel 2018, S.23)
Gabriels anthropologische These beruht also vor allem auf der großen Nähe seines eigenen Ansatzes zur Körperfeindlichkeit des Post- und Transhumanisten auf der Basis eines gemeinsamen Informationsverarbeitungsmodells, das Gedanken insgesamt mit Informationen gleichsetzt. (Vgl. Gabriel 2018, S.84f. und S.133)

Was nun Gabriels Thesen zu „Erziehung und Unterricht“ betrifft, so fällt hier vor allem das völlige Fehlen jedes Bildungsbegriffs auf. Die ‚Intelligenz‘ des Menschen ist eben deshalb kein Artefakt, weil Erziehung und Unterricht, anders als Gabriel meint, eben nicht aus der Programmierung mit Algorithmen und der Optimierung von Mustererkennung bestehen:
„Durch Erziehung und Unterricht programmieren wir unsere Nachfahren und übermitteln ihnen diejenigen Algorithmen, die wir erfunden haben, um unsere Mustererkennung zu optimieren.“ (Gabriel 2018, S.311)
Erziehung und Unterricht ermöglichen einen Bildungsprozeß, also einen Prozeß der Bildung eines individuellen Mensch-Welt-Verhältnisses. Aber die Welt gibt es ja nicht, wie Gabriel meint. (Vgl. Gabriel 2018, S.12, 64, 222) Aber die Wahrheit, die gibt es seltsamerweise schon. (Vgl. Gabriel 2018, S.15, 28, 70ff.) Also: die Welt gibt es nicht, aber die Wahrheit, die gibt es.

Es gibt Aussagen, an deren Schwachsinnigkeit sich auch dann nichts ändert, wenn sie auf intelligente Weise begründet werden. Ich werde darauf in einem der folgenden Blogposts noch zurückkommen. Jedenfalls bleibt festzuhalten, daß es, wo es keine Welt gibt, auch kein individuelles Mensch-Welt-Verhältnis geben kann und deshalb auch keine Bildung.

Das Individuum kommt in Gabriels anthropologischem Modell nicht vor, das nur zwei Entwicklungsebenen kennt: die Biologie und die Kultur. Da sich Gabriel wie seine Gegner durchgehend des Informationsverarbeitungsmodells bedient und sich nur hinsichtlich der Problematik der Substratunabhängigkeit von ihnen unterscheidet, steht der Intelligenzbegriff im Zentrum seines „Nachdenken(s) über das Nachdenken“ und mit dem Intelligenzbegriff die formale Logik. (Vgl. Gabriel 2018, S.11f.) Nur gelegentlich kommt Gabriel auch auf das „phänomenale Bewusstsein“ zu sprechen, in dem es um das „subjektive Erleben“ geht und damit um jene „Nichtgedanken“, von denen Gabriel meint, daß sich die Philosophie mit ihnen nicht beschäftigen sollte. (Vgl. Gabriel, S.218 und S.306)

An den Begriff der künstlichen Intelligenz hat man sich inzwischen gewöhnt. Hätte Gabriel sich in seinem Buch über den Sinn des Denkens weniger mit der menschlichen ‚Intelligenz‘ befaßt und stattdessen mehr mit dem menschlichen ‚Bewußtsein‘, hätte er sich wohl kaum zu der im Vergleich zur im derzeitigen Sprachgebrauch geläufigeren These einer künstlichen Intelligenz immer noch seltsam anmutenden These eines künstlichen Bewußtseins verstiegen.

PS (19.11.2020): Erst jetzt wird mir klar, daß Gabriel mit seiner Feststellung, daß es die Welt nicht gibt, an Wittgensteins „Tractatus“ anschließt. Wittgensteins Satz, daß die Welt alles das ist, was der Fall ist, bedeutet in der Logik der Mengenlehre, daß die Welt selbst kein ‚Fall‘ ist, denn sie kann nicht selbst Teil der Menge sein, die sie enthält. Wenn aber die Welt selbst nicht der Fall ist, bedeutet das, daß es sie nicht gibt.
Allerdings gibt es ein bildungsphilosophisches Verständnis von ‚Welt‘, das eine andere Logik beinhaltet als die Mengenlehre. Gemäß diesem bildungsphilosophischen Verständnis hat der Mensch eine Welt. Ein weltloses menschliches Subjekt ist schlicht nicht vorstellbar. Wer also gehaltvolle Aussagen über den Menschen machen will, muß Aussagen über sein Weltverhältnis machen.
In diesem Sinne ‚gibt‘ es also eine Welt, so wie es den Menschen gibt. Das ist logisch; nämlich anthropo-logisch.

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